Wie die Cristo-Statue in Rio de Janeiro stand er auf der Tribüne. Die Arme zur Seite gestreckt, von einem Lichtkegel erhellt. Die Bilder von Diego Maradona aus dem Stadion in St. Petersburg vor dem Anpfiff des Spiels zwischen Argentinien und Nigeria hatten etwas Anmutiges, ja sogar Sakrales.
Der Leibhaftige oben, in den Reihen darunter die Jünger des argentinischen Fußballgottes, die sich mit ihren Handys und Kameras um ihn drängelten, um Selfies zu ergattern. Es war der Auftakt eines Abends, der die schon vorher vorhandenen Bedenken um Maradonas Zustand weiter verstärkte. Es könnte eine Frage von Leben und Tod sein.
Aber darum soll es hier nicht gehen, es geht um Druck und wie dieser Druck zu einer schwer erträglichen Last wird. Druck, unter dem Maradona schon einmal selbst zusammengebrochen ist und Druck, den er auf seinen Nachfolger Lionel Messi ausstrahlt.
Maradona ist noch immer der Mittelpunkt des argentinischen Fußballuniversums. Und wie schon bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2014 (2010 war Maradona Trainer der Albiceleste) kann der 57-Jährige die Auftritte der Nationalmannschaft auf dem Rasen zu Nebensächlichkeiten degradieren - auch wenn diese sich gerade mit viel Mühe ins Achtelfinale rettete.
Maradona hat die WM 1986 nicht alleine gewonnen
Der Legende nach hat Diego Armando Maradona auf der Höhe seines Schaffens die WM 1986 in Mexiko alleine für Argentinien gewonnen. Er hat im sagenumwobenen und als weltpolitischen Akt hochstilisierten Viertelfinale gegen England das Tor des Jahrhunderts und den Treffer mit der Hand Gottes erzielt. Er hat Argentinien nach dem Falklandkrieg die Ehre zurückgegeben.
Maradona war mit Sicherheit einer der besten, wenn nicht sogar der beste und begnadetste Spieler dieses Spiels, aber auch schon damals war es nicht möglich, eine WM alleine zu gewinnen, wie es heutzutage immer wieder heißt.
Maradona hat ebenso von seinen überragenden Partnern Jorge Valdano und Jorge Burruchaga profitiert wie umgekehrt. Maradona war da, wenn die Albiceleste ihn gebraucht hat, wie im Halbfinale gegen Belgien (beide Treffer beim 2:0) oder eben gegen England. Aber die Kollegen waren da, als Maradona sie gebraucht hat, wie im Achtelfinale gegen Uruguay (1:0 durch Pasculli) oder im Finale gegen Deutschland (3:2, Siegtor Burruchaga), als sich Maradona gegen die knallharten Deutschen lange Zeit vergeblich mühte.
Pele hier, Pele da. Maradona hier, Maradona da
Über die Jahre sind diese Details verloren gegangen, die WM 1986 ist Maradonas WM. Genauso wie die WM 1958 Peles WM ist, obwohl dieser ebenfalls von Granden des brasilianischen Fußballs wie Didi, Vava oder Garrincha umgeben war. Auch in Brasilien ist Pele als O Rei de Futebol (Der König des Fußballs) eine Referenzfigur in Übergröße, an der sich jeder Brasilianer messen lassen muss, wenn er mit der Rückennummer zehn bei einer WM aufläuft.
Wie sehr dieser Druck auf Neymar lastet, hat man nach dem zweiten Gruppenspiel gegen Costa Rica gesehen, als er im Mittelkreis in Tränen ausbrach. Dass es sich Neymar mit seinem Verhalten auf und außerhalb des Platzes nicht einfacher macht, ist eine Sache. Dass er diesen Druck aber auferlegt bekommt, ein Übel seiner Heimat.
Pele hier, Pele da. Maradona hier, Maradona da.
Auch Messi leidet unter diesem Druck. Man muss sich nur nochmal die Szenen vor dem Spiel gegen Kroatien anschauen, als er sich beim Abspielen der Hymne durchs Gesicht wischt. Nachdenklich, fragil, voller Selbstzweifel. Wer will, erkennt Angst vorm Scheitern.
Argentinien fehlt eine Alternativstrategie
Verstärkt wird dieser Druck von seinem Trainer Jorge Sampaoli, der immer wieder davon spricht, wie die Mannschaft für ihren Superstar arbeiten müsse. Der aber dabei vergessen hat, dieser Mannschaft ein tragfähiges Konzept zu verpassen, wie dies gelingen soll, um ihren Superstar wirklich zu unterstützen.
Es gibt bei der Albiceleste keine Alternativstrategie zu dem einfachen Kreisklassenmotto: Ball zu Messi, der macht das schon. Dabei hätte dieser Kader so viel Talent. Doch Paulo Dybala darf nicht mitspielen und Sergio Agüero sowie Gonazlo Higuain kommen gar nicht dazu, ihre Stärken im Abschluss auszuspielen, weil die argentinische Mannschaft ihnen keine Bälle liefern kann. Der Ball muss ja meist viel zu früh zu Messi - und alleine geht es eben nicht.
Keiner kann Spielentwickler, Vorbereiter und Vollstrecker sein. Ein Team lebt von seinen Rollen und Spielern, die diese nach den Vorgaben des Trainers ausfüllen. Dazu kann auch ein Star gehören, aber dann sollte man ihn eben nach seinen Stärken agieren lassen und nicht die Bürde einer ganzen Nation und damit auch noch alle Aufgaben auf dem Platz aufhalsen.
Vorbild Cristiano Ronaldo und Portugal
Bei Brasilien hat zumindest der feine Philippe Coutinho seinen Platz neben Neymar gefunden, dazu gibt es einige gestandene Teamplayer wie Casemiro, Paulinho oder Thiago Silva, die sich um das Teamgefüge verdient machen. Die Selecao ist hier schon einen Schritt weiter als die Seleccion. Ein Ausfall Neymars würde nicht mehr zum Totalzusammenbruch führen wie noch vor vier Jahren beim 1:7 gegen Deutschland.
Der Star ist nicht die Mannschaft, dieser Satz war schon immer Quatsch. Der Star ist der Star, aber er funktioniert nur in der Mannschaft. Als Vorbild könnten ausgerechnet die Portugiesen dienen, wo Cristiano Ronaldo Turnier für Turnier als Gockel des Teams scheiterte.
Erst mit der Ankunft von Fernando Santos als Trainer wurde Portugal zu einer Einheit - angeführt von Ronaldo. Er hat es geschafft, den Superstar ins Team zu integrieren und ihn dadurch noch größer gemacht. Ronaldo ist der Star, der dank der Mannschaft funktioniert, aber auch für die Mannschaft arbeitet. Bei den großen Nationen Südamerikas muss diese Erkenntnis erst noch reifen.
WM-Torschützenkönige: Spieler mit den meisten Toren
Name | Mannschaft | WM | Tore |
Just Fontaine | Frankreich | 1958 | 13 |
Sandor Kocsis | Ungarn | 1954 | 11 |
Gerd Müller | Deutschland | 1970 | 10 |
Ademir | Brasilien | 1950 | 9 |
Eusebio | Portugal | 1966 | 9 |
Ronaldo | Brasilien | 2002 | 8 |
Guillermo Stabile | Argentinien | 1930 | 8 |
Leonidas da Silva | Brasilien | 1938 | 7 |
Grzegorz Lato | Polen | 1974 | 7 |