Mit Stilmitteln aus einer anderen Zeit des Fußballs hat es Argentinien ins Finale geschafft. Alejandro Sabellas Mannschaft funktioniert auf ihre ganz spezielle Art und Weise, was nicht nur an der Sonderrolle von Lionel Messi liegt. Es bleiben einige Schwächen - aber auch ein Ansporn, der größer nicht sein könnte.
Spielweise und Personal:
Argentiniens Fußball kommt in seiner grundsätzlichen Ausrichtung und auf Grund einzelner individual- und gruppentaktischer Überlegungen teilweise wie aus einer längst überholten Zeit daher. Die Albiceleste verteidigt in einem 4-4-2 und formiert sich bei eigenem Ballbesitz fast immer in einem 4-4-1-1.
Argentinien pflegt einen sehr europäischen Stil, aus einer dichten Defensivformation heraus laufen die eigenen Angriffe über Leo Messi bis zum Torabschluss. Der Kapitän ist die zentrale Figur des Offensivspiels und sollte Angel Di Maria auch im Finale passen müssen, nahezu die einzige Option im Abschlussbereich.
Eine vehemente Körperlichkeit und Disziplin im Spiel gegen den Ball haben erst drei Gegentore zugelassen, im Angriff stehen dagegen allerdings auch erst acht erzielte Tore - Deutschland steht bei vier Gegentoren, aber eben auch schon 17 erzielten Treffern.
Argentinien spielt unterkühlt, unspektakulär, aber eben auch effizient. Die Mannschaft versteht es, einen Gegner regelrecht verhungern zu lassen. Und was sie besonders gefährlich macht: Sie hat sich im Verlauf des Turniers perfekt eingespielt und nach und nach gesteigert.
Im Tor steht mit Sergio Romero der Ersatzkeeper vom AS Monaco, der nun wieder zu Sampdoria zurückkehren wird. Im Halbfinale wurde der 27-Jährige im Elfmeterschießen zum Helden. Seine wahre Leistungsfähigkeit ist aber auch nach sechs Turnierspielen schwer einzuschätzen. Argentinien durchlief zwar die komplette K.o.-Runde ohne Gegentor, Romero war dank der hervorragenden Arbeit seiner Vorderleute aber auch nur selten wirklich gefordert.
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Die Innenverteidigung bilden Martin Demichelis und Ezequiel Garay. Demichelis hat sich erst in den letzten Partien in die Startelf gespielt, Garay hat alle sechs Spiele von der ersten bis zur letzten Minute bestritten. Beides zwei robuste Spieler, Garay ist auch bei eigenen Standards in der Offensive gefährlich.
Rechts in der Viererkette verrichtet Pablo Zabaleta seinen Dienst: Bissig im Zweikampf, mit ordentlich Offensivdrang, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Marcos Rojo ist seinem ersten großen Turnier und mit vergleichsweise jungen 24 Jahren der unerfahrenste Spieler der Abwehrformation. Manchmal etwas übermütig in seinen Aktionen, aber trotz seiner hochgewachsenen Statur stark am Ball und mit einer flinken Übersetzung im Antritt.
Das defensive Mittelfeld mit Javier Mascherano und Lucas Biglia ist das Herzstück des argentinischen Spiels. Biglia hat sich ähnlich wie Demichelis erst in der K.o.-Phase festgespielt und spielt auf der linken Position eine Spur offensiver und risikoreicher als Mascherano. Der 30-Jährige war wie Messi und Maxi Rodriguez schon bei den Niederlagen 2006 und 2010 gegen die deutsche Mannschaft dabei und spielt in Brasilien bisher ein hervorragendes Turnier.
Mascherano ist so etwas wie der heimliche Star, er dirigiert die Defensivbewegung, gibt die Kommandos. Wie eine Wand unterbricht er gegnerische Angriffswellen, als hätte er drei oder vier Beine und einen untrüglichen Instinkt dafür, wo der Ball in fünf Sekunden landen wird.
Sollte Di Maria ausfallen, wird ihn wohl wieder Enzo Perez auf der Halbposition ersetzen. Auf der anderen Seite hat Ezequiel Lavezzi durch seine große Laufbereitschaft und seine Dribblings in der Offensive auf sich aufmerksam gemacht - auch wenn Lavezzi eine Linie weiter vorne sein eigentliches Betätigungsfeld hat.
In der Zentrale hat Messi alle Freiheiten in der Offensive und nahezu keine Pflichten in der Defensive. Einer der letzten Sonderfälle im modernen Fußball, aber Messi darf ähnlich wie bei Barca auch in der Albiceleste Messi sein.
Gonzalo Higuain ist trotz seines Tores gegen Belgien bisher unter seinen Möglichkeiten geblieben. Eigentlich bringt er als (alleiniger) Angreifer alles mit, wurde bisher von den Kollegen aber zu selten entsprechend eingesetzt.
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Die Stärken:
Argentinien setzt in erster Linie auf eine geordnete Defensive und hat dabei bisher überzeugt. Der Pragmatismus der Südamerikaner verblüfft nur auf den ersten Blick - nach dem Desaster vor vier Jahren in Südafrika mit Diego Maradona hat sich der Verband auf diese neue Linie mit Alejandro Sabella eingelassen und darf sich nun bestätigt fühlen.
Sabella wurde von den Fans kritisch gesehen, der Trainer ist kein Strahlemann, eher introvertiert. Ein Schattenmann, dessen große Leistung darin besteht, seinen Superstar bei Laune zu halten. Die Hierarchie der Argentinier ist atypisch: Ohne Messis Zustimmung geht nichts. Dass der Kapitän selbst die Aufstellung mitbestimmt, ist mehr als ein Gerücht. "Ich diskutiere immer gerne mit meinen Spielern über Fußball", sagt Sabella. "Dabei kann ich auch noch etwas lernen."
Was in anderen Mannschaften zu einem heillosen Chaos führen würde, funktioniert bei den Argentiniern und ist sogar eine Stärke. Die Zuständigkeiten sind klar verteilt: Messi steht über allem, Mascherano führt das Team und die Truppe folgt ihm. Und Sabella überwacht und schreitet notfalls ein. Aber im Prinzip lässt der Trainer sein Team gewähren.
Das hat bei Messi immerhin schon zu vier Turniertoren geführt. Und wenn der Star gut drauf ist, ist die Mannschaft gut drauf. "Ich will ein Team, das Messi unterstützt, das ihm den Rücken stärkt, das ihm hilft, sich wohl zu fühlen. Dass er weiter das zeigen kann, was ihn auszeichnet", sagt Sabella.
Er verantwortet immerhin das Defensivkonzept, in dem Mascherano und dahinter Garay die zentralen Figuren sind. Argentinien versteht es perfekt, das Tempo einer Partie zu variieren. Die Mannschaft hat ein feinfühliges Gespür dafür, wann Kontrolle und wann Dynamik angebracht sind. Das Zentrum gibt die Alibceleste nicht preis - auch wenn über die Flügel auf hoher Position im Feld dann die eine oder andere Lücke klafft.
Erst je näher der Gegner dem eigenen Tor kommt, wird auch konsequent auf die Seiten verschoben. Die Reihen in der Mitte bleiben dabei aber stets durch die beiden Sechser geschlossen, was es den Gegner bisher bis auf wenige Ausnahmen so schwer gemacht hat, sich bis zum Tor durchzukombinieren.
Mascherano ist mittlerweile der Spieler mit den meisten geglückten Zuspielen des Turniers. 478 Pässe hat Mascherano an den Mitspieler gebracht, 20 mehr als Philipp Lahm, der in dieser Statistik auf Rang zwei liegt.
Im Offensivspiel stechen zwei Sonderheiten heraus: Argentinien ist aus der Tiefe die gefährlichste Mannschaft des Turniers. Nach teilweise langen Sprints oder Dribblings schlossen Di Maria (16 Mal) und Messi (13 Mal) schon von außerhalb des Sechzehners ab. Das Angriffsspiel ist bestimmt vom hohen Tempo in der Umschaltbewegung, verantwortlich sind hierfür die raumgreifenden Dribblings von Di Maria, Lavezzi und natürlich Messi.
Auch die Anzahl an Flanken ist erstaunlich hoch. Im Achtelfinale gegen die Schweiz versuchte es die Mannschaft in 120 Minuten mit unglaublichen 57 Flanken in den Strafraum. Das Spiel über die Flügel wird stark akzentuiert. Obwohl mit Higuain nur ein Abnehmer in der Mitte positioniert war. Di Maria, Lavezzi oder Messi rücken kaum mit nach.
Messi ist wie nicht anders erwartet derjenige für die speziellen Momente. Ob mit seinen Standards oder aus dem Spiel heraus bleibt der Kapitän eine Waffe, besonders wenn ihm der Gegner auch nur wenige Meter Platz gewährt, um Tempo aufzunehmen. Jeder Verteidiger der Welt kennt seine Bewegungen, weiß wie er den Ball führt, dass er am Ende mit dem linken Fuß abschließen wird - und trotzdem ist er von einem Einzelnen nicht zu verteidigen.
Argentinien schafft es auch wegen ihm und der Dribblingstärke Di Marias oder Lavezzis, sich unter großem Druck aus engsten Situationen zu befreien. Das ist eine echte Gefahr für den Gegner, der vermeintlich gut positioniert ist und vermeintlich gleich den Ball erobert - und nach einem Durchbruch Messis dann plötzlich massive Probleme bekommt.
Argentinien kommt definitiv in der Rolle des Außenseiters daher. In den bisherigen Spielen, das Halbfinale gegen die Niederlande mal ausgenommen, war die Albiceleste der große Favorit. Dementsprechend war die Erwartungshaltung an die Spielweise der Mannschaft. Aber zum einen haben sich die Fans in der Heimat wegen der Erfolge mit dem Stil zumindest arrangiert. Und zum anderen wird deshalb jeder verstehen, wenn Argentinien gegen die deutsche Mannschaft noch mehr Augenmerk auf die Defensive legen wird. Sich also voll auf seine große Stärke fokussiert.
Für jeden Einzelnen kann es kaum etwas Größeres geben, als im Maracana, der Heimstatt des Erzrivalen, das wichtigste Spiel der Kariere zu spielen. Argentinien kann die Atmosphäre nichts anhaben, eher könnte sogar das Gegenteil der Fall sein: Dass sich die Albiceleste noch mehr in ihrer Trutzburg verschanzt.
So unerträglich für die Brasilianer ein Titelgewinn der Argentinier im Maracana wäre, so unsterblich würden sich die Spieler in Himmelblau und Weiß damit in der Heimat machen. Der Ansporn könnte kaum größer sein.
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Die Schwächen
Die größte Hoffnung ist zugleich auch eine große Gefahr im Spiel der Argentinier: Messis Sonderrolle bürdet den restlichen neun Feldspielern noch mehr Aufgaben auf. Argentinien ist manchmal wie zweigeteilt: Es gibt die Mannschaft. Und es gibt zusätzlich noch Messi.
In der Defensive fehlt ein Spieler, weil Messi im Prinzip nur bis auf Höhe der Mittellinie anläuft und dann für einen möglichen Konter stehenbleibt. Das bindet zwar einen oder zwei Aufpasser, bedeutet aber eine Menge mehr Laufarbeit für den Rest.
Was sich auch im Halbfinale gegen die Niederlande bemerkbar gemacht hat. Nach etwa 70 Minuten offenbarte Argentinien körperliche Probleme, konnte in immer mehr Szenen nicht mehr höchstes Tempo gehen. Nun geht die Mannschaft mit 30 Minuten mehr Spielzeit aus dem Halbfinale in den Knochen in die Partie. Zudem konnte Deutschland wegen der vergleichsweise gemütlichen zweiten Hälfte gegen Brasilien zusätzliche Kräfte sparen.
Die Mannschaft hat Probleme, über einen längeren Zeitraum Druck auf den Gegner aufzubauen. Die Angriffe sind recht simpel gestrickt: Nach einigen Ballstafetten landet der Ball irgendwann bei Messi, der dann versucht, ins Tempo zu gehen. Wahlweise sind auch Di Maria oder Lavezzi die Zielspieler. Die grundlegende Struktur verliert der Angriff deshalb aber nicht. Wer Messi isoliert, wie es die Schweiz und die Niederlande geschafft haben, beraubt Argentinien bereits der größten Stärke.
Die Spielausrichtung führt irgendwann zwangsläufig zu vielen Einzelaktionen, die dann auch nicht selten in einem Ballverlust münden. Alleine Di Maria ließ sich in seinen fünf gespielten Partien bereits 63 Mal den Ball abnehmen. Außenverteidiger Rojo steht bei 58 Ballverlusten, Messi bei 56. In der Kategorie "Meiste Ballverluste" nehmen die drei Argentinier damit die Plätze eins, vier und sieben ein.
Was fehlt, ist ein klassischer Ballverteiler, wie ihn Deutschland in Toni Kroos und Bastian Schweinsteiger hat. Mascherano ist nicht der Spieler für Risikopässe, die Offensiven dribbeln gerne. Über das klassische Pass- und Positionsspiel kann Argentinien den Gegner nur selten auseinanderziehen. Den Angriffen fehlt es an Tiefe, sobald der Gegner geordnet hinter dem Ball aufgereiht ist. Dann wird gerne in die Breite gespielt, es mit vielen Seitenverlagerungen versucht - zumeist ohne den nötigen Raumgewinn.
Anders als noch gegen die Außenbahnspieler der niederländischen Fünferkette wird sich Argentinien besonders für die rechte deutsche Seite mit Thomas Müller und dem offensiv aggressiven Lahm etwas überlegen müssen. Gegen die Niederlande ignorierte Sabella die gegnerischen Außenverteidiger bis zur Höhe der Mittellinie fast komplett, erst danach wurden Dirk Kuyt und Daley Blind gestellt. Mit dem Dreieck Lahm-Müller-Khedira tief in der eigenen Hälfte wird Argentinien Probleme bekommen.
Auffällig bei allen drei Gegentoren bisher: Der Gegner konnte sich am Boden bis in den Strafraum spielen - und jeweils über die Schnittstelle zwischen rechtem Außenverteidiger und rechtem Innenverteidiger. Sabella hat auch deshalb längst das Personal ausgewechselt und vertraut auf Demichelis an Stelle von Federico Fernandez.
Der ehemalige Münchener spielt seitdem solide, aber klängst nicht fehlerfrei. Demichelis vertraut eine Spur zu sehr seinem Timing im Zweikampf und wandelt latent an der Schwelle zum Foulspiel bei seinen Tacklings.