"Immer diese Geschichte mit dem Tiefpunkt und noch 'nem Tiefpunkt, dann gibt's noch mal 'nen niedrigeren Tiefpunkt. Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören."
Manch ein HSV-Fan wird angesichts der Blamage am Sonntag an Rudi Völlers Wutausbruch als DFB-Teamchef nach dem 0:0 auf Island im Jahr 2003 gedacht haben. Dass diese Worte mal auf den einst so stolzen Traditionsklub passen würden, hätte allerdings vor 17 Jahren niemand geahnt. Damals hatten die Hamburger die abgelaufene Saison als Vierter beendet und blieben auch in den nächsten Jahren in den oberen Tabellenregionen.
Doch seit dem Halbfinal-Aus im UEFA-Cup 2010, ausgerechnet gegen Erzrivale Werder Bremen und dann auch noch durch eine überdimensionale Papierkugel, ging es beim HSV bergab. Und ein Ende der Talfahrt ist nicht abzusehen. Dem Tiefpunkt des ersten Abstiegs aus der Bundesliga folgte vergangenes Jahr der nächste Tiefpunkt mit dem komplett unnötig verspielten Wiederaufstieg.
Und am Sonntag gab es frei nach dem Ex-Bremer Völler "noch mal 'nen niedrigeren Tiefpunkt": Die 1:5-Schmach gegen Dorfverein SV Sandhausen (15.000 Einwohner) - inklusive der größtmöglichen Demütigung des letzten Gegentreffers durch den Ex-Hamburger Dennis Diekmeier - war die größte Pleite in der langen und meist ruhmreichen Vereinsgeschichte.
HSV-Desaster: Individuelle Schwächen und fehlende mentale Stärke
So verpassten die wirtschaftlich fast allen anderen Rivalen hoch überlegenen Hanseaten zum zweiten Mal in Folge kläglich den Aufstieg, weil sie erneut an mangelnder Einstellung, individuellen Unzulänglichkeiten und fehlender mentaler Stärke scheiterten. Dass der HSV nicht mal mehr zur Lachnummer taugt, haben wir an dieser Stelle schon vor einer Woche festgestellt und müssen es daher nicht nochmal wiederholen.
Das Draufhauen auf die am Boden liegenden Hamburger übernehmen ohnehin andere, die daher nun auch reflexhaft den Rauswurf von Trainer Dieter Hecking und möglichst auch Sportvorstand Jonas Boldt fordern. Diesem Reflex ist der HSV aufgrund des äußeren Drucks in der Medienstadt Hamburg und des selbst auferlegten Drucks als potenzieller Bayern-Herausforderer seit dem Papierkugel-Drama 2010 in schöner Regelmäßigkeit nachgekommen: Seitdem gab es 16 Trainer und sieben Sportchefs. Nach jedem Rückschlag wurde der Übungsleiter ausgetauscht, meist gefolgt von Stühlerücken im Vorstand. Geändert aber hat sich danach: Nichts.
Hecking und Boldt haben ihr Können schon oft bewiesen
Es wäre also an der Zeit, dass der HSV versucht, die anhaltende Negativspirale zur Abwechslung mal mit einer Politik der ruhigen Hand zu beenden. Trotz der desaströsen Saison sollten Hecking und Boldt eine zweite Chance bekommen. Der eine hat in seiner Karriere oft genug bewiesen, dass er den Turnaround in kritischen Situationen schaffen kann, der andere in seiner nicht ganz so langen Laufbahn als Manager, dass er eine Mannschaft zusammenstellen kann.
Auch wenn der wirtschaftliche Spielraum aufgrund der Corona-Folgen und des anhaltenden Misserfolgs deutlich kleiner geworden ist, so ist der HSV dennoch allen Konkurrenten im Unterhaus finanziell und auch von der sportlichen Qualität her nach wie vor weit voraus. Sinnvolle Ergänzungen mit Zweitliga-erfahrenen und mental robusten Profis in allen Mannschaftsteilen könnten die fehlenden Puzzle-Teile für den Aufstieg sein. Nicht ohne Grund forderte der Ex-HSVer Rafael van der Vaart, trotz des Sandhausen-Debakels am Trainer festzuhalten und dafür der Mannschaft ein neues Gesicht zu geben, inklusive des Einbaus eigener Talente.
Gladbach, Köln und Frankfurt als HSV-Vorbilder
Vor allem aber muss endlich Ruhe einkehren - vielleicht die schwierigste Aufgabe in einem Klub, der seit Jahren von öffentlichkeitssüchtigen Wichtigtuern und Möchtegern-Experten in den Gremien zur eigenen Profilierung missbraucht wird. Hecking, Boldt und HSV-Präsident Marcell Jansen sollten sich stattdessen ein Vorbild an anderen Traditionsvereinen wie Frankfurt, Köln oder Gladbach nehmen, denen dank souveränen Klubbossen wie Fredi Bobic, Jörg Schmadtke oder Max Eberl die Bundesliga-Rückkehr gelang.
Wozu dagegen hektischer Aktionismus führen kann, zeigen die Beispiele 1860 München und 1. FC Kaiserslautern, die nach dem Bundesliga-Abstieg durchgereicht wurden und inzwischen wirtschaftlich abgetakelt in der dritten Liga dahindümpeln. Hier wurde nämlich der permanente Drang, mit dem raschen Wechseln von Trainern sowie Sportchefs und dem Einkauf zu teurer Transfer-Flops sofort wieder erstklassig zu werden, zum Bumerang. Dem HSV droht ein ähnliches Schicksal, wenn er seinen Kurs der vergangenen zehn Jahre nicht endlich korrigiert.