Hallo Handball-Fans,
ich habe zum Saisonstart besonders gespannt darauf geblickt, wie die Teams durch die neuen Regeln taktisch mit dem Spiel ohne Torhüter umgehen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich finde, dass es in diesem Bereich noch viel Luft nach oben gibt.
Grundsätzlich stellen innovative Ideen immer eine Herausforderung an den Status quo dar. Aktuell ist zu beobachten, dass in Unterzahl fast immer ohne Torwart gespielt und die neue Regel als Chance gesehen sowie erfolgreich angewendet wird.
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Demgegenüber wird das Spiel 7:6 eher als Risiko betrachtet und damit tendenziell eher abgelehnt. Das ist bei den Topteams und einer guten Angriffsquote nachvollziehbar. Bei den schwächeren Mannschaften mit Angriffsquoten unter 40 Prozent im Spiel 6:6 fehlen Mut und vielleicht auch taktisches Know-how, um die höheren Erfolgschancen in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen.
Das Grundprinzip im 7 gegen 6 oder auch im 6 gegen 5 ist, eine Überzahlsituation auf möglichst großem Raum nach außen zu schaffen, um den einfachen Torabschluss aus der Nahdistanz zu suchen. Das Abwehrzentrum sollte auf eine Spielfeldseite verlagert werden. Man muss es mit einem raumöffnenden und breiten Stoßen und Sperren den Spielern ermöglichen, einfache Entscheidungen zu treffen.
Nur ein Standardkonzept reicht nicht!
Was mir außerdem auffällt ist, dass die meisten Mannschaften nur über ein Standardkonzept verfügen, das deshalb über die Zeit zu leicht auszurechnen ist. Im 6 gegen 6 spielt man schließlich auch nicht nur ein Angriffskonzept.
Man kann beispielsweise mit zwei Kreisläufern breit spielen, was für mich persönlich die einfachste und potentiell beste Taktik ist. Was noch gar nicht so richtig versucht wurde, ist die Variante mit drei Kreisläufern. Zudem kann ich mir verschiedene Kempa-Varianten vorstellen. Ich bin gespannt, ob in der Zukunft mehrere taktische Ideen im Spiel 7 gegen 6 entwickelt werden.
Manchmal fehlt der Mut
Manchmal fehlt aber einfach ein wenig der Mut. Unkonventionelle Dinge zu machen, ist nicht sonderlich populär. Manche Trainer haben eine Risiko-Aversion. Ich sage aber immer: Das einzige Risiko ist es, kein Risiko einzugehen.
Leipzig ist ein Gegenbeispiel. Ohne den Einsatz des siebten Feldspielers hätten die Leipziger in Magdeburg wohl keinen Punkt geholt. Trainer Christian Prokop hat das 7:6 sehr mutig und ganz konsequent auch bei engen Spielständen spielen lassen.
Bei dem einen oder anderen Trainer ist es auch so, dass er dem Spiel ohne Torhüter nicht sonderlich aufgeschlossen gegenübersteht. Doch die Erkenntnis wird sich durchsetzen, dass man sich mit dem 7:6 auseinandersetzen muss, um erfolgreich zu sein. Es gehört zu einer guten Coaching-Qualität dazu, dieses Element aufgrund der objektiv höheren Erfolgswahrscheinlichkeit einsetzen zu können.
Angst vor Empty-Net-Goals nicht begründet
Was sich bisher übrigens nicht bewahrheitet hat, ist die Angst, es könnte aufgrund des Spiels ohne Torhüter zu viele Empty-Net-Goals geben.
Wenn ich an die Partien Göppingen gegen Hannover und Stuttgart gegen Kiel denke, dann erinnere ich mich an vier Versuche über das gesamte Spielfeld hinweg auf das leere Tor, die allesamt daneben gingen. Ich finde das sogar attraktiv und spannend. Nach dem Motto: trifft er oder nicht?
Eine Regel sorgt für Wirbel
Für großen Wirbel hat direkt mal die neue Regelung der letzten 30 Sekunden gesorgt - beim Spiel Magdeburg gegen Leipzig. Magdeburgs Zeljko Musa brachte einen Leipziger Angriff mit einem harten Foul zum Stoppen und erhielt dafür eine Zwei-Minuten-Strafe. Es kam zur Rudelbildung, woraufhin SCM-Keeper Dario Quenstedt aus seinem Tor rannte und einen Leipziger umstieß.
Quenstedt sah Rot und es gab Siebenmeter für Leipzig. Da das Spiel nach Musas Foul aber bereits unterbrochen war, hätte es keinen Siebenmeter geben dürfen. Magdeburg hätte also gewonnen. Es ist das dritte Mal in den vergangenen Monaten, dass eigentlich ein Spiel hätte wiederholt werden müssen.
Das grundsätzliche Problem ist, dass es keine Sportart gibt außer Handball, in der für die letzten 30 Sekunden eine andere Regel gilt als in der Zeit davor. Das verstehen Zuschauer und Medienvertreter nicht. Selbst absolute Experten wie Schiedsrichter und das Kampfgericht sind offensichtlich nicht in der Lage, die Regel richtig anzuwenden.
Wann war es eine Spielunterbrechung mit Ball im Spiel beziehungsweise nicht im Spiel, wann eine Zeitunterbrechung? Skandalspielen sind so Tür und Tor geöffnet.
Alle Achtung vor den Füchsen
Lasst mich zum Ende noch einen Blick auf die bisherigen Ergebnisse werfen. Die bislang negative Überraschung ist sicherlich Melsungen, das gegen die Aufsteiger Coburg und Erlangen verloren hat. Wobei sich bereits andeutet, dass die Aufsteiger die stärksten seit Jahren sind.
Kiel hat in Wetzlar schon eine Niederlage kassiert. Es sieht so aus, als mache die komplizierte Vorbereitung mit neun Spielern bei Olympia doch größere Probleme an der Förde. Flensburg hat mich - wenn man den klaren Sieg in Hannover als Maßstab nimmt - schon sehr stark beeindruckt. Auch die Löwen haben mit ihrer klaren Hierarchie als Mannschaft einen starken Eindruck hinterlassen.
Zuletzt möchte ich noch die Füchse Berlin erwähnen. Sie haben sich in Katar bei der Klub-WM im Finale gegen den haushohen Favoriten Paris durchgesetzt - alle Achtung! Mal abwarten: Vielleicht können die Berliner sogar in den Dreikampf um die deutsche Meisterschaft eingreifen.
Bis zum nächsten Mal!
Euer Dr. Rolf Brack
Dr. Rolf Brack, geboren am 6. Dezember 1953, war als Trainer über 25 Jahre in der ersten und zweiten Liga aktiv und schaffte mit verschiedenen Klubs vier Aufstiege in die Bundesliga. Er coachte unter anderem von 2004 bis 2013 die Spielgemeinschaft HBW Balingen-Weilstetten und von 2013 bis 2016 das Nationalteam der Schweiz. Der Diplom-Sportwissenschaftler war lange Jahre mitverantwortlich für die Planung und Durchführung der A-Trainerausbildung des DHB, ist aktuell Lektor der EHF im Rahmen der Mastercoach-Ausbildung und im Hauptberuf Privatdozent am Sportinstitut der Universität Stuttgart. Als Spieler war Brack bei der SG Dietzenbach in der Bundesliga aktiv.
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