Das DHB-Team schafft das Unmögliche und steht nach dem 25:23-Sieg gegen Dänemark im Halbfinale, wo am Freitag Norwegen wartet (18.30 Uhr im LIVETICKER). In der Heimat kennt die Begeisterung keine Grenzen, Uwe Gensheimer kann es nicht fassen. Und Kretzsche rät zu einer Kiste Bier.
Was sich in der Stunde nach dem deutschen Triumph in der Breslauer Jahrhunderthalle ereignete, ist nur mit Mühe in Worte zu fassen. Es war ein Mix aus puren Emotionen und Chaos, irgendwie surreal.
Die deutschen Spieler fielen sich auch noch in der Mixed Zone immer wieder um den Hals. Die mitgereisten Fans sorgten in der ganzen Halle für Jubelstürme. Fast jeder hatte ein ungläubiges Grinsen im Gesicht, das einfach nicht mehr wegzugehen schien.
Zahlreiche Journalisten plapperten wie wild geworden in ihre Handys oder hämmerten auf die Tastaturen ihrer Laptops ein. Sie versuchten hektisch, ihre für Donnerstag bereits festgezurrten Reisepläne zu ändern. Anstatt nach Hause geht es nämlich weiter nach Krakau zur Finalrunde.
"Bin sowas von zufrieden"
Ohne Titelverteidiger Frankreich, ohne Gastgeber Polen - und vor allem ohne die Dänen. Das DHB-Team hat es tatsächlich geschafft, diese große Handball-Nation mit ihrem Superstar Mikkel Hansen auszuschalten, einen der absoluten Topfavoriten auf den EM-Titel.
Mit einer Mannschaft, die mit Patrick Groetzki, Uwe Gensheimer, Patrick Wiencek, Paul Drux, Steffen Weinhold und Christian Dissinger verletzungsbedingt auf sechs Stammkräfte verzichten musste. Mit einer Mannschaft, die mit 16 EM-Debütanten angetreten war.
"Wir sind super-glücklich. Diese Mannschaft ist bei der Europameisterschaft von Spiel zu Spiel gewachsen und sie war bereit für diesen Sieg. Mit diesem Ergebnis bin ich sowas von zufrieden", sagte Bundestrainer Dagur Sigurdsson.
Eine echte Mannschaft
Natürlich spielte Topscorer Steffen Fäth (6 Tore) in den ersten 30 Minuten wie von einem anderen Stern und hielt das DHB-Team damit in der Partie. Klar stand die Abwehr um Hendrik Pekeler und Finn Lemke herausragend.
Und ja, auch die Vorstellung von Andreas Wolff (12 von 34, 35 Prozent gehaltene Bälle) war aller Ehren wert. "Es war ein Kampf, bei dem ich nicht über das Ergebnis nachgedacht habe, sondern nur über den Ball. Ich bin überglücklich. Als die Dänen nervös wurden, haben wir zugeschlagen", meinte der Wetzlar-Keeper.
Alles entscheidend für den fünften Sieg in Serie war letztlich aber eine Truppe, die im Gegensatz zu so vielen anderen von der ersten Sekunde weg an den Sieg glaubte und diesen unbedingt wollte. Und vor allem eine Mannschaft, die es auch verdient, als solche bezeichnet zu werden.
Lichtlein als brüllender Motivator
Das beste Beispiel dafür ist Carsten Lichtlein. Der 35-Jährige ist der Oldie im Team und eigentlich als Nummer 1 ins Turnier gestartet. Da es beim Gummersbacher von Beginn an mäßig lief und gleichzeitig bei Wolff blendend, kommt er viel weniger zum Zug, als er sich das selbst vorgestellt hat.
Wer nun aber einen griesgrämig auf der Bank sitzenden Torhüter erwartet hätte, wurde eines Besseren belehrt. Lichtlein gab auch wieder gegen Dänemark alles, feuerte über 60 Minuten seine Teamkollegen an.
Als beispielsweise Martin Strobel nach seinem einzigen, aber immens wichtigen Treffer zum 23:23 zur Bank geeilt kam, klatschte ihm Lichtlein mit Wucht die flache Hand auf die Schulter, so dass der Balinger kurzzeitig fast schon irritiert dreinblickte. "Genau so! Genau so!", brüllte Lichtlein den Spielmacher motivierend an.
Gensheimer kann es nicht fassen
Es sind neben dem Erfolg eben solche Szenen, die die Herzen der Fans vor Ort und zu Hause höher schlagen lassen. Man kann sich mit diesem sich füreinander aufreibenden, sympathischen Haufen von Underdogs identifizieren, mit ihm mitfiebern. Eine Mannschaft zum Knutschen sozusagen.
Es spricht Bände, dass selbst die verletzten Spieler zu Hause aus dem Sessel fahren und mitjubeln. Gensheimer, eigentlich Kapitän der Truppe, aber verletzt, veröffentlichte unmittelbar nach dem Sieg via Facebook ein Video.
Man sieht den Linksaußen darin im Nationaltrikot vor dem Fernseher sitzen. Wie er sich ungläubig an den Kopf greift, "das gibt's doch gar nicht" stammelt und schließlich ein "Jaaaaaaaaaaaaaaaaaa!" herausbrüllt. Dazu schrieb er: "Crazy, ihr Freaks!"
So oder ähnlich geht es vielen. "Ihr seid die Größten", ließ Christian Schwarzer, Weltmeister von 2007, verlauten. "Überragend, Jungs!", twitterte Dirk Nowitzki. Und für Kommentator Frank Buschmann ist klar: "Die Mannschaft 2016 steht fest!"
Dänen am Boden zerstört
Die Begeisterung war auch deshalb so groß, weil sich das DHB-Team zu keinem Zeitpunkt unterkriegen ließ. Acht Minuten vor dem Ende führten die Dänen mit 23:21. Deutschland entschied die Partie mit einem 4:0-Lauf.
"Ich kann es noch nicht ganz fassen, was passiert ist, das tut richtig weh. Zum zweiten Mal haben wir ein Spiel aus der Hand gegeben und deswegen verloren", war Dänemarks diesmal ganz schwacher linker Rückraumspieler Michael Damgaard völlig bedient.
Die Dänen hatten am Dienstag gegen Schweden einen Drei-Tore-Vorsprung vergeigt und nur unentschieden gespielt. Dies ermöglichte Deutschland erst das Weiterkommen. Hätte Dänemark die Partie gegen seinen skandinavischen Nachbarn gewonnen, hätte dem DHB-Team der 25:23-Sieg nicht gereicht.
Für Gudmundsson wird es ungemütlich
"Die Deutschen haben einen tollen Job abgeliefert, wir haben über weite Strecken nicht das gespielt, was wir eigentlich können. Am Ende waren wir im zweiten Spiel innerhalb von 24 Stunden einfach zu müde. Uns fehlte das Glück und wir wurden von einem starken Gegner bestraft", analysierte Dänen-Coach Gudmundur Gudmundsson.
Unter der Führung des Isländers war es nach dem Aus im Viertelfinale bei der WM in Katar die zweite herbe Enttäuschung für Dänemark. Man darf davon ausgehen, dass es für den früheren RN-Löwen-Trainer in den kommenden Tagen ungemütlich wird.
Norwegen der nächste Gegner
Ganz anders sieht es bei den Deutschen aus. "Wir hatten nichts zu verlieren. Aber als sich die Möglichkeit ergab, haben wir den Sack zu gemacht", erklärte Fäth die Vorgehensweise.
"Wir haben einfach so weitergespielt wie vorher und haben gezeigt, was uns in dieser EM stark gemacht hat: Kampfgeist und Wille", ergänzte Wolff. Und der 24-Jährige weiter: "Ehrlich gesagt glaube ich, dass im Moment niemand gegen uns spielen will."
Norwegen wird nicht darum herumkommen. Das Team von Trainer Christian Berge hat eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie Deutschland hinter sich. Die Skandinavier verloren das erste EM-Spiel gegen Island, holten aus den folgenden fünf Partien aber vier Siege und ein Unentschieden.
Kretzsche rät zu Bier
Unter anderem wurden Kroatien, Polen und Frankreich völlig überraschend geschlagen. Das DHB-Team ist also gewarnt, man muss den Sigurdsson-Jungs allerdings zutrauen, noch einen draufzusetzen.
Vom zweiten EM-Titel nach 2004 zu sprechen, kommt freilich noch zu früh. Erstmal gilt es ohnehin, den Moment zu genießen.
Wie ein Abend nach einem großen Sieg auszusehen hat, verriet ARD-Experte Stefan Kretzschmar Bundestrainer Sigurdsson persönlich: "Jede Analyse ist jetzt total schwachsinnig. Ein Kasten Bier für die Mannschaft und für dich speziell isländisches Bier." Na dann, prost!
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