SPOX: Herr Schindelmeiser, Sie stehen mit dem VfB ganz dicht vor dem Aufstieg in die Bundesliga, die Euphorie im Umfeld ist riesig. Ein riesiger Wandel im Vergleich zur Negativität, die herrschte, als Sie Ihre Aufgabe in Stuttgart übernommen haben.
Jan Schindelmeiser: Ohne jede Frage. Als ich nach Stuttgart kam, gab es viele Menschen im Verein, die tief verletzt waren nach der Negativ-Entwicklung der vergangenen Jahre. Der Abstieg in die 2. Liga war der negative Höhepunkt und für einen Verein wie den VfB, mit dieser Tradition, den Werten und dem Stolz auf die Erfolge der Vergangenheit, ein schwer verdauliches Thema. Wenn Du den VfB im Herzen trägst, musst Du erstmal verarbeiten, dass Du plötzlich in der zweiten Liga spielst. Und dann noch wie gegen Heidenheim sogar im eigenen Stadion verlierst. Gleichzeitig habe ich aber auch sofort eine Trotzreaktion gespürt, die uns geholfen hat, wieder Hoffnung in die Zukunftsfähigkeit des Klubs aufzubauen.
SPOX: Hoffnung in die Zukunft kann man nur aufbauen, wenn man sicherstellt, dass Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Was hat Ihre Analyse ergeben, warum der VfB überhaupt abgestiegen ist?
Schindelmeiser: Bei so einer Analyse besteht generell immer die Gefahr, dass man sich zu sehr in der Vergangenheit abarbeitet und sehr schnell nach Schuldigen sucht. Statt zu schauen, welche Prozesse es zu optimieren gilt. Bei der Frage, wie wir es besser machen können, haben wir sicher grundsätzliche Fehler im System festgestellt. Strukturell, organisatorisch, kulturell. Wir mussten dem VfB wieder eine Philosophie und eine neue Ausrichtung geben. Da geht es natürlich konkret um die Kaderstruktur oder das Trainerteam, aber auch insgesamt um die Kultur. Wie entwickeln wir das Selbstbewusstsein und die Überzeugung, dass wir uns in den nächsten Jahren den etablierten Klubs wieder nähern? Wir gehören aktuell nicht zu den etablierten Klubs, wir sind ein Zweitligist. Aber wir wollen da wieder hin. Das geht nur mit klaren konzeptionellen Überlegungen, die konsequent gelebt und umgesetzt werden. Auch mit dem Wissen, dass nicht alle Entscheidungen richtig sein werden und dass wir auch mal einen Umweg gehen müssen. Das ist aber überhaupt kein Problem, solange wir unseren Plan verfolgen und das Denken und Handeln im gesamten Verein synchronisieren. Zum Beispiel muss im fußballerischen Bereich klar sein, welche Idee unserem Spiel zugrunde liegt und sie muss mit der Arbeit im Nachwuchsleistungszentrum abgestimmt sein. Ansonsten sind wir nicht in der Lage, die richtigen Spieler zu verpflichten. Der Abstieg war eine gute Gelegenheit, mit der Neuausrichtung zu beginnen, aber es war auch schwer umzusetzen.
SPOX: Wegen der finanziellen Situation?
Schindelmeiser: Man muss es sich vor Augen führen, dass dem VfB durch den Abstieg in etwa 50 Millionen Euro verloren gegangen sind. Wenn wir die Jahre davor, als man dem Abstieg ein paar Mal noch von der Schippe gesprungen ist, einbeziehen, sind wir schnell bei einer Summe in der Region von 100 Millionen Euro. Dieses Geld kommt auch nicht zurück, wenn wir den Sprung in die Bundesliga schaffen, das Geld ist weg. Wenn wir jetzt wissen, wie hoch die Anspruchshaltung in der Region zu Recht ist, dann sind wir schnell beim Thema der Ausgliederung. Es ist ein fast unumgänglicher Prozess, wenn der VfB ernsthaft ambitioniert sein will. Wir wollen ambitioniert sein, aber gleichzeitig bescheiden auftreten. Darin sehe ich auch keinen Widerspruch.
SPOX: Obwohl es auch in dieser Saison schwierige Phasen gab, ist die Unterstützung der Fans in Stuttgart bemerkenswert. Dass der VfB den 2.Liga-Zuschauerrekord des 1. FC Köln brechen wird, ist nur ein Zeichen. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?
Schindelmeiser: Ich habe sehr schnell die große Liebe der Menschen zum Verein gespürt. Ausdruck ihrer Liebe ist nicht zuletzt der Gang ins Stadion zu unseren Spielen. Wir werden die Saison mit einem Schnitt von über 50.000 Zuschauern abschließen. Das ist Wahnsinn, auch wenn man bedenkt, dass wir viele Montagsspiele hatten und viele Fans von weiter weg anreisen. Aber es zeigt nur, welche Bedeutung der VfB für seine Fans hat. Wir würden uns nichts sehnlicher wünschen, als diesen Menschen etwas von dieser Zuwendung zurückgeben zu können und der traditionellen Bedeutung des Vereins mit Bundesliga-Fußball wieder gerecht zu werden. Mit Ergebnissen auf dem Platz, aber auch mit der Art und Weise, wie unsere Mannschaft Fußball spielt. Die Menschen sollen auf dem Heimweg sagen: Das ist unser VfB, das war klasse, damit kann ich mich identifizieren. Ich glaube, dass unsere Fans auch schnell erkannt haben, dass wir ehrlich mit der Situation umgehen. Wir haben nie gesagt, dass der VfB einfach nur Kraft Namens in die Bundesliga gehört. Niemand gehört Kraft Namens in die Bundesliga. Es ist immer das Ergebnis harter Arbeit und der nötigen Punkte.
SPOX: Sie haben die kulturellen und strukturellen Schrauben schon angerissen, an denen Sie gedreht haben. So wurde unter anderem ein Verhaltenskodex im Verein eingeführt. Sind die Dinge, die dort drin stehen, nicht selbstverständlich?
Schindelmeiser: Eigentlich schon, da haben Sie vollkommen Recht. Es hilft aber trotzdem, es aufzuschreiben und zu besprechen. Es im Falle der Fälle auch aus der Schublade holen zu können. Es eint, weil so jeder weiß, welche unsere Werte im Umgang miteinander sind. Es geht darum, eine Orientierung zu geben, aber natürlich reden wir auch über viele Selbstverständlichkeiten. Wir reden über Respekt im Umgang, ohne Rücksicht auf Religion, Hautfarbe oder Gesinnung. Wir reden über Ehrlichkeit. Niemand wird in unserem Haus dafür bestraft, wenn er die Wahrheit sagt. Wir brauchen intern kritische Stimmen und einen ehrlichen Austausch, wenn wir besser werden wollen.
SPOX: Wie sehr betrifft es vor allem auch die Spieler?
Schindelmeiser: Sehr. Wir wollen, dass sich unsere Spieler bewusst sind, welche Wahrnehmung und Bedeutung wir als VfB in der Gesellschaft genießen. Unsere Spieler haben einen Beruf, der viele Menschen interessiert und der als attraktiv betrachtet wird, deshalb haben sie aber keine größere Bedeutung. Sie haben einen sehr privilegierten und sehr gut bezahlten Beruf. Damit verbunden ist aber auch die Aufgabe, davon etwas zurückzugeben und sich im sozialen Bereich zu engagieren. Wir wollen kein Parallel-Universum zulassen. Zuletzt hatten wir eine große Aktion im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Blutkrebs, dort kämpfen Menschen um ihr Leben. Ich möchte, dass sich unsere Spieler auch mit diesen Themen auseinandersetzen. Der Werte-Kanon ist breit. Tradition spielt dabei natürlich auch eine große Rolle.
SPOX: 2018 wird der VfB 125 Jahre alt. Wie sehr kann man heutzutage überhaupt noch auf traditionelle Werte achten?
Schindelmeiser: Ich weiß, wie wichtig die traditionellen Werte beim VfB sind und natürlich wollen wir diese Werte auch verkörpern und leben. Die wunderbare Tradition ist ein hervorragendes Fundament, auf das wir ein modernes zukunftsorientiertes Gebilde setzen können. Auch müssen, wenn wir den Anforderungen in einem extrem harten Wettbewerb gerecht werden und erfolgreich sein wollen. Das eine schließt das andere nicht aus. Aber wir müssen mit deutlich knapperen Ressourcen nach vorne und einen anderen Weg gehen als die Klubs, die in den letzten Jahren wirtschaftlich deutlich erfolgreicher waren und sich deutlich vom VfB entfernt haben. Das kann man beklagen, tun wir aber nicht. Wir müssen schneller sein, kreativer - der VfB muss wie ein Start-up denken. Gleichzeitig benötigen wir sportliche Erfolge. Langfristig denken und kurzfristig gewinnen - an dieser Herausforderung wird sich im Fußball nichts ändern. Wirtschaftspsychologen sprechen von Beidhändigkeit, bei uns müsste man eigentlich von Beidfüßigkeit sprechen. (lacht) Wir müssen uns strukturell, personell und organisatorisch für die Zukunft ausrichten, aber am besten auch immer das nächste Spiel gewinnen. Wir jonglieren mit fünf Bällen und dürfen keinen fallen lassen.
SPOX: Sie haben seit Ihrem Amtsantritt auch im Umfeld des Teams einige neue Stellen geschaffen. So soll sich Jens Andrei als Players Relations Manager um die Spieler kümmern. Warum braucht es einen Kümmerer für hochbezahlte Profis?
Schindelmeiser: Wenn früher ein neuer Spieler kam, war es ja so, dass der erste Papierkram erledigt, bei der Wohnungssuche geholfen und dann noch einmal der Weg zum Training gezeigt wurde. Damit war die Integration so gut wie abgeschlossen. Das funktioniert so nicht. Gerade wenn wir junge Spieler zu uns holen und alle Voraussetzungen für sportlichen Erfolg schaffen wollen. Dann müssen wir uns auch entsprechend kümmern. Es wäre inkonsequent, viel Geld für neue Spieler auszugeben und an der Betreuung und Integration zu sparen.
SPOX: Was sind konkret die Aufgaben von Jens Andrei?
Schindelmeiser: Natürlich geht es um die klassischen Themen wie Wohnung, es geht aber auch darum zu schauen, wie der Tagesablauf bei einzelnen Spielern überhaupt aussieht. Was passiert da zwischen den Trainingseinheiten? Oder an einem freien Tag? Was passiert, wenn er vielleicht nicht gleich von Anfang an spielt und sich nicht durchsetzen kann? Sitzt er alleine zuhause und grübelt? Die Freundin oder die Eltern sind vielleicht auch nicht da. Das wollen wir gerne wissen und ihn begleiten. Auch die Familien der Spieler einbeziehen und eine Nähe schaffen, indem sich die Familien treffen und Beziehungen aufbauen. Um es auf den Punkt zu bringen: Es darf uns nie passieren, dass sich ein Spieler aus nicht sportlichen Gründen nicht durchsetzen kann. Bitte richtig verstehen: Es ist keine Polizisten-Rolle und Jens ist auch nicht der Butler der Spieler, er soll unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Wir erziehen die Spieler nicht zur Unselbständigkeit, aber wenn ein 20-Jähriger zum ersten Mal im Ausland ist, braucht er Support. Manchmal hat die Frau Heimweh, oder sie ist unglücklich, weil sie ihren Sport in Stuttgart nicht ausüben kann. Es gibt so viele Themen, die Spieler davon abhalten, sich auf ihren Job als Fußballer konzentrieren zu können. Wir wollen eine gewisse Wärme schaffen. Und wenn ein Spieler mal geht und erzählt, wie familiär es beim VfB zugeht, schadet uns dies sicher nicht. Die familiäre Atmosphäre hat nämlich nichts mit der Größe eines Klubs zu tun.