Am Boden, gefrustet, enttäuscht, skeptisch. So beschrieb Jonas Boldt den Verein, den er bei seinem Amtsantritt Ende Mai vorgefunden hatte. Der 37-Jährige hat sich eine Herkulesaufgabe vorgenommen: Er will den Traditionsklub von der Elbe wieder in allen Bereichen erstklassig machen.
Allerdings sieht er ungeachtet der schlechten Stimmung nach dem verkorksten Vorjahr mehr Chancen als Risiken. "Ich hatte beim HSV von Anfang an das Gefühl, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, dort einzusteigen und etwas bewegen zu können", sagte der neue Sportchef des HSV im Gespräch mit SPOX und DAZN.
Daher freut er sich laut eigener Aussage auf die Herausforderung - auch wenn er weiß, auf was er sich eingelassen hat. "Es ist nicht einfach umzusetzen, weil die Rahmenbedingungen mit der 2. Liga und wirtschaftlichen Engpässen nicht ganz so rosig sind", erklärte er.
Das größte Problem sei aber nach wie vor die hohe Erwartungshaltung. "Man hat dort nicht die Zeit wie in anderen Vereinen, um etwas zu entwickeln, sondern muss Ergebnisse liefern. Das ist die Schwierigkeit", sagte Boldt.
Boldt erklärt Transferpolitik: HSV setzt wieder auf mehr Routine
Keine Zeit zum Beispiel, um Spieler zu entwickeln. Das spiegelt sich in der jüngsten Transferpolitik der Rothosen wider, die momentan im Trainingslager in Kitzbühel weilen. Mit Patric Pfeiffer (19 Jahre, Darmstadt), Marco Drawz (20, Hannover), Morten Behres (22, Magdeburg), Finn Porath (22, Kiel), Aaron Opoku (20, Rostock) und Jann-Fiete Arp (19, FC Bayern) hat der HSV in dieser Transferperiode sechs Spieler aus dem eigenen Nachwuchs abgegeben und dafür (Zweitliga-)erfahrene Profis wie Sonny Kittel oder Ewerton verpflichtet.
"Man sollte nicht nur Talente in den Reihen haben, sondern auch eine Homogenität in der Truppe. Eine Truppe, die zusammen in eine Richtung geht und Erfahrung mitbringt", erklärte Boldt die Rückkehr zu mehr Routine im Kader. Seiner Meinung nach sollte die Qualität im Kader reichen, um "automatisch oben mitzuspielen" - solange die Spieler die Qualität abrufen. Dafür ist mit Dieter Hecking ein erfahrener Trainer zuständig, den Boldt in einer seiner ersten Amtshandlungen verpflichtete.
"Der Austausch mit dem Trainerteam ist sehr gut. Wir haben schnell gemerkt, dass wir in die gleiche Richtung arbeiten wollen. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass es funktioniert", so Boldt. Weitere personelle Veränderungen drängen sich seiner Meinung nach daher nicht auf: "Wir werden die Mannschaft und den Markt weiter beobachten, ohne uns unter Druck zu setzen."
HSV-Neuzugänge: Mit Erfahrung zum Aufstieg?
Spieler | Position | Alter | Abgebender Verein | Ablösesumme | Spiele in 1. und 2. Liga |
David Kinsombi | ZDM | 23 | Holstein Kiel | 3 Mio. Euro | 79 |
Ewerton | IV | 30 | 1. FC Nürnberg | 2 Mio. Euro | 70 |
Tim Leibold | LV | 25 | 1. FC Nürnberg | 1,8 Mio. Euro | 102 |
Berkay Özcan | OM | 21 | VfB Stuttgart | 1,5 Mio. Euro | 56 |
Daniel Heurer Fernandes | TW | 26 | SV Darmstadt 98 | 1,3 Mio. Euro | 82 |
Jan Gyamerah | RV | 24 | VfL Bochum | ablösefrei | 74 |
Lukas Hinterseer | ST | 28 | VfL Bochum | ablösefrei | 150 |
Sonny Kittel | OM | 26 | FC Ingolstadt | ablösefrei | 135 |
Jeremy Dudziak | RV | 23 | FC St. Pauli | ablösefrei | 94 |
Adrian Fein | ZM | 20 | FC Bayern II | Leihe | 21 |
Jonas Boldt hat noch nicht mit Klaus-Michael Kühne gesprochen
Boldt muss schließlich auch die finanzielle Situation beim HSV berücksichtigen. Investor Klaus-Michael Kühne kündigte an, vorerst nicht mehr in den Verein investieren zu wollen, äußerte sich stattdessen spöttisch über sein Minusgeschäft mit dem Klub.
Der neue Sportchef hat bisher nicht mit Kühne gesprochen - ein Umstand, der vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Der aber auch zeigt, dass sich der HSV auf die Gegenwart konzentriert. "In erster Linie ging es darum, ein Trainerteam zusammenzustellen, am Kader zu arbeiten und Strukturen im Verein zu schaffen, damit wir vernünftig in die Saison starten können", erklärte Boldt.
Generell wolle er die finanzielle Gesundheit des Vereins nicht allein von Kühne abhängig machen, sondern von Menschen, "die dem Verein wohlgesonnen sind. Das sehe ich auf Strecke als großen Teil meiner Aufgabe: die Menschen zu überzeugen und auf unseren Weg mitzunehmen", sagte Boldt.
Jonas Boldt fordert Gleichgewicht zwischen Selbstbewusstsein und Demut
Ob der HSV diesen Weg kontinuierlich und in Ruhe gehen kann, wird sich zeigen. Die vergangene Saison hat erneut offenbart, wie schnell sich der Wind in Hamburg drehen kann. Nach der erfolgsversprechenden Hinrunde kehrte die Unruhe schon nach nur wenigen Rückschlägen zurück an die Alster - der sportliche Erfolg litt darunter.
Boldt nahm in seinen ersten Wochen beim HSV ein sehr interessiertes Umfeld wahr, das jedoch "stark in der Vergangenheit schwelgt". Es sei daher wichtig, das Gleichgewicht zwischen Selbstbewusstsein und Demut zu halten, um in Ruhe arbeiten zu können.