Einer der viel zu selten in der Liste der ganz großen Trainer der letzten 30 Jahre genannt wird, verlässt nun womöglich für immer die ganz große Bühne: Louis van Gaal. Das Ausscheiden gegen Argentinien bei der WM 2022 in Katar war sein letztes Spiel als Bondscoach.
Aktuell ist noch unklar, ob es für ihn überhaupt als Trainer weitergeht. Dementsprechend ist es an der Zeit, einen der Größten zu würdigen, die der Fußball je auf einem Trainerstuhl gesehen hat.
Der Niederländer hat eine lange Karriere hinter sich. In fünf verschiedenen Jahrzehnten hat er seine Spuren im Fußball hinterlassen und aktiv daran mitgearbeitet, wie dieser Sport in der Moderne gedacht und praktiziert wird.
Louis van Gaal und seine Meisterleistung beim AZ Alkmaar
Um die ganze Magie van Gaals zu verstehen, sollte man ins Jahr 2008 zurückreisen. Damals steht van Gaal nicht etwa bei einem der größten Klubs oder Verbände der Welt unter Vertrag, sondern bei AZ Alkmaar. Im Frühjahr 2008 ist van Gaal weit entfernt von dem Ansehen, das ihn in den Neunzigern und heute begleitet. Es scheint sogar, als würde seine Karriere den Bach hinuntergehen: Er verkündet öffentlich seinen Rücktritt zum Ende der Saison.
Alkmaar ist damals wie heute ein Klub, der finanziell und strukturell nicht mit den Großen wie Ajax oder Eindhoven mithalten kann. Umso beeindruckender waren die Erfolge, die van Gaal bis zu jenem Rücktritt einfuhr. In der Saison 2005/06 landete Alkmaar auf Platz zwei, im Jahr darauf gab es eines der packendsten Saisonfinals der Fußballgeschichte. Drei Teams hatten die Chance, am letzten Spieltag Meister zu werden. Alkmaar verlor bei Außenseiter Excelsior Rotterdam mit 2:3 und wurde Dritter.
In der darauffolgenden Saison setzte der Abwärtstrend ein. Van Gaal und Alkmaar versanken im unteren Tabellenmittelfeld, was zum Rücktritt führte.
Louis van Gaal: "Das ist mein größtes Kunststück"
Aber nur einen Monat später verkündete der "General" seinen Rücktritt vom Rücktritt. Die Spieler hätten ihn davon überzeugt, zu bleiben. Trotz des Misserfolgs, trotz der Kritik, die in den Niederlanden am vermeintlich aus der Zeit gefallenen van Gaal vorherrschte, trotz des schon damals schnelllebigen Geschäfts - van Gaal ließ sich zu einem weiteren Jahr überreden.
Der Rest ist Geschichte: Alkmaar wird mit einer herausragenden Leistung Meister und bricht die Dominanz der großen Klubs. Plötzlich ist van Gaal wieder Thema in Europa, plötzlich wird wieder über ihn und seine auf Umschaltsituationen fokussierte Spielweise gesprochen, plötzlich ist er wieder modern. Es ist für ihn eine Art Wendepunkt. In Alkmaar hatte van Gaal nicht die individuelle Qualität im Kader, die er bei anderen Stationen hatte. Er musste sich anpassen und seine Ideen mit deutlich weniger Ballbesitz umsetzen. Aber das gelang ihm auf beeindruckende Art und Weise. "Das ist mein größtes Kunststück", sagte er bei der Meisterschaftsfeier. Es wäre nicht verwunderlich, würde er das heute immer noch so sehen.
Er, der Ajax einst zu europäischer Dominanz verhalf. Ende der Achtziger wurde er in Amsterdam als Co-Trainer für den Jugendbereich verpflichtet. Schon während seiner wenig erfolgreichen Spielerkarriere bereitete er sich auf seine Zeit als Trainer vor. Er unterrichtete elf Jahre lang nebenberuflich als Sportlehrer an einer Berufsschule. "Von 8 Uhr früh bis 2 Uhr nachmittags unterrichtete ich, und um 15.30 Uhr begann bei Sparta das Training", erzählte er einst der taz.
Eine Zeit in der van Gaal den Umgang mit jungen Menschen lernte und auch zu schätzen begann. Mit seinem Wechsel zu Ajax beendete er diesen Job. Es folgte sein großer Aufstieg im europäischen Fußball. Drei Meisterschaften, dreimal der niederländische Supercup, einmal der Pokal, der UEFA-Cup-Sieg 1992, der Champions-League-Sieg 1995 und die anschließenden Erfolge im UEFA Super Cup sowie im Weltpokal - van Gaal hievte Ajax wieder auf den Thron des Kontinents.
Louis van Gaal: Immer mit dem Blick in die Zukunft
Van Gaal interpretierte seine Rolle als Trainer schon damals sehr modern. Bei Ajax forderte er Freiheiten ein, die zu diesem Zeitpunkt kaum ein anderer Kollege hatte. Er arbeitete an Strukturen und organisatorischen Bereichen des Klubs mit. Damit agierte er viel übergreifender als normale Trainer. Er veränderte das Training grundlegend, schaute dafür über den Tellerrand und adaptierte Elemente aus anderen Sportarten wie dem Basketball, Football oder Hockey. Seine Spieler absolvierten beispielsweise fußball-spezifische Aerobiceinheiten.
Auch taktisch passte er vieles an. Sein 3-4-3-System ist selbst nach heutigen Standards noch modern. Viele Positionswechsel, ein direktes Spiel in die Spitze und ein großer Fokus auf die zentralen Räume des Spielfelds, um mit und gegen den Ball Kompaktheit zu haben. Zwischen den beiden Dreierketten ließ van Gaal damals eine spielstarke Raute auflaufen. Bei Ballverlusten griff ein aggressives Gegenpressing, das von den geringen Abständen zwischen den Spielern profitierte.
Junge Spieler wie Edgar Davids, Patrick Kluivert, Clarence Seedorf, Edwin van der Sar, Frank und Ronald de Boer oder Jari Litmanen schafften damals unter ihm den Durchbruch. Van Gaal prägte die Neunziger und viele Klubs in Europa orientierten sich an seinem Ajax.
Louis van Gaal: Wichtigste Trainerstationen
Klub/Team | von | bis | Spiele | wichtigste Erfolge |
Ajax Amsterdam | 91/92 (28.09.1991) | 96/97 (30.06.1997) | 281 | 1 x CL, 1 x UEFA-Cup, 3 x Meister |
FC Barcelona | 97/98 (01.07.1997) | 99/00 (20.05.2000) | 170 | 2 x Meister, 1 x Pokal |
Niederlande | 00/01 (07.07.2000) | 01/02 (30.11.2001) | 14 | - |
FC Barcelona | 02/03 (01.07.2002) | 02/03 (28.01.2003) | 30 | - |
AZ Alkmaar | 05/06 (01.07.2005) | 08/09 (30.06.2009) | 174 | 1 x Meister |
FC Bayern München | 09/10 (01.07.2009) | 10/11 (10.04.2011) | 96 | 1 x Meister, 1 x Pokal |
Niederlande | 12/13 (01.08.2012) | 14/15 (13.07.2014) | 29 | WM-Dritter |
Manchester United | 14/15 (14.07.2014) | 15/16 (23.05.2016) | 103 | 1 x FA Cup |
Niederlande | 21/22 (04.08.2021) | 22/23 (31.12.2022) | 20 | WM-Viertelfinale |
Louis van Gaal: Plötzlich auf dem Abstellgleis
Es folgten aber Jahre, in denen die Erfolge ausblieben - zumindest jene, die auch in der Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit sorgen. Sportlich lief es beim FC Barcelona eher holprig und auch als Nationaltrainer der Niederländer scheiterte er an ausbleibenden Ergebnissen. Dennoch hatte er großen Einfluss auf die Entwicklung von jungen Spielern wie Xavi oder Carles Puyol.
Und beim KNVB konnte er einige wichtige Veränderungen durchsetzen - darunter eine übergeordnete Strategie im Jugendbereich, die sich auf die Infrastruktur und die Spielweise bezog. Damit verschwand er aber zunehmend in den Hintergrund.
Deshalb war die Entwicklung vom Rücktritt in Alkmaar bis hin zum Titelgewinn so entscheidend für ihn. Hätten die Spieler ihn nicht vom Verbleib überzeugt, wäre Alkmaar wohl nicht Meister geworden. Vor allem aber ist es fraglich, ob der FC Bayern 2009 trotzdem angeklopft hätte. Vermutlich nicht.
Louis van Gaal und seine Revolution beim FC Bayern
Doch van Gaal landete in München und setzte seine Erfolgsgeschichte fort. Unter ihm gelang den Münchnern der erneute Sprung in Europas Spitze. Auch bei den Bayern setzte van Gaal erfolgreich auf junge Spieler wie Thomas Müller, Holger Badstuber oder David Alaba.
Wirklich spannend wurde es aber auf anderen Ebenen. "Mia san mia, wir sind wir - und ich bin ich", stellte sich der Trainer einst legendär vor. Eine Einstellung, die zu Konflikten führte. Van Gaals Einfordern übergreifender Kompetenzen stieß in München nur bedingt auf Freude. Dort haben Trainer traditionell weniger Macht als an anderen Standorten. Gleichzeitig war der Klub um Kompromisse bemüht, weil sie sich der Notwendigkeit für Veränderungen bewusst waren.
Gerade mit Uli Hoeneß geriet er oft aneinander. Doch auch bei den Bayern gab der Erfolg ihm recht. Schon in seiner ersten Saison holte er das Double und erreichte das Champions-League-Finale. Im zweiten Jahr folgte nach viel Verletzungspech und einem dürftigen Transferfenster aber schon das Aus.
Die Streitereien mit den Vorgesetzten und interne Diskussionen um aussortierte ältere Spieler wie Mark van Bommel sorgten für Unruhe. So ganz im Streit ging van Gaal aber nicht. Denn der weitere Verlauf der Geschichte versöhnte die Bayern mit ihrem einstigen "Tulpengeneral".
Louis van Gaal: FC Bayern profitiert "bis heute"
Van Gaal gilt bis heute als der Macher des modernen FC Bayern. Er etablierte ein auf Dominanz und Ballbesitz ausgelegtes System und legte so den Grundstein für seine Nachfolger Jupp Heynckes und Pep Guardiola. Selbst Hoeneß gab 2019 zu: "Wir profitieren bis heute von van Gaals Ideen."
Auch in München veränderte er Strukturen, Trainingsmethodik und vieles mehr. So engagierte er Psychologen, ließ moderne digitale Kommunikationswege einrichten und intensivierte den persönlichen Austausch mit Spielern sowie Mitarbeitern.
Das unterstreicht, wie übergreifend van Gaal den FC Bayern verändert hat und wie zukunftsorientiert er arbeitet. Die bayerischen Erfolge der letzten Dekade gehören zu großen Teilen ihm. Es ist fast schon sinnbildlich für seine Laufbahn nach dem Ajax-Abschied, dass auch diese ihm eher hintergründig zugeordnet werden.
Louis van Gaal: Letztes Hurra bei der WM 2014, Abschied 2022?
2012 übernahm er dann erneut die Niederlande, scheiterte mit ihnen bei der WM 2014 aber knapp im Halbfinale an Argentinien. Es war das letzte Hurra in einer großen Karriere. Manchester United konnte selbst er zwischen 2014 und 2016 nicht retten.
Aber gerade van Gaal zeigt, dass der Blick viel zu oft auf die nackten Zahlen gerichtet wird. Sein Einfluss auf den Weltfußball lässt sich nicht ausschließlich an Titeln messen. Wo er auch war, hinterließ er fast immer etwas, worauf anschließend aufgebaut werden konnte.
Weil er in seiner Karriere oft aneckte, galt er als schwieriger Typ. Fakt ist aber auch, dass schlechte Worte von Spielern über ihn die Ausnahme sind. Wie viele Trainer gibt es auf diesem Niveau, die von ihren Spielern darum gebeten wurden, nicht zurückzutreten? Es ist genau diese Ambivalenz, die van Gaals Persönlichkeit auszeichnet. Einerseits seine knallharten und autoritären Charakterzüge, wenn es darum geht, Einfluss zu gewinnen oder Spieler zu schützen. Andererseits diese große Empathie, die ihn so nahbar und sympathisch macht.
Bei dieser letzten WM in Katar waren beide Seiten womöglich so nah beieinander wie selten zuvor. Ging es darum, Kritik an seinem Spielstil abzuwimmeln oder kritischen Journalistinnen und Journalisten die Stirn zu bieten, sah die Welt den harten van Gaal. Bot sich die Gelegenheit, knuddelte er aber einen Journalisten, küsste seine Spieler oder tanzte mit dem Team.
Zwischen General und Feierbiest liegt oft nicht viel. Als er seine Krebserkrankung öffentlich machte, erreichte ihn eine riesige Welle an Nachrichten aus aller Welt. So wie der 71-Jährige den Fußball jahrelang mit seiner Art, seinen Taten und seiner Idee umarmte, wurde er damals vom Fußball zurückumarmt. Über 30 Jahre lang hat er auf verschiedenen Ebenen gewirkt. Jetzt wird er vermutlich die große Bühne verlassen. Louis van Gaal wird fehlen.