Ein wenig gleicht die Geschichte des SV Darmstadt 98 einer Hollywood-Story. Sportlich schon in der Viertklassigkeit verschwunden, stehen die Lilien vor dem Spiel gegen den Karlsruher SC nun auf dem Relegationssplatz der 2. Liga. Der Vater des Erfolgs ist Dirk Schuster. Der Trainer spricht im Interview über den grandiosen Auftakt, die Begebenheiten am altehrwürdigen Stadion am Böllenfalltor und seine Nationalmannschaftskarriere.
SPOX: Herr Schuster, wie oft schauen Sie in diesen Tagen auf die Tabelle?
Dirk Schuster: Überhaupt nicht. Vielleicht kurz nach dem Spiel, um zu sehen, wie die anderen Teams so gepunktet haben. Das war's dann auch schon.Die Tabelle interessiert mich derzeit nicht. Ich schaue nur, ob wir über dem Strich stehen. Zugegeben, die 24 hinter Darmstadt ist schön zu lesen.
SPOX: Sie sprechen es an: 14 Spiele, 24 Punkte. Was hätten Sie demjenigen vor der Saison gesagt, der das prognostiziert hätte?
Schuster: Ich hätte ihm gesagt, dass das ein schönes Ziel ist (lacht). Spaß beiseite: Wir wussten, dass wir uns mit den Neuzugängen qualitativ nochmal verstärkt hatten. Aber planbar ist das nicht. Es spielen immer ganz viele Unwägbarkeiten wie Verletzungen, Sperren oder die Integration der Neuen eine Rolle. Wir hatten in der Hinsicht Glück, aber die Punkteausbeute ist hauptsächlich der Lohn für unsere harte Arbeit.
SPOX: Andere Teams arbeiten auch hart.
Schuster: Die absolute Leistungsbereitschaft wird am Ende immer belohnt. Wir wissen, dass wir uns die besten Spieler nicht leisten können. Daher müssen wir bei unseren Neuverpflichtungen genau hinschauen.
SPOX: Schweben die Lilien derzeit auf einer großen Euphoriewelle?
Schuster: Wir haben wirtschaftlich nicht die besten Voraussetzungen, auch infrastrukturell können wir mit den Teams in unserer Liga nicht mithalten. Es gibt in Darmstadt einen Trainingsplatz und ein Stadion, das ursprünglich 1921 erbaut wurde. Wenn wir Pech haben, sind die Duschen bei uns kalt (lacht). Aber wir jammern nicht, sondern freuen uns, dass wir jetzt in der 2. Liga sind.
SPOX: Wie lockt man unter diesen unüblichen Bedingungen Spieler ans Böllenfalltor?
Schuster: Wir haben die Spieler immer ins Stadion eingeladen, um ihnen die Begebenheiten in Darmstadt zu zeigen. Der eine oder andere hat mit den Augen gerollt. Entweder man will arbeiten, krempelt die Ärmel hoch und hat Bock, in Darmstadt Fußball zu spielen - oder aber man will in einen Wellness-Tempel. Dann muss man aber woanders hin.
SPOX: Werden die Saisonziele nun geändert?
Schuster: Auf gar keinen Fall! Für uns zählt nur der Nichtabstieg. Vielleicht zahlen sich die Punkte, die wir jetzt schon haben, am Ende aus, so dass wir nicht mehr unbedingt gewinnen müssen. Wir sind momentan sehr gut drauf und machen es den Teams in der Liga ungeheuer schwer, gegen uns zu gewinnen. Vor der Saison hätte man uns doch im hohen zweistelligen Prozentbereich als ersten Absteiger gesehen.
SPOX: Die Truppe fällt vor allem durch ihre Homogenität auf. Wirkt das nur so oder ist die Stimmung in der Kabine tatsächlich so gut?
Schuster: Die Jungs sind eine verschworene Gemeinschaft, die auch neben dem Platz sehr viel gemeinsam unternimmt. Egal ob Mittagessen oder die abendliche Gestaltung. Nach dem Spiel geht's auch mal zusammen in die Disko. Die Jungs, die außerhalb wohnen, schlafen dann auch mal bei denen, die eine Wohnung in der Stadt haben. Dadurch fällt es auch den Neuzugängen leicht, sich im Team zu integrieren.
SPOX: Spieler wie Marcel Heller, Jerome Gondorf oder Dominik Stroh-Engel haben nochmal einen Schritt nach vorne gemacht. Inwieweit fordern oder fördern Sie diese Spieler?
Schuster: Diesen Spielern haben wir schon im letzten Jahr die 2. Liga zugetraut, daher haben wir auch frühzeitig ihre Verträge verlängert. Jetzt werden die Jungs gerade von der Euphorie getragen. Die entstand, weil wir im Sommer richtig Gas gegeben haben. Durch die Neuverpflichtungen haben wir zudem bewusst neue Reize gesetzt. Natürlich haben die Spieler auch eine unfassbare Lust, sich in der 2. Liga und bei den ganzen Traditionsvereinen zu beweisen.
SPOX: Wussten Sie, was Sie in der 2. Liga erwartet?
Schuster: Klar. Wir wussten, dass es physisch nochmal eine ganz andere Welt ist. Das wichtigste in unserem Spiel ist Selbstvertrauen und das wollen wir den Spielern auch geben. Wir haben nicht auf die negativen Prophezeiungen vor der Saison gehört. Viele sagten, dass wir mit unserem Mini-Etat nichts reißen werden und Spieler wie Marcel Heller oder Romain Bregerie bereits bei anderen Vereinen gescheitert waren. Auch einem Dominik Stroh-Engel hat man doch in der 2. Liga nichts zugetraut. Wir haben allerdings immer an die Spieler geglaubt.
SPOX: Nun hat Stroh-Engel schon wieder acht Treffer erzielt. Inwieweit ist das Team von seinen Toren abhängig?
Schuster: Wir sind nicht der SV Stroh-Engel 98 oder irgendwie von einem einzelnen Spieler abhängig. Keiner nimmt sich so wichtig. Auch Stroh-Engel weiß, dass die vielen Buden ein Gemeinschaftsprodukt waren. Die Jungs bleiben geerdet. Manchen ist der Hype in der Stadt und in den Medien fast schon unangenehm.
SPOX: Der Vertrag mit Christian Wetklo wurde nach wenigen Wochen im Sommer wieder aufgelöst. Auch wenn Sie jetzt darüber ungern sprechen werden: Was lief da schief?
Schuster: Die Personalie Wetklo ist abgeschlossen. Da wurde beiderseitiges Stillschweigen vereinbart.
SPOX: Mit Ihrer Ankunft scheint sich auch das nervöse Umfeld der Lilien ein wenig beruhigt zu haben...
Schuster: Mir war bisher von Grabenkämpfen oder ähnlichem nichts bewusst. Vom ersten Tag an war alles klar abgesteckt. Bei den Lilien ist alles ein bisschen kleiner. Wir haben keinen Sportdirektor, dadurch sind die Kommunikationswege aber auch kürzer.
SPOX: Darmstadt steht für Tradition. Der andere Aufsteiger aus Leipzig wird dagegen heftig kritisiert. Wie beurteilen Sie das Projekt RasenBallsport Leipzig?
Schuster: Das muss jeder für sich beurteilen. Da gibt es eben ein paar potente Geldgeber, die den Fußball im Osten salonfähig machen wollen. Vom Grundgedanken ist das ein sehr löbliches Ziel. Allerdings ist es schon grenzwertig, wie man da irgendwelche Statuten umgeht und Spieler in Leipzig kauft und diese gleich wieder nach Österreich verleiht und umgekehrt. Aber wenn es geht, warum nicht? Vielleicht würde ich es genauso machen. Nichtsdestotrotz sollte man da mal ein paar Gedankengänge anschieben, damit gewissen Dingen ein Riegel vorgeschoben wird.
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SPOX: Sie schlossen 2007 den Trainer-Lehrgang als Jahrgangsbester ab, unter anderem vor Jos Luhukay. Dieser trainiert nun die Hertha in der Bundesliga. Ihr Ziel wird auch sein, einmal einen Bundesligisten zu trainieren.
Schuster: Von den momentanen Voraussetzungen glaube ich, es ist fast unmöglich, dass Darmstadt wieder in der Bundesliga spielt. Da müssten Ostern, Weihnachten und noch ein paar Feiertage zusammenfallen, dass das mal passiert. Aber: Man darf im Fußball auch nichts ausschließen.
SPOX: Bei welchem Angebot würden Sie denn schwach werden?
Schuster: Grundsätzlich ist es schön zu sehen, wenn wir als Team Beachtung in der Republik finden. Das ist eine Art Anerkennung. Aber bisher gab es keine Anfrage, daher denke ich nicht darüber nach. Sollte es so eine Anfrage irgendwann mal geben, dann müsste man sich eventuell zusammensetzten. Mein Ziel ist es, oben anzukommen. Wenn ich was anderes sagen würde, würde ich lügen.
SPOX: Sie sagten einmal, dass Sie sich selbst nach der Trainer-Ausbildung höchstens 18 Monate gegeben hätte, um einen richtigen Job zu bekommen. Das hat bei den Stuttgarter Kickers geklappt. Was würden Sie jetzt machen, wenn dieses Angebot nicht gekommen wäre?
Schuster: Gute Frage. Ich war damals sportlicher Leiter in einem Fitnessstudio. Man muss in diesem Geschäft immer drin bleiben. Wenn du einige Zeit raus bist, dann hast du keine Chance mehr. Dann heißt es nur noch: "Ah, der Schuster! Das war doch mal so ein Treter in den 90ern." Es gibt jedes Jahr 25 neue Trainer durch den Lehrgang. Da gerät man schnell in Vergessenheit.
SPOX: Im Juli 1995 schossen Sie als Spieler für den KSC das Tor des Monats. Welches Tor war schöner: Ihres oder der 4:2-Treffer von Elton da Costa gegen Arminia Bielefeld im Relegationsspiel?
Schuster: Rein optisch war meins bestimmt schöner (lacht). Von der Wichtigkeit war der Treffer von Elton da Costa nicht zu überbieten. Das Tor war einfach verdient. Es wäre unverdient gewesen, wenn wir nach dieser Saison in der 3. Liga hätten bleiben müssen. Letztlich war es aber natürlich auch etwas glücklich, dass das Ding von Elton so einschlug.
SPOX: Winnie Schäfer gilt als Vater des KSC-Erfolgs Anfang der 90er. Wie viel Schäfer steckt in Schuster?
Schuster: Ein bisschen schon. Ich habe aber bei fast allen Trainern versucht, mir etwas abzuschauen - aber immer das Positive. Man muss authentisch bleiben. Wenn ich in der 2. Liga in Schlips und Anzug stehen würde, würden mich alle für bekloppt erklären. Da würde ich mich komplett verleugnen.
SPOX: Zwischen 1994 und 1995 absolvierten Sie drei Länderspiele für das DFB-Team. Warum wurden es nicht mehr?
Schuster: Weil Markus Babbel einfach besser war. So ehrlich muss man zu sich selbst sein. Der spielte damals international richtig klasse. Dann hatte man noch Leute wie Jürgen Kohler und Thomas Helmer, da hat der kleine Schuster seine Grenzen aufgezeigt bekommen. Zudem lief es beim KSC sportlich nicht mehr so überragend, daher war das Thema Nationalmannschaft leider wieder beendet.
SPOX: Werfen wir zum Abschluss einen Blick in die Kristallkugel: Wo landet der SV Darmstadt 98 am Ende der Runde und wer steigt auf?
Schuster: Ich wünsche mir, dass wir über dem unteren Strich sind. Und der Aufstieg geht nur über den 1. FC Kaiserslautern. Leipzig wird sich vorne etablieren und Ingolstadt wird auch eine richtig gute Rolle spielen.
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