Die daheimgebliebenen Weltmeister verneigten sich geschlossen vor den jungen Himmelsstürmern um Mittelfeld-Turbo Leon Goretza, doch Joachim Löws Überraschungsmannschaft verzichtete auf eine ausgelassene Feier. "Die Spieler freuen sich in der Kabine, aber sie sind nicht überschwänglich. Sie wissen, es steht ein Finale an", sagte Bundestrainer Löw, und Turnier-Held Goretzka ergänzte noch vor dem Flug nach St. Petersburg: "Wir hatten eine sehr schöne Zeit hier. Jetzt geht es darum, diese Zeit noch zu vergolden."
Und zwar im Wortsinn: In der Zarenstadt soll am Sonntag (20.00 Uhr im LIVESTREAM) gegen Chile erstmals der 8,6 kg schwere und 40 cm große Goldpokal her - dem Fluch zum Trotz, dass der Confed-Cup-Sieger noch nie die WM im Folgejahr gewann. "Wir waren auch die erste europäische Mannschaft, die in Südamerika eine WM gewonnen hat. Es ist schön, Regeln zu brechen", sagte Teammanager Oliver Bierhoff, und Löw ergänzte: "In der Vergangenheit haben wir schon einige Dinge durchbrochen - warum nicht auch das?"
Ja, warum nicht? Die Mini-WM sei "jetzt schon ein Erfolg", meinte Bierhoff nach dem furiosen 4:1 (2:0) im Halbfinale von Sotschi gegen ein zähes Mexiko. Das Duell war ein Abziehbild des bisherigen Turnierverlaufs. Die junge Mannschaft um Doppeltorschütze Goretzka (6., 8.) begeisterte mit reifem, wunderbar modernem Fußball. Sie hatte zwischendurch zwar auch Probleme, meisterte diese aber im Stile eines Champions. "Das ist pure Werbung für den deutschen Fußball", sagte Goretzka über den bislang sensationellen Auftritt in Russland.
Özil, Müller und Khedira feiern
Ein kleines deutsches Fußball-Wunder? Löw wollte diesen Begriff nicht in den Mund nehmen. Aber überrascht sei er schon von seinen jungen Wilden, sagte er. "Dass wir im Finale sind, hat keiner voraussehen können, das war auch gar nicht das Thema. Wir wollten uns entwickeln", sagte Löw. Das gelang bravourös. Um Kapitän Julian Draxler sei eine verschworene Einheit entstanden, "sie kämpfen füreinander, sind ehrgeizig und hungrig". Bierhoff nannte dies "begeisternd".
Ähnlich dachten die Weltmeister in der Heimat. "Fiiiiiiinnaaaaalleeeeee! Super gemacht", schrieb Thomas Müller bei Twitter, Sami Khedira gratulierte zu einer "Top-Leistung", Jerome Boateng war "stolz" und Mesut Özil "glücklich". Löw sprach von einer "grandiosen Leistung". Diese veredelten Sturmjuwel Timo Werner (59.), der mit seinem dritten Turniertreffer mit Goretzka an der Spitze der Schützenliste gleich zog, und Joker Amin Younes (90.+1). Der Gegentreffer des Frankfurters Marco Fabián (89.) blieb ein zu vernachlässigender Schönheitsfehler.
Löw ist der größte Gewinner
Größter Gewinner des Russland-Abenteuers ist Löw, dessen Perspektivteam-Strategie voll aufging. "Diese Erfahrung in einem FIFA-Turnier ist wahnsinnig wertvoll und wird den jungen Spielern helfen, bei ganz großen Turnieren ihren Mann zu stehen", sagte er. Spieler wie Draxler, Joshua Kimmich, Jonas Hector, Werner, Lars Stindl und vor allem der unwiderstehliche Goretzka haben sich für eine Rückkehr 2018 nachhaltig empfohlen. "Er hat einen sehr, sehr großen Anteil am Erfolg", sagte Bierhoff über den Schalker. Löw habe insgesamt jetzt "eine schöne Qual der Wahl. Jeder hat sich hier bewährt."
Doch das reicht Löws Studiengruppe nicht, sie will die letzte Prüfung mit summa cum laude abschließen. "Wir haben jetzt nur noch ein Ziel: Den Pokal zu gewinnen. Jeder wird sich gerne noch mal quälen", sagte Draxler. Dass in St. Petersburg mit Chile um "Krieger" Arturo Vidal und Alexis Sánchez "der stärkste Gegner" (Löw) wartet - was soll's! Bierhoff spürte angesichts der Neuauflage des hart umkämpften Gruppenspiels "ein besonderes Prickeln".
Dass Bayern-Star Vidal großspurig ankündigte, Chile werde dieses "tolle Finale gewinnen", ficht die DFB-Elf nicht an. Löw meinte, über einen möglichen Siegerempfang zu Hause habe er sich "noch keine Gedanken gemacht". Doch die Gier nach dem Pokal ist riesig. "Jetzt", sagte Kimmich mit leuchtenden Augen, "wollen wir dem Ganzen noch die Krone aufsetzen."