Winter 1982, Testspiel zwischen Minden und Knattspyrnufelag. Auf halblinks spielt bei den Isländern ein Mann, der die GWD-Deckung ein ums andere Mal narrt. "Vielleicht braucht der als Dämpfer einfach mal einen auf die Schnauze", denkt sich Piet Krebs.
Der Abwehrspezialist - abseits der Platte ein herzensguter Mensch, in seiner aktiven Zeit jedoch als "Schlächter von der Grugahalle" gefürchtet - fackelt nicht lange. Bei seinem Gegenspieler schlägt es am Kopf ein.
"Der Kerl schüttelt anschließend nur den Brummschädel und spielt ohne Meckern weiter. Wenige Minuten später schmerzt mein Kiefer - und dieser hundsgemeine Wikinger lächelt verschmitzt und verlässt schnell den Tatort. Mein spontaner Gedanke: Das ist einer", erzählt Krebs im Handball Magazin.
"Ein Handballer mit Haut und Haaren"
Ja, das ist einer, dieser Alfred Gislason. Schon als Spieler brachte er die ganze Palette mit. Hart im Nehmen, hart im Austeilen. Technisch versiert, einer der für den Handball lebt. Wenig später spielten Gislason und Krebs gemeinsam für TuSEM Essen, entwickelten eine bis heute andauernde Freundschaft und teilten auf Reisen das Zimmer.
Kiels Gegner Veszprem: Das Monster vom Balaton
"Während ich kurz vor der Bettruhe den Flaschenöffner und die Fernbedienung verwaltete, machte Alfred sich noch schnell Notizen von besonders guten Übungen und erfolgreichen Taktiken. Schon damals war klar: Der Typ wird seinen Weg gehen. Auch als Trainer. Ein Handballer mit Haut und Haaren. Und Herz", sagt Krebs.
Mit Essen wurde Gislason zwei Mal deutscher Meister, er lief 190 Mal für die isländische Nationalmannschaft auf. Noch wesentlich erfolgreicher sollte allerdings seine Zeit als Coach verlaufen.
Glücksfall Magdeburg
Nachdem Gislason in der Heimat bei KA Akureyri mehrere Jahre Erfahrungen gesammelt hatte, erinnerte man sich 1997 in Hameln an den knorrig wirkenden Mann von der Insel. Und Gislasons glorreiche Trainerkarriere in Deutschland - sie begann mit einer herben Enttäuschung.
Er stieg mit dem Klub aus der Stadt der Rattenfänger ab, verpasste den direkten Wiederaufstieg und wurde vor die Tür gesetzt. Im Nachhinein ein Glücksfall. Der SC Magdeburg ließ sich von den Misserfolgen nicht abschrecken, verpflichtete Gislason als ersten ausländischen Trainer in der Klubgeschichte und wurde unter seiner Leitung 2001 Meister und ein Jahr später Champions-League-Sieger.
Leicht wurde es dem begeisterten Züchter von seltenen Rosenarten aber auch in Magdeburg nicht gemacht. Ganz besonders ein Mann tat sich dabei hervor: Stefan Kretzschmar.
"King of Currywurst" auf Sauftour
"Als ich nach Magdeburg kam, musste ich erst einmal klar machen: Das ist nicht der SC Kretzschmar, das ist nicht der Klub des King of Currywurst. Er hat mir anfangs tierische Probleme bereitet", erinnert sich Gislason nur zu gut an das Verhalten des extrovertierten Linksaußen.
Kretzsche selbst gibt offen zu, nicht immer einfach gewesen zu sein. Besonders ist ihm eine Anekdote von einem Champions-League-Spiel auf Island in Erinnerung geblieben, als Kretzschmar und zwei weitere Spieler in Reykjavik am Vorabend der Partie auf Sauftour gingen. Selbstredend ohne Gislasons Einverständnis.
Alles halb so wild. Der nächtliche Ausflug des Trios war scheinbar unbemerkt geblieben, Kretzschmar brillierte am folgenden Tag und erzielte beim Sieg des SCM zwölf Tore. Gislason war zufrieden, analysierte das Spiel anschließend pflichtbewusst vor dem TV - fatalerweise mit isländischem Kommentar.
"In der 40. Minute sagte der Kommentator, als ich mein neuntes Tor gemacht hatte, dass meine Leistung doch verwunderlich sei. Schließlich habe er mich doch am Morgen um vier Uhr noch volltrunken in der Disco gesehen", so Kretzschmar. Gislason tauchte anschließend mit hochrotem Kopf in der Halle zum Training auf und machte seinem Ärger mit harten Worten Luft.
Beleidigungsstunden sind Vergangenheit
Dies tat Gislason als junger Trainer häufiger. Selbst bei weit weniger harten Fällen brannten dem "fauchenden Geysir" schon mal die Sicherungen durch. Nach verlorenen Spielen kam es vor, dass Gislason seine Spieler in so genannten "Beleidigungsstunden" regelrecht zusammenfaltete.
"Die Beleidigungsstunden gibt es nur noch ab und zu", kann der studierte Historiker längst selbst über seine einst zu aufbrausende Art lachen: "Früher habe ich meine Mannschaft direkt nach verlorenen Spielen kritisiert. Das mache ich schon länger nicht mehr. Ich war dann teilweise so emotional, dass ich viel zu weit gegangen bin."
Gislason war übertrieben ehrgeizig. Einer, der bereit war, für den Erfolg deutlich weiter als andere zu gehen. "Er gehörte der Sorte Spieler an, die mit gebrochenem Bein noch gespielt hätten", sagt Kretzschmar und berichtet, wie Gislason einmal von ihm verlangt hat, selbst mit einer äußerst schmerzhaften Bandscheibenvorwölbung aufzulaufen.
"Das war für mich wie Kreislaufprobleme", meint Gislason dazu. Wohl wissend, dass es nicht immer richtig und förderlich war, seine persönliche, teilweise extreme Haltung auch von seinen Spielern zu verlangen.
Die Ära THW
Irgendwann kam eine große Stärke Gislasons zum Vorschein. Er war bereit sich zu ändern, sich weiterzuentwickeln. Hart aber fair wurde immer mehr zu seinem Motto. Wahrscheinlich war es nur deshalb möglich, dass er nach einer erfolgreichen Zeit als Islands Nationaltrainer und beim VfL Gummersbach 2008 für eine kolportierte Ablösesumme von 700.000 Euro nach Kiel wechselte, um eine Ära zu prägen. Ein genialer Schachzug vom damaligen Manager Uwe Schwenker.
Gislason gelang das fast Unmögliche: Seinen legendären Vorgänger Noka Serdarusic teilweise vergessen zu machen. Fünf Meisterschaften, eine davon ohne jeglichen Punktverlust, vier Mal den Pokal und zwei Mal die Champions League haben die Zebras seit seiner Ankunft an der Förde gewonnen. Gislason war der erste Trainer überhaupt, der mit zwei verschiedenen Vereinen die Champions League geholt hat.
Dabei gelang es dem Hobbyangler, gleich mehrere große Mannschaften zu formen. Wenn sich - wie mehrfach geschehen - absolute Schlüsselspieler verabschiedeten, wurden neue Akteure geholt. Gislason, dem im Laufe der Jahre Angebote aus Flensburg, Hamburg und Barcelona vorlagen, brachte es fast immer fertig, die Neuen perfekt in Team und Spielsystem zu integrieren.
Akribisch und perfektionistisch
Der Schlüssel zum Erfolg ist seine - obwohl er über die Jahre etwas milder geworden ist - nach wie vor ausgeprägte Neigung zur Perfektion. Er bereitet seine Mannschaft auf jedes Pflichtspiel so akribisch vor, als wäre es ein WM-Finale.
Denn schließlich, so sagt es der Isländer, zähle Erfolg "schon nicht mehr in dem Moment, in dem man ihn erreicht hat". Das sei "schlimm", aber eben die Realität. Mit dieser Einstellung ist Gislason der perfekte Mann für den THW, bei dem Jahr für Jahr nicht weniger als die Meisterschaft erwartet wird.
"Er hat zwei Gesichter. Auf der einen Seite ist er sehr locker und spricht sehr viel mit uns Spielern. Auf der anderen Seite kann er plötzlich ganz streng und unangenehm werden. Aber genau das zeichnet einen guten Trainer aus. Alfred weiß genau, was die Mannschaft gerade braucht", sagt Filip Jicha, der seit vielen Jahren so etwas wie Gislasons verlängerter Arm auf dem Spielfeld ist.
Leben in der Endlosschleife
Dieses Streben nach Perfektion hat allerdings auch für den Coach selbst nicht nur Vorteile. Er agiert immer am Limit, steht permanent unter Strom, ist dauernd in Sachen Handball unterwegs. Und das seit Jahren.
Das geht zeitweise bis zum "Verlust der Lebensqualität", wie Gislason selbst sagt. Deshalb kommen in den vergangenen Jahren immer häufiger die Gedanken an ein Ende des Lebens als Trainer des erfolgreichsten Handball-Klubs der Erde. Er fühlt sich in Deutschland sauwohl, denkt aber zunehmend an Island, wo seine Kinder und mittlerweile auch Enkelkinder leben.
Gislason im Meister-Interview 2014: "Stolz, keine Genugtuung"
"Es gibt schlimmere Berufe", sagt der 55-Jährige, der einen Vertrag bis 2017 bei den Zebras besitzt, mit einem Lächeln: "Auch wenn ich mich manchmal frage, wie lange ich noch in dieser Endlosschleife weitermachen will." Mit 60 Jahren, so hat er es sich vorgenommen, soll Schluss sein.
Was kommt nach dem Handball?
Dann will er abwechselnd in seinem Haus in der Pampa nahe Magdeburg und auf Island wohnen. Rosen züchten, Angeln, sich mit Geschichte und den Enkelkindern beschäftigen. Ein Leben führen, das nicht vom Handball bestimmt wird.
Wenn man ihn heute bei jeder noch so durchschnittlich wichtigen Bundesliga-Partie mit den Händen fuchteln sieht, wie er sich fassungslos an den Kopf greift. Wie er den Anschein erweckt, jeden Augenblick selbst auf das Spielfeld zu stürmen.
Man kann und will sich Alfred Gislason ohne Handball nicht vorstellen.
Das Final Four im Überblick