Die schlaflose Nacht

Uwe Morawe
04. Juni 201415:03
Franz Beckenbauer und Helmut Schön nach dem WM-Finale 1974getty
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Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 10, die WM 1974 in der BR Deutschland: Nach der peinlichen Niederlage gegen die DDR schlief im DFB-Lager keiner. Die einen gaben sich mit Bier und Whiskey die Kante - ein anderer schmiedete den Plan zum Titelgewinn.

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Drei Uhr morgens in Malente. Helmut Schön hatte kein Auge zugemacht. Das knarzende Bett 80 Zentimeter schmal, das Zimmer mit acht Quadratmetern bescheiden bemessen. Stickige Luft, die Magenschmerzen und Jürgen Sparwasser.

Helmut Schön war der einzige in der Sportschule Malente, der zumindest im Bett lag. Alle anderen saßen noch in der Küche und gaben sich bei Bier, Whisky und Zigaretten die Kante. Schön hörte durch die dünnen Wänden das Stimmengewirr. Immerhin redeten sie. Besser, als wären sie zum Saufen auf die Zimmer gegangen.

Welch eine Blamage. Gestern abend hatte der Topfavorit Bundesrepublik Deutschland gegen die DDR mit 0:1 verloren. Pomadig, überheblich, wie ein arroganter Wessi, der den armen Leuten in der Ostzone zeigt, was Bohnenkaffee und Bananen doch für Errungenschaften sind. So waren sie aufgetreten. In einem Spiel, von dem jeder wusste, wie wichtig es für Schön als gebürtigen Dresdener gewesen war. Der absolute Tiefpunkt. Das Ende einer Entwicklung, die sich seit Beginn des Trainingslagers vor vier Wochen abzeichnete.

Helmut Schön hatte die Einöde von Malente unterschätzt. Abgeschiedenheit, Ruhe, konzentriertes Arbeiten, einen Mannschaftsgeist formen. Das war sein Ziel gewesen. Doch den Millionären in Stollenschuhen war ihr neuerlicher gesellschaftlicher Status zu Kopf gestiegen. Geschlossenheit existierte bisher nur im unwürdigen Geschacher um die Siegprämie im Fall des WM-Triumphs.

Des schnöden Mammons willen

Sein Kapitän Franz Beckenbauer hatte sich zum Wortführer der jungen gewinnorientierten Generation um Breitner und Hoeneß gemacht. Schon da wurde die Nacht durch diskutiert, nur ohne Bier und Zigarette. Ob 30 000 oder 70 000 oder 100 000 DM. Helmut Schön konnte nicht begreifen, dass so etwas seinen Spielern wichtig war, wenn man die Möglichkeit hatte, Weltmeister zu werden. Schön war dermaßen angewidert, dass er seine Koffer schon gepackt hatte. Seinen Rücktritt unmittelbar vor Turnierbeginn hatte nur ein Kompromiss von DFB-Präsident Hermann Neuberger mit Beckenbauer verhindert.

Dazu diese Undiszipliniertheiten. Nächtlicher Ausflug von einigen Spielern auf die 80 Kilometer entfernte Reeperbahn. Ausnahmsweise ohne Beckenbauer. Da Schön laute Worte hasste und auf Selbstreinigungskräfte vertraute, hatte er die Standpauke dem Franz überlassen. Doch Beckenbauer kritisierte nicht den Bordellbesuch an sich, sondern nur die Tatsache, dass die ausgebüchsten Spieler doch tatsächlich in ihren DFB-Trainingsjacken in den Puff gestürmt waren. Amateure! Wie man es stilvoll macht, zeigte Beckenbauer kurz darauf, als er sich selbst absetzte und eine Nacht mit Schauspielerin Heidi Brühl verbrachte. War aber auch rausgekommen. Genauso wie die Spritztour von Sepp Maier und Uli Hoeneß zu ihren Frauen in ein Hamburger Hotel. SPOX

War das noch seine Mannschaft? Sie hatten ihn offensichtlich nicht verstanden. Helmut Schön hatte ganz bewusst einen anderen Weg eingeschlagen als sein Vorgänger Sepp Herberger. Der hatte ihn einst mit den folgenden Worten aus der Nationalmannschaft verbannt: "Die Stürmer sind zu weich! Keine Kämpfer! Man gewinnt nur durch Kraft und Kampf, durch Schnelligkeit und Härte. Schön ist hinfort nicht mehr tragbar!"

Seinen Platz in der Nationalmannschaft hatte damals der robuste Ernst Willimowski eingenommen. Schön hatte sich geschworen, unter dem Fußballexperten Herberger zu lernen, aber im zwischenmenschlichen Bereich alles anders zu machen. Schön war als Sohn eines Kunsthändlers schon immer etwas feinnerviger gewesen als die anderen. Nicht vorgeben, sondern überzeugen. Nicht jemanden verantwortlich machen, sondern in die Verantwortung nehmen.

Der Willy Brandt des Sports

Das hatte bis zu dieser WM auch hervorragend funktioniert. Was Willy Brandt in der Politik, das war Helmut Schön im Sport. Repräsentant eines sich verändernden, weltoffeneren Deutschlands. Verschwunden war das Soldatische. Die Spieler standen bei der Hymne nicht mehr mit der Hand an der Hosennaht stramm. Sie zeigten Größe in der Niederlage wie beim verlorenen Finale von Wembley 1966, sie zeigten Spielfreude wie bei der WM 1970 und sie demonstrierten unerreichte Klasse wie beim EM-Sieg 1972.

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Doch jetzt bei der WM im eigenen Land benahmen sich seine Spieler wie verzogene Bengel aus verwöhntem Haus. Auf der Busfahrt nach dem 0:1 gegen die DDR hatte Helmut Schön begriffen, dass nicht nur der Erfolg im Turnier, sondern seine gesamte Arbeit der letzten Jahre auf der Kippe stand. Eine Standpauke halten, die Versager niedermachen - das konnte er vom Naturell her nicht, das nahm ihm keiner ab. Er hatte nur noch eine Möglichkeit. Wenn sie sich wie Kinder aufführen, muss man sie auch wie Kinder erziehen. Eine der letzten Prozesse der Kindheit ist das Eingestehenkönnen von Schuld, das aufrichtige Sichentschuldigen.

Als der gelbe Mannschaftsbus um Mitternacht am Eingang von Malente hielt, gab Schön das Zeichen: Vollversammlung im kantinenartigen Speisesaal. Helmut Schön sprach nur kurz, dafür jedoch mit entwaffnender Offenheit: "Ist es das, was ihr als fußballbegeisterte Jungs von zehn, zwölf Jahren wolltet? Ist es das? Ich bin von Euch maßlos enttäuscht."

Das Skandal-Bankett

Und zog sich mit Magenschmerzen zurück. Mal sehen, ob sie erwachsen werden. Udo Lattek, sein ehemaliger Assistent, hatte ihm erzählt, dass er als Trainer von Bayern München vor wichtigen Spielen immer bis zwei Uhr morgens auf einem Stuhl vor dem Zimmer von Franz Beckenbauer Posten bezog. So etwas hatte Helmut Schön nie gewollt. Sein Ziel war es, dass der Franz dem Lattek um elf Uhr abends sagt: Trainer, ist nicht nötig, ich hab´s begriffen.

Helmut Schön drehte sich im Bett, was in den Kojen von Malente gar nicht so einfach war. Viertel nach Vier. Er hörte sie immer noch unten in der Küche. Wirklich kein so schlechtes Zeichen. Morgen würde er kein Wort mit der Mannschaft reden. Nicht eins, das hatte er sich vorgenommen. Bis auch der Letzte begriffen hatte...

Nachtrag

Das historische 0:1 gegen die DDR erwies sich für die Bundesrepublik als reinigendes Gewitter. Beckenbauer ging als Kapitän vorweg und es entwickelte sich mit vier Wochen Verspätung ein funktionierender Mannschaftsgeist. Das Team spielte keinen strahlend schönen Fußball wie noch 1970 und 1972, stand aber als kompakter Block. Die Mär, dass ab der Zechnacht von Malente Franz Beckenbauer die Aufstellung machte, ist nicht haltbar. Schön und Beckenbauer stimmten sich zwar enger ab als zuvor, das letzte Wort behielt sich aber der Bundestrainer vor. So plädierte Beckenbauer vor dem Endspiel für den wiedergenesenen Jupp Heynckes als Linksaußen, Schön vertraute jedoch weiterhin Bernd Hölzenbein.

Was sonst noch wichtig war

  • Die Sportschule Malente wurde während des Aufenthalts der Nationalmannschaft aus Angst vor terroristischen Anschlägen der RAF durch GSG9-Beamte gesichert. Umso verwunderlicher, dass die Spieler immer wieder einen Weg fanden, nach Hamburg auszurücken. Der einzige gemeinsame Ausflug der Mannschaft während der dreiwöchigen kasernenhaften Vorbereitung war eine Fahrt ins nahe gelegene Legoland. Da staunten Breitner, Hoeneß und Co. Bauklötze... SPOX
  • Den DDR-Spielern war vor der Partie gegen die BRD der Trikottausch untersagt worden, weil die Funktionäre von einer klaren Niederlage ausgegangen waren und die Delegation nicht wie Souvenirjäger dastehen sollte. Die Spieler setzen sich über die Vorgabe hinweg und tauschten die Jerseys nach Abpfiff in den Katakomben. Zum Spiel in Hamburg waren 1800 parteigetreue Genossen als Fans ausgewählt worden. Die erhielten im Vorfeld sogar eine Schulung in einem extra kreierten Fangesang: "acht, neun, zehn...Klasse!" Wo hier der Sinn lag, wusste wohl nicht mal Erich Honecker.
  • Die Holländer spielten als erste Nation der WM-Geschichte mit alphabetisch geordneten Nummern. So turnte Torhüter Jan Jongbloed mit der Nummer 8 auf dem Rücken durchs Turnier. Dazu auch noch nach alter Sitte mit bloßen Händen! Erst vier Jahre später in Argentinien zog sich auch Jongbloed Handschuhe über. Die einzige Ausnahme der alphabetischen Reihung war Superstar Johan Cruyff. Der beharrte auf seiner 14 und lief als einziger Niederländer mit zwei Streifen an Ärmel und Hose auf. Die Niederländer hatten als Ausrüster adidas, Cruyff einen Exklusivvertrag mit Puma. Die zwei Streifen waren der Kompromiss.
  • Die Schlussfeier vor dem Finale war die wohl langweiligste aller Zeiten. Zu den Klängen der Bundeswehr Big Band unter Leitung von Günter Noris gab es eine Busparade. Jawoll, Busparade! Alle gesponserten 16 Mannschaftsbusse fuhren 20 Minuten lang im Kreis über die Tartanbahn des Münchener Olympiastadions. Ein Hoch auf die deutsche Ingenieurskunst!
  • Wahrscheinlich war der Zeugwart ob dieser eintönigen Vorführung dermaßen weggenickt, dass das Finale mit vier Minuten Verspätung angepfiffen werden musste. Schiedsrichter Taylor hatte im letzten Moment bemerkt, dass die Eckfahnen vergessen worden waren. Ein Hoch auf die perfekte deutsche Organisation!
  • Beim Schlussbankett hatten die Funktionäre des DFB an alles gedacht. Außer den Spielerfrauen eine Eintrittskarte und einen Platz zu besorgen. Da saßen die Sponsoren und DFB-Oberen nebst Gattinnen drinnen und wunderten sich, dass sich immer mehr Spieler in den Außenbereich verabschiedeten, wo die Frauen und Freundinnen warteten. Jürgen Grabowski, Paul Breitner und Gerd Müller erklärten noch am Abend ihren Rücktritt. Müller hatte diese Entscheidung jedoch bereits vor dem Finale und dem skandalösen Bankett für sich gefällt.
  • So blieb Müllers wichtigstes Tor auch sein letztes für die Nationalmannschaft. Seine Länderspielkarriere hatte nur etwas länger als sieben Jahre gedauert. 68 Tore in 62 Spielen. Der Gerd war der Größte!
  • Beim Ausscheiden der Brasilianer gegen die Niederlande sah man das stilvollste Frustfoul der WM-Geschichte. Als kleiner Junge vor dem Fernseher hatte ich Angst vor Luis Pereira. Die selbe Frisur und Statur wie Boxchampion George Foreman. Sein bewusster Tritt mit Schmackes gegen Neeskens - so verabschiedet man sich von der großen Bühne. Und nicht so mädchenhaft wie 32 Jahre später Zinedine Zidane.

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