"Der VfB muss wie ein Start-up denken"

Florian Regelmann
12. Mai 201711:48
Jan Schindelmeiser arbeitet seit Juli 2016 für den VfB Stuttgartgetty
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Der VfB Stuttgart steht vor entscheidenden Wochen in der Vereinsgeschichte. Der Aufstieg in die Bundesliga steht kurz bevor, danach soll die Ausgliederung beschlossen werden und als Basis für ambitionierte Ziele in der Zukunft dienen. SPOX-Chefredakteur Florian Regelmann traf VfB-Boss Jan Schindelmeiser zum Interview in Stuttgart. Im Gespräch erklärt der 53-Jährige, wie er den VfB umbaut. Themen: Sportliche Philosophie, Daten-Offensive, Weltstands-Analyse.

SPOX: Herr Schindelmeiser, Sie stehen mit dem VfB ganz dicht vor dem Aufstieg in die Bundesliga, die Euphorie im Umfeld ist riesig. Ein riesiger Wandel im Vergleich zur Negativität, die herrschte, als Sie Ihre Aufgabe in Stuttgart übernommen haben.

Jan Schindelmeiser: Ohne jede Frage. Als ich nach Stuttgart kam, gab es viele Menschen im Verein, die tief verletzt waren nach der Negativ-Entwicklung der vergangenen Jahre. Der Abstieg in die 2. Liga war der negative Höhepunkt und für einen Verein wie den VfB, mit dieser Tradition, den Werten und dem Stolz auf die Erfolge der Vergangenheit, ein schwer verdauliches Thema. Wenn Du den VfB im Herzen trägst, musst Du erstmal verarbeiten, dass Du plötzlich in der zweiten Liga spielst. Und dann noch wie gegen Heidenheim sogar im eigenen Stadion verlierst. Gleichzeitig habe ich aber auch sofort eine Trotzreaktion gespürt, die uns geholfen hat, wieder Hoffnung in die Zukunftsfähigkeit des Klubs aufzubauen.

SPOX: Hoffnung in die Zukunft kann man nur aufbauen, wenn man sicherstellt, dass Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Was hat Ihre Analyse ergeben, warum der VfB überhaupt abgestiegen ist?

Schindelmeiser: Bei so einer Analyse besteht generell immer die Gefahr, dass man sich zu sehr in der Vergangenheit abarbeitet und sehr schnell nach Schuldigen sucht. Statt zu schauen, welche Prozesse es zu optimieren gilt. Bei der Frage, wie wir es besser machen können, haben wir sicher grundsätzliche Fehler im System festgestellt. Strukturell, organisatorisch, kulturell. Wir mussten dem VfB wieder eine Philosophie und eine neue Ausrichtung geben. Da geht es natürlich konkret um die Kaderstruktur oder das Trainerteam, aber auch insgesamt um die Kultur. Wie entwickeln wir das Selbstbewusstsein und die Überzeugung, dass wir uns in den nächsten Jahren den etablierten Klubs wieder nähern? Wir gehören aktuell nicht zu den etablierten Klubs, wir sind ein Zweitligist. Aber wir wollen da wieder hin. Das geht nur mit klaren konzeptionellen Überlegungen, die konsequent gelebt und umgesetzt werden. Auch mit dem Wissen, dass nicht alle Entscheidungen richtig sein werden und dass wir auch mal einen Umweg gehen müssen. Das ist aber überhaupt kein Problem, solange wir unseren Plan verfolgen und das Denken und Handeln im gesamten Verein synchronisieren. Zum Beispiel muss im fußballerischen Bereich klar sein, welche Idee unserem Spiel zugrunde liegt und sie muss mit der Arbeit im Nachwuchsleistungszentrum abgestimmt sein. Ansonsten sind wir nicht in der Lage, die richtigen Spieler zu verpflichten. Der Abstieg war eine gute Gelegenheit, mit der Neuausrichtung zu beginnen, aber es war auch schwer umzusetzen.

SPOX: Wegen der finanziellen Situation?

SPOX-Chefredakteur Florian Regelmann traf VfB-Boss Jan Schindelmeiser zum Interview in Stuttgartgetty

Schindelmeiser: Man muss es sich vor Augen führen, dass dem VfB durch den Abstieg in etwa 50 Millionen Euro verloren gegangen sind. Wenn wir die Jahre davor, als man dem Abstieg ein paar Mal noch von der Schippe gesprungen ist, einbeziehen, sind wir schnell bei einer Summe in der Region von 100 Millionen Euro. Dieses Geld kommt auch nicht zurück, wenn wir den Sprung in die Bundesliga schaffen, das Geld ist weg. Wenn wir jetzt wissen, wie hoch die Anspruchshaltung in der Region zu Recht ist, dann sind wir schnell beim Thema der Ausgliederung. Es ist ein fast unumgänglicher Prozess, wenn der VfB ernsthaft ambitioniert sein will. Wir wollen ambitioniert sein, aber gleichzeitig bescheiden auftreten. Darin sehe ich auch keinen Widerspruch.

SPOX: Obwohl es auch in dieser Saison schwierige Phasen gab, ist die Unterstützung der Fans in Stuttgart bemerkenswert. Dass der VfB den 2.Liga-Zuschauerrekord des 1. FC Köln brechen wird, ist nur ein Zeichen. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Schindelmeiser: Ich habe sehr schnell die große Liebe der Menschen zum Verein gespürt. Ausdruck ihrer Liebe ist nicht zuletzt der Gang ins Stadion zu unseren Spielen. Wir werden die Saison mit einem Schnitt von über 50.000 Zuschauern abschließen. Das ist Wahnsinn, auch wenn man bedenkt, dass wir viele Montagsspiele hatten und viele Fans von weiter weg anreisen. Aber es zeigt nur, welche Bedeutung der VfB für seine Fans hat. Wir würden uns nichts sehnlicher wünschen, als diesen Menschen etwas von dieser Zuwendung zurückgeben zu können und der traditionellen Bedeutung des Vereins mit Bundesliga-Fußball wieder gerecht zu werden. Mit Ergebnissen auf dem Platz, aber auch mit der Art und Weise, wie unsere Mannschaft Fußball spielt. Die Menschen sollen auf dem Heimweg sagen: Das ist unser VfB, das war klasse, damit kann ich mich identifizieren. Ich glaube, dass unsere Fans auch schnell erkannt haben, dass wir ehrlich mit der Situation umgehen. Wir haben nie gesagt, dass der VfB einfach nur Kraft Namens in die Bundesliga gehört. Niemand gehört Kraft Namens in die Bundesliga. Es ist immer das Ergebnis harter Arbeit und der nötigen Punkte.

SPOX: Sie haben die kulturellen und strukturellen Schrauben schon angerissen, an denen Sie gedreht haben. So wurde unter anderem ein Verhaltenskodex im Verein eingeführt. Sind die Dinge, die dort drin stehen, nicht selbstverständlich?

Schindelmeiser: Eigentlich schon, da haben Sie vollkommen Recht. Es hilft aber trotzdem, es aufzuschreiben und zu besprechen. Es im Falle der Fälle auch aus der Schublade holen zu können. Es eint, weil so jeder weiß, welche unsere Werte im Umgang miteinander sind. Es geht darum, eine Orientierung zu geben, aber natürlich reden wir auch über viele Selbstverständlichkeiten. Wir reden über Respekt im Umgang, ohne Rücksicht auf Religion, Hautfarbe oder Gesinnung. Wir reden über Ehrlichkeit. Niemand wird in unserem Haus dafür bestraft, wenn er die Wahrheit sagt. Wir brauchen intern kritische Stimmen und einen ehrlichen Austausch, wenn wir besser werden wollen.

SPOX: Wie sehr betrifft es vor allem auch die Spieler?

Schindelmeiser: Sehr. Wir wollen, dass sich unsere Spieler bewusst sind, welche Wahrnehmung und Bedeutung wir als VfB in der Gesellschaft genießen. Unsere Spieler haben einen Beruf, der viele Menschen interessiert und der als attraktiv betrachtet wird, deshalb haben sie aber keine größere Bedeutung. Sie haben einen sehr privilegierten und sehr gut bezahlten Beruf. Damit verbunden ist aber auch die Aufgabe, davon etwas zurückzugeben und sich im sozialen Bereich zu engagieren. Wir wollen kein Parallel-Universum zulassen. Zuletzt hatten wir eine große Aktion im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Blutkrebs, dort kämpfen Menschen um ihr Leben. Ich möchte, dass sich unsere Spieler auch mit diesen Themen auseinandersetzen. Der Werte-Kanon ist breit. Tradition spielt dabei natürlich auch eine große Rolle. SPOX

SPOX: 2018 wird der VfB 125 Jahre alt. Wie sehr kann man heutzutage überhaupt noch auf traditionelle Werte achten?

Schindelmeiser: Ich weiß, wie wichtig die traditionellen Werte beim VfB sind und natürlich wollen wir diese Werte auch verkörpern und leben. Die wunderbare Tradition ist ein hervorragendes Fundament, auf das wir ein modernes zukunftsorientiertes Gebilde setzen können. Auch müssen, wenn wir den Anforderungen in einem extrem harten Wettbewerb gerecht werden und erfolgreich sein wollen. Das eine schließt das andere nicht aus. Aber wir müssen mit deutlich knapperen Ressourcen nach vorne und einen anderen Weg gehen als die Klubs, die in den letzten Jahren wirtschaftlich deutlich erfolgreicher waren und sich deutlich vom VfB entfernt haben. Das kann man beklagen, tun wir aber nicht. Wir müssen schneller sein, kreativer - der VfB muss wie ein Start-up denken. Gleichzeitig benötigen wir sportliche Erfolge. Langfristig denken und kurzfristig gewinnen - an dieser Herausforderung wird sich im Fußball nichts ändern. Wirtschaftspsychologen sprechen von Beidhändigkeit, bei uns müsste man eigentlich von Beidfüßigkeit sprechen. (lacht) Wir müssen uns strukturell, personell und organisatorisch für die Zukunft ausrichten, aber am besten auch immer das nächste Spiel gewinnen. Wir jonglieren mit fünf Bällen und dürfen keinen fallen lassen.

SPOX: Sie haben seit Ihrem Amtsantritt auch im Umfeld des Teams einige neue Stellen geschaffen. So soll sich Jens Andrei als Players Relations Manager um die Spieler kümmern. Warum braucht es einen Kümmerer für hochbezahlte Profis?

Schindelmeiser: Wenn früher ein neuer Spieler kam, war es ja so, dass der erste Papierkram erledigt, bei der Wohnungssuche geholfen und dann noch einmal der Weg zum Training gezeigt wurde. Damit war die Integration so gut wie abgeschlossen. Das funktioniert so nicht. Gerade wenn wir junge Spieler zu uns holen und alle Voraussetzungen für sportlichen Erfolg schaffen wollen. Dann müssen wir uns auch entsprechend kümmern. Es wäre inkonsequent, viel Geld für neue Spieler auszugeben und an der Betreuung und Integration zu sparen.

SPOX: Was sind konkret die Aufgaben von Jens Andrei?

Schindelmeiser: Natürlich geht es um die klassischen Themen wie Wohnung, es geht aber auch darum zu schauen, wie der Tagesablauf bei einzelnen Spielern überhaupt aussieht. Was passiert da zwischen den Trainingseinheiten? Oder an einem freien Tag? Was passiert, wenn er vielleicht nicht gleich von Anfang an spielt und sich nicht durchsetzen kann? Sitzt er alleine zuhause und grübelt? Die Freundin oder die Eltern sind vielleicht auch nicht da. Das wollen wir gerne wissen und ihn begleiten. Auch die Familien der Spieler einbeziehen und eine Nähe schaffen, indem sich die Familien treffen und Beziehungen aufbauen. Um es auf den Punkt zu bringen: Es darf uns nie passieren, dass sich ein Spieler aus nicht sportlichen Gründen nicht durchsetzen kann. Bitte richtig verstehen: Es ist keine Polizisten-Rolle und Jens ist auch nicht der Butler der Spieler, er soll unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Wir erziehen die Spieler nicht zur Unselbständigkeit, aber wenn ein 20-Jähriger zum ersten Mal im Ausland ist, braucht er Support. Manchmal hat die Frau Heimweh, oder sie ist unglücklich, weil sie ihren Sport in Stuttgart nicht ausüben kann. Es gibt so viele Themen, die Spieler davon abhalten, sich auf ihren Job als Fußballer konzentrieren zu können. Wir wollen eine gewisse Wärme schaffen. Und wenn ein Spieler mal geht und erzählt, wie familiär es beim VfB zugeht, schadet uns dies sicher nicht. Die familiäre Atmosphäre hat nämlich nichts mit der Größe eines Klubs zu tun.

SPOX: Sie denken aber nicht nur familiär, sie schauen sich auch genau um, welche Felder generell im Sport immer mehr an Bedeutung gewinnen, wie das Thema Daten. So gibt es beim VfB einen neuen Bereich "Daten Management und Analyse". Dafür haben Sie extra einen Experten aus den USA engagiert. Warum?

Schindelmeiser: Es ist ja kein Geheimnis, dass das Thema Daten und Digitalisierung generell immer mehr an Bedeutung gewinnt. Schauen Sie in die USA und wie das Thema dort im Baseball, Football oder Basketball behandelt wird. Es geht darum, wie präzise man heute Daten erfassen und wie man sie so interpretieren kann, dass daraus klare KPIs entstehen. Wie können wir aufgrund von Daten zum Beispiel eine größere Sicherheit bei der Verpflichtung von Spielern herstellen? Wir haben jetzt schon riesige Datensätze zur Verfügung, aber es geht noch um die Präzision. Die klassischen Kategorien wie Zweikampfquoten und gelaufene Kilometer sind Banalitäten. Es geht mehr in die Tiefe, um Raum-Zeit-Veränderungen. Auch darum, Daten zueinander in Beziehung zu setzen, um zu sehen, wie wertvoll ein Spieler für eine Mannschaft ist. Je mehr wir dort eintauchen, desto mehr befinden wir uns nicht mehr nur auf dem Fachgebiet eines Fußballlehrers. Wir brauchen innovative Menschen, beispielsweise von Amazon oder Ebay. Wenn ich diese Expertise dann mit Fußball-Know-how verbinde, wird es spannend und es entstehen interessante Themenfelder.

SPOX: Die Frage ist, ob der Typ von Amazon gefüttert von der Maschine am Ende vielleicht die besseren Spieler verpflichten würde ...

Schindelmeiser: Wer weiß. (lacht) Nein, die Wissenschaft soll uns nicht dominieren, sie soll uns unterstützen. Sie soll das, was wir sehen, klarer machen. Helfen, schnellere Entscheidungen zu treffen. Auch überprüfbarere Entscheidungen zu treffen. Natürlich spielt die subjektive Bewertung am Ende die entscheidende Rolle, aber wir sollten die Hilfe in Anspruch nehmen, um objektivierbarere und damit hoffentlich bessere Entscheidungen zu treffen. Aber Sie haben Recht: Lassen Sie uns das mal zehn bis 15 Jahre machen, die Datenfülle auswerten und danach abgleichen. Welche Vorhersage führt eher zum Ziel? Die von den drei Scouts? Oder doch eher die von der Maschine? Das ist eine spannende Frage. Aber ich möchte Personalentscheidungen keiner Maschine überlassen. Ich glaube auch nicht, dass ich damit durchkomme, wenn ich bei einer falschen Entscheidung sage, der Computer in meinem Büro ist schuld. (lacht) Die Verantwortung liegt immer bei den Menschen.

SPOX: Hört sich so an, als ob der VfB da eine Art Vorreiter-Rolle spielen will.

Schindelmeiser: Es wird sicher nicht die letzte Personalie auf diesem Gebiet gewesen sein. Wir sehen jetzt schon Effekte und an spannenden Themengebieten mangelt es nicht. Wir haben Drohnen im Trainingsbetrieb getestet, werden sie punktuell auch einsetzen. Im Bereich Leistungsdiagnostik und Trainingssteuerung ist noch Luft nach oben. Vor dem Hintergrund, wie extrem sich der Fußball gerade hinsichtlich Schnelligkeit weiterentwickelt hat und es auch in den nächsten Jahren noch weiter tun wird, ist das Thema Druck interessant. Zeitdruck, Raumdruck, Gegnerdruck - gerade die Spieler im Zentrum des Feldes werden über immer bessere kognitive Fähigkeiten verfügen müssen. Hier wollen wir Lösungsansätze entwickeln. Dann sind wir auch schnell beim Thema Virtual Reality und der Nutzung von Datenbrillen. Wie kann ich mit Hilfsmitteln, innerhalb von nur zehn Minuten bestimmte Entscheidungsmuster 50 Mal trainieren? Auch wir sind bestrebt, uns auf den wesentlichen die Leistung bestimmenden Feldern, einen kleinen Wettbewerbsvorteil zu erarbeiten, wenn wir schnell genug sind. Dafür brauchen wir Experten, die sich bei diesen Fragen viel besser auskennen als wir. Aber eines ist auch klar: Egal wie spannend diese Materie ist, wir dürfen uns darin nicht verlieren. Es hat alles keine wirkliche Relevanz für den Ausgang eines Spiels. Da bleibt das einzige Kriterium, ob Du den Ball ins gegnerische Tor bekommst und aus deinem eigenen heraushalten kannst. SPOX

SPOX: Neben dem Bereich Daten haben Sie noch das Gebiet "Weltstands-Analyse" ins Leben gerufen. Was können wir uns darunter vorstellen?

Schindelmeiser: Es geht einmal darum, wirklich den Daumen am Puls zu haben im Weltfußball. Was sind die Trends bei großen internationalen Turnieren? Wir erinnern uns: Bei der WM in Brasilien war die Dreierkette der Chilenen plötzlich ein Thema, mit dem andere Teams nicht klargekommen sind. Wie schaffen es Spieler, Positionen in bestimmten Systemen idealtypisch zu bekleiden und Spielsituationen zu lösen? Wie verhalte ich mich als Sechser idealtypisch in der Spieleröffnung? Im Pressing? Wir suchen nach idealtypischen Verhaltensweisen, die dann wieder als Vorbild für unsere jungen Spieler dienen können. Oftmals ist es so, dass Innovation nicht bei den besten Teams entsteht, sondern bei denen, die einen größeren Leidensdruck haben und sich kreativere Lösungen ausdenken müssen, wenn sie die Großen ärgern wollen. Das gilt auch für uns. Wir wollen innovativ sein. Wir wollen gern auch mal Rule-Breaker spielen, einen anderen Weg gehen. Dafür müssen wir wissen, was auf der Welt passiert im Fußball. Aber verstehen Sie mich bitte richtig: Andere Vereine arbeiten auch richtig gut und innovativ. Und wenn wir da mithalten wollen, müssen wir uns etwas einfallen lassen. Denn finanziell können wir den Abstand so schnell nicht aufholen.

SPOX: Jetzt haben wir viel über verschiedene Positionen und Felder gesprochen, die wichtigste Personalie bleibt aber der Trainer. Die Verpflichtung von Hannes Wolf war ein gewisses Risiko, scheint sich aber zu hundert Prozent auszuzahlen. Was zeichnet Ihren Coach aus?

Schindelmeiser: Hannes Wolf hat nicht nur die unbedingt notwendige Fachkompetenz für den Job, er hat vor allem die Persönlichkeit. Er hat ein sympathisches Wesen, aber auch die Fähigkeit und Eloquenz, seine Gedanken klar zum Ausdruck zu bringen. In einer bemerkenswerten Offenheit und Ehrlichkeit. Er scheut sich nicht davor, Dinge beim Namen zu nennen und auch harte Entscheidungen zu treffen - und damit auch zu "verletzen". Als Trainer musst Du jede Woche Spieler enttäuschen, sie dann aber trotzdem auf der Reise mitzunehmen, ist eine Kunst. Diese beherrscht er hervorragend, weil er authentisch ist und gerecht. Es gibt Trainer, die behaupten, dass Trainingsleistungen wichtig sind, aber dann doch immer die gleichen spielen lassen. Das ist bei Hannes anders und das schafft Vertrauen. Er bringt alles mit, was man als Trainer braucht, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Ich würde mir wünschen, dass es der Anfang einer großen Trainerkarriere beim VfB ist. Sie haben gesagt, dass es ein gewisses Risiko für uns war. Das stimmt, aber zum einen war es auch für ihn ein Risiko und zum anderen war es viel mehr Chance als Risiko. Wir konnten ja nicht sagen, dass wir wieder der DNA des Klubs gerecht werden und uns dazu bekennen wollen, auf junge Spieler zu setzen, und dann einen Trainer holen, der nur mit 30-Jährigen arbeiten will. Das hätte wenig Sinn ergeben. Hannes Wolf passt perfekt zum VfB Stuttgart. SPOXspox

SPOX: Sie haben die Philosophie und Vision schon thematisiert. Wie ein VfB-Junge wie Timo Werner jetzt in Leipzig durchstartet, so etwas soll es in Zukunft nicht mehr geben, oder?

Schindelmeiser: Im Fall von Timo Werner finde ich es nüchtern betrachtet gar nicht so schlimm, wie es gelaufen ist. Es ist doch großartig, was der Junge in Leipzig für eine Saison spielt. Wahrscheinlich war es für ihn genau der richtige Schritt. In Stuttgart war er der Benjamin aus dem eigenen Stall, der immer als Jungendspieler wahrgenommen wurde. Jetzt blüht er in einem neuen Umfeld auf, löst sich auch vom Elternhaus und macht eine tolle Entwicklung. Wir müssen auch klar sehen, dass dem VfB unter anderem der Verkauf von Timo geholfen hat, die Einnahmeverluste zu kompensieren und die Lizenz zu bekommen. Es ist nicht so, als ob uns die Investition in die Ausbildung nichts gebracht hätte. Sie hat uns geholfen, den Klub am Leben zu halten. Wenn wir darüber sprechen, wo wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren sein wollen, dann setzen wir natürlich den Fokus auf unsere eigenen Jungs aus der Region. Wir wollen Jungs aus Stuttgart ausbilden und in die erste Mannschaft hochbringen, am liebsten aus Bad Cannstatt. Darauf ist alles ausgerichtet, das ist das herausragende Ziel. Marc Kienle, der in meinem Ressort für das Nachwuchsleistungszentrum zuständig ist, ist der Interessenvertreter dieser Jungs und muss dafür kämpfen, dass wir nur Spieler von außen holen, wenn diese klar besser sind als unsere eigenen Talente.

SPOX: Aktuell tut sich der VfB im Nachwuchs aber etwas schwerer, die U19 hat gerade mal so den Klassenerhalt geschafft.

Schindelmeiser: Es stimmt, dass die Pipeline aktuell nicht so prall gefüllt ist. Aber auch das ist völlig normal, diese Wellen durchlebt jeder Klub. Wenn man sich die Kader in der Bundesliga und 2. Liga anschaut, dann stellt man fest, dass der VfB der Verein ist, der im Vergleich die meisten Spieler ausgebildet hat. Das spricht für die Qualität der Ausbildung. Bei der Zertifizierung haben wir zudem auch wieder drei Sterne bekommen. Das heißt nicht, dass wir keine Probleme haben. Durch die negative Entwicklung hat auch die Kraft im Nachwuchs nachgelassen. Die Mittel standen nicht mehr so zur Verfügung, außerdem haben den Verein Leute verlassen, die diesen Bereich über eine lange Zeit geprägt haben. Das mussten wir erstmal kompensieren. Jetzt ist das Gebilde aber wieder stabil. Was fehlt, sind die infrastrukturellen Mittel, um wieder auf ein konkurrenzfähiges Niveau zu kommen. Insbesondere bei den renovierungsbedürftigen Plätzen haben wir großen Nachholbedarf im Vergleich zu den Vereinen, die in den vergangenen Jahren neue Zentren errichtet haben. Die Bagger stehen in den Startlöchern, wir müssen sie jetzt nur in Bewegung setzen.

SPOX: Womit wir endgültig beim Thema Ausgliederung sind. Am 1. Juni entscheidet sich die Zukunft des Vereins. Sie brauchen 75 Prozent der Stimmen Ihrer Mitglieder. Sollte ein Ja kommen, hat die Daimler AG bereits im Falle eines Aufstieges eine sofortige Zahlung von 41,5 Millionen Euro für eine Beteiligung von 11,75 Prozent an der AG angekündigt. Was würde es bedeuten, wenn der VfB kein Go bekommt von seinen Mitgliedern?

Schindelmeiser: Vorneweg lassen Sie mich bitte festhalten, dass unsere Mitglieder der Souverän sind. Egal welche Entscheidung am Ende getroffen wird, haben wir diese zu respektieren. Aber unsere Mitglieder müssen wissen, dass sie eine hohe Verantwortung haben. Es geht jetzt um die Zukunft des Klubs und um die Frage, ob wir uns in einem extrem anspruchsvollen Wettbewerb behaupten und langfristig wieder eine exponiertere Rolle einnehmen können. Oder eben nicht. Ich weiß, dass unsere Fans davon träumen, irgendwann auch mal wieder internationalen Fußball in Stuttgart zu erleben. Diese Träume sind legitim, sie schaffen ja auch Fantasie und Hoffnung. Wir stellen uns diesen Wünschen und Träumen und sagen ganz deutlich, dass wir sie teilen. Noch sind wir aber in der 2. Liga. Natürlich wollen wir uns nach einem möglichen Aufstieg mittelfristig wieder nach oben orientieren. Wir stehen für Bescheidenheit, weil wir wissen, aus welcher Situation wir kommen und wie hart es ist, um die Rückkehr in die Bundesliga zu kämpfen. Gleichzeitig wollen wir aber auch unsere Ambitionen unterstreichen, den Erwartungen an einen Verein wie dem VfB gerecht werden. Nur frage ich Sie, wie soll das ohne die entsprechenden finanziellen Mittel als Basis gehen? Ich kann Ihnen die Zahlen sagen.

SPOX: Bitte.

Schindelmeiser: Wenn wir Bayern München, die einen Personaletat von deutlich über 200 Millionen Euro haben, außen vor lassen, dann landen wir bei einer Größenordnung von 100 Millionen Euro. Das sind die Etats, die von den Klubs bewegt werden, die sich dauerhaft um die Plätze im oberen Tabellendrittel der Bundesliga streiten.

SPOX: Freiburg schafft es in dieser Saison mit deutlich weniger Geld.

Schindelmeiser: Korrekt, Ausreißer nach oben durch Mannschaften wie Freiburg, Augsburg oder Mainz werden immer möglich sein. Wir wollen nicht, sollte uns der Aufstieg gelingen, auch noch in fünf Jahren den Klassenerhalt als Ziel ausgeben müssen. Wir wollen aus Überzeugung sagen können, dass wir den realistischen Anspruch haben, wieder in andere Regionen zu kommen. Unser aktueller Status ist uns bewusst: Ohne eine Ausgliederung sind wir finanziell nahezu chancenlos. Wir haben ein klares Ziel, eine verbriefte und wieder gelebte Vereinsphilosophie sowie konzeptionelle und inhaltliche Vorstellungen, aber wir brauchen dafür einen Anschub. Das große Schwungrad VfB Stuttgart, das nahezu zum Stillstand gekommen ist, muss wieder in Bewegung gesetzt und beschleunigt werden. Es ist ein Glücksfall, dass wir in Daimler einen Partner aus der Region haben. Ein Unternehmen, dessen Konzernzentrale aus dem Fenster zu sehen ist. Ein Partner, der bei der Gründung des Vereins schon dabei war und jetzt bereit ist, uns stärker zu unterstützen, weil er sich total mit dem Klub und den Menschen aus der Region identifiziert und unsere Vision teilt. Ein Ankerpartner, der als Vorbild für andere Unternehmen aus der Region dienen könnte. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass unsere Mitglieder diese Vorlage nicht nutzen und diese großartige Chance nicht erkennen, sondern sagen: Nein, das wollen wir nicht, wir bleiben lieber auf dem Niveau, auf dem wir jetzt sind. Am Ende geht es doch um die Wettbewerbsfähigkeit. Und wir erhöhen unsere Erfolgswahrscheinlichkeit enorm. Sportlich und wirtschaftlich. SPOX

SPOX: Wie stehen Sie in dem Zusammenhang denn zur viel diskutierten 50+1-Regelung und Ihrer möglichen Abschaffung?

Schindelmeiser: Wir als VfB Stuttgart streben einen Fall dieser Regelung sicher nicht an. Ich will unseren Fans eher zurufen: Gebt uns bitte die Möglichkeit, damit wir als Traditionsverein stark genug sind, um uns auch gegen die Wettbewerber durchzusetzen, die auf unsere Werte keine Rücksicht nehmen wollen. Bei uns geht es schlicht und ergreifend nur darum, eine Tochtergesellschaft zu gründen, von der maximal 24,9 Prozent der Anteile an vertrauensvolle Partner gehen, die uns die nötige Anschubfinanzierung geben. Als Eigenkapital, ohne Zinsen, ohne Rückzahlungsverpflichtung. Wir haben hier beim VfB und in der Region eine ideale Konstellation, die sich viele Klubs in Deutschland wünschen würden.

SPOX: Sie wirken beim VfB wieder wie in Ihrem Element. Bevor Sie nach Stuttgart gekommen sind, waren Sie sechs Jahre raus aus dem Profigeschäft. Eine willkommene Auszeit?

Schindelmeiser: Sie setzen Profifußball mit Verein gleich. Der Fußball bietet aber viel mehr Facetten. Ich habe mich schon früh, während meines Studiums und meiner aktiven Zeit bei Göttingen 05, unternehmerisch betätigt. Fühle mich grundsätzlich auch als Unternehmer. So auch die zurückliegenden Jahre, in der strategischen Beratung von professionellen Sportorganisationen und in der Suche nach dem passenden Personal mit Schwerpunkt Fußball. Ich habe aus einer neutralen Sicht unheimlich viele Spiele gesehen und wertvolle Kontakte knüpfen können. Von diesem Netzwerk und dem Überblick profitiere ich derzeit sehr.

SPOX: Warum hat es aber so lange gedauert, bis man Sie wieder an vorderster Front gesehen hat? Hat die Zeit in Hoffenheim schon nachgewirkt?

Schindelmeiser: Hoffenheim war eine extrem spannende Abenteuerreise mit großen Gestaltungsspielräumen. Von der Regionalliga bis - kurzzeitig - an die Spitze der Bundesliga, dazu die parallelen Projekte mit dem Trainingszentrum und Stadion. Wir haben in einem Jahr in drei unterschiedlichen Stadien gespielt (Hoffenheim, Mannheim, Sinsheim) - das war schon krass. Wir haben als Team großartig zusammengearbeitet. Gut und vor allem gern. Beseelt von dem Wunsch - gemeinsam - nach oben zu kommen. Dabei hat niemand auf die Uhr geschaut. Ich bin sehr dankbar für diese Erfahrung.

SPOX: Es hätte sicher Möglichkeiten gegeben für Sie nach dem Ende in Hoffenheim.

Schindelmeiser: Es gab schon während der Zeit in Hoffenheim erste Anfragen, auch aus dem Ausland. Für mich war aber schnell klar, dass nach diesen intensiven Jahren eine Zeit der Reflexion sicher nicht schaden kann. Außerdem gab und gibt es neben dem Fußball noch die eine oder andere Leidenschaft. Die eine ist meine Frau. (lacht) Ich hatte das große Glück, in der Zeit nach Hoffenheim eine wunderbare Frau kennenlernen zu dürfen. Dass ich zum zweiten Mal in meinem Leben nach dem Tod meiner Frau Bettina einen Menschen treffen würde, mit dem ich alt werden möchte, betrachte ich als großes Geschenk. Diese frische Beziehung wollte ich nicht gefährden. Und der Profi-Vereinsfußball ist eine hochgradige Gefährdung jeder Beziehung. (lacht) Ich bin sehr dankbar, dass meine Frau meine Aufgabe beim VfB mitträgt. Sie hatte die Anfragen von Klubs in den letzten Jahren ja auch registriert und kannte die Vereine, bei denen ich ins Grübeln gekommen wäre.

SPOX: Sie sollen auch eine große Passion für Autos haben.

Schindelmeiser: Richtig, die zweite Leidenschaft ist - besonders - alte Autos. Ich habe mir einen Jugendtraum erfüllt und zusammen mit Freunden einen nunmehr 47 Jahre alten Porsche 911 restauriert. In einem unvorsichtigen Moment kamen noch zwei historische Porsche-Rennautos hinzu, die ebenfalls nach viel Aufmerksamkeit verlangten. (lacht) Dies alles ließ sich nur mit einer selbstständigen Tätigkeit verbinden und wäre in einer Vereinsfunktion nicht möglich gewesen.

SPOX: Und? Fährt der Porsche?

Schindelmeiser: Natürlich fährt er. Und wie. (lacht) Es war eine wundervolle Erfahrung. Auch mal etwas mit den Händen zu machen und am Ende ein greifbares Ergebnis zu sehen. Wenn man wie wir überwiegend mit dem Kopf arbeitet, zumindest glauben wir das ja (lacht), ist das etwas Besonderes. Ich habe mich dann immer gefragt, ob ich bereit bin, diese Freiheit aufzugeben. Es war klar, dass dafür eine außergewöhnlich reizvolle Aufgabe kommen muss und die anderen Projekte abgeschlossen sein müssen. Mit dem VfB kam sie. Und - wo sonst kann man die Leidenschaft für Autos und Fußball besser verbinden als hier.

SPOX: Sie mögen also extreme Herausforderungen.

Schindelmeiser: Ja, durchaus. Die Skepsis der Menschen gegenüber dem VfB Stuttgart nach dem Abstieg war deutlich spürbar. Deshalb war uns immer klar, dass wir Vertrauen zurückgewinnen und erst einmal mit Ergebnissen überzeugen müssen, bevor wir darüber sprechen, was wir in Zukunft vorhaben. Nicht andersherum. Es bereitet mir große Freude, den eingeschlagenen Weg beim VfB mitzugestalten. Vor allem auch aufgrund des Teams. Besser der Teams. Die Zusammenarbeit ist klasse. Ich möchte mich jeden Tag auf die Menschen im Büro freuen können. Richtig gut und erfolgreich kann die Zusammenarbeit nur dann sein, wenn sie mit einer gemeinsamen Passion und Grundüberzeugung unterlegt ist. Nur so entsteht die nötige Energie. In Detailfragen kann und muss man auch mal unterschiedlicher Auffassung sein und nach den besten Lösungen ringen. Aber wenn man sich für einen Weg entschieden hat, sollte jeder vorbehaltlos hinter der Entscheidung stehen. Das klappt bei uns hervorragend und ist der Schlüssel dafür, dass wir auch Rückschläge in dieser Saison gut überstanden haben und auch in Zukunft meistern werden.

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