Stefan Kretzschmar ist eine der bedeutendsten Persönlichkeiten im deutschen Handball. Am heutigen Freitag feiert der frühere Linksaußen seinen 50. Geburtstag. Bereits 2016 blickte Kretzsche im Interview mit SPOX auf seine Laufbahn zurück - und gab dabei zahlreiche Anekdoten zum Besten.
Dieses Interview wurde bereits im November 2016 veröffentlicht
Der heutige Sportvorstand der Füchse Berlin erinnerte sich an seine Zeit als "Vollidiot", Konflikte mit Heiner Brand sowie dessen Frau, eine Rede zum Thema Intimtätowierungen in der ostdeutschen Zone, Endlos-Diskussionen mit dem Hexer und eine Olympia-Vorbereitung, die in Sachen Freizeitgestaltung Maßstäbe gesetzt hat.
SPOX: Herr Kretzschmar, wir wollen mit Ihnen auf Ihre Laufbahn zurückblicken. Diese begann im Berlin der Nachwendezeit bei Blau-Weiß Spandau. Welche Erinnerungen sind daran geblieben?
Stefan Kretzschmar: Vor allem Erinnerungen an Dinge, die außerhalb des Handballs stattfanden. Berlin war nach dem Mauerfall das Epizentrum der Kreativität. Der Osten war frei und jeder machte aus irgendetwas eine Kneipe, eine Galerie, eine Disco oder einen Club. Teilweise wurden aus Wohnungen Kneipen, das war Anarchie. Es gab kein Bauordnungsamt, keine Brandschutzbestimmungen, teilweise nicht einmal polizeiliche Vorschriften - das war großartig. Berlin hatte zu dieser Zeit eine unglaubliche Energie. Ich habe mich damals quasi nebenbei sportlich betätigt. (lacht)
SPOX: Durchaus erfolgreich.
Kretzschmar: Das stimmt. Ich war 18 oder 19 Jahre alt und spielte bei einem Verein, der damals den großen SC Dynamo Berlin geschluckt hatte. In der ersten Saison war ich ein unbekümmerter Junge, der nur die Siebenmeter warf. Auf dem Feld spielte ich allerdings kaum eine Rolle.
SPOX: Warum?
Kretzschmar: Weil der Sohn eines Aufsichtsratsmitglieds auf Linksaußen spielte. Weil der große Chef das anordnete, musste der natürlich spielen und nicht ich. Ich entwickelte damals ein Gefühl dafür, was fair ist und was nicht und wie die Welt funktioniert. Das war eine gute Schule, um zu erkennen, wie der Westen teilweise tickt. Dass man manchmal mit Beziehungen mehr erreichen kann als über Leistung.
SPOX: Apropos unfair. Es gibt eine Geschichte aus dieser Zeit, die kaum zu glauben ist. Stimmt es, dass der damalige Spandau-Trainer einmal in der Woche auf einem Fußballplatz anzutreten hatte, um sich vom Hauptsponsor die Bälle um die Ohren schießen zu lassen?
Kretzschmar: Das ist tatsächlich wahr. (lacht) Der musste sich ins Tor stellen und der Hauptsponsor hat ihm dann Elfmeter um die Ohren gehauen. Keine Ahnung, wie man so etwas mit sich selbst ausmacht, aber das war eine der Aufgaben, die unser Cheftrainer hatte.
SPOX: 1993 folgte der Wechsel nach Gummersbach. Warum war es Ihnen immer so wichtig, für einen Traditionsverein zu spielen?
Kretzschmar: Für mich gab es schon immer zwei Vereine, die das Nonplusultra waren. Das war im Westen der VfL und im Osten der SC Magdeburg. Ich konnte nicht sofort zum SCM gehen, weil die Feindschaft zwischen Dynamo Berlin und Magdeburg zu groß war. Magdeburg war der Arbeiterverein, bei dem ehrliche Arbeit abgeliefert wurde und Dynamo war der Stasiverein, der immer alles in den Allerwertesten gesteckt bekam. Zu DDR-Zeiten hatte Dynamo die besten Trainingsmöglichkeiten, während Magdeburg in einem umgebauten Lokschuppen trainieren und die Spieler nebenbei noch im Fruchthof arbeiten mussten. Da für mich klar war, dass ich für Gummersbach und Magdeburg spielen möchte, war für mich der erste Schritt der VfL.
SPOX: Vom aufregenden Berlin nach Gummersbach. Kam das nicht einem Kulturschock gleich?
Kretzschmar: Wenn ich nicht gewechselt wäre, dann hätte ich sicherlich weiterhin nicht den Sport in den Vordergrund gestellt und auch nicht diese Entwicklung genommen. Richtig ist: Ich habe mich in Berlin sehr wohlgefühlt und hätte von mir aus zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wechseln müssen.
imago imagesSPOX: Aber der VfL machte Ihnen ein Angebot.
Kretzschmar: Der Manager des VfL erzählte mir, dass sie mich unbedingt holen möchten, dass ich der zukünftige Stern am Handball-Himmel sei und so weiter. Eben all die Dinge, die dir Manager immer erzählen, wenn sie dich verpflichten wollen. Schließlich wurde ein Treffen zwischen dem Manager und dem Präsidenten sowie meinen Eltern und mir in West-Berlin vereinbart. Auf der Fahrt zu dem Treffen sagte ich zu meinem Vater: "Pass auf Papa, ich verdiene in Berlin derzeit 800 Mark. Für 800 Mark und ein Käfer-Cabrio bleibe ich in Berlin." Darauf fragte mich mein Vater, was ich denn im Gespräch mit Gummersbach aufrufen wolle. Er fand meine 1500-Mark-Forderung ziemlich hoch, dennoch vereinbarten wir, das so zu machen.
SPOX: Was geschah dann?
Kretzschmar: Während des Gesprächs fragte mich irgendwann Gummersbachs Präsident, was ich verdienen will. Und ich antwortete: "3500 Mark!" Ich merkte noch, wie mein Vater mir unter dem Tisch gegen das Schienbein trat, als der Präsident antwortete: "Alles klar, das machen wir. Hier ist der Vertrag." Da wurde mir klar, dass das wahrscheinlich für damalige Verhältnisse immer noch zu wenig war. (lacht)
SPOX: Der Schritt erwies sich jedenfalls als richtig. Schließlich schwärmen Sie noch heute von der besten Kameradschaft, die Sie jemals im Handball erlebt haben.
Kretzschmar: Es war die am wenigsten erfolgreichste Zeit, aber es war zweifelsohne die geilste Mannschaft, in der ich je gespielt habe. Der Zusammenhalt war großartig. Und wir hatten mit Frank Löhr einen herausragenden Kapitän, dem ich viel zu verdanken habe. Er war damals zehn Jahre älter als ich, wurde mit mir auf ein Zimmer gelegt und weihte mich komplett ein in die Welt auf und außerhalb des Handballfeldes. Er war unser Anführer, ein Raubein. Ich glaube, ob eine Mannschaft einen Teamgeist entwickelt oder nicht, liegt zu 99 Prozent an den Anführern. Und wenn du einen hast wie Löhr, dann folgen die anderen.
SPOX: Wenn der Teamgeist schon nicht zu Erfolg führt, dann wenigstens zu großem Spaß.
Kretzschmar: Richtig. Es sind damals Dinge geschehen, die heute unvorstellbar sind. Dass nach jedem Handballspiel die Mannschaft zusammen mit den Spielerfrauen essen geht, kann ja noch vorkommen. Aber nicht, dass der Kapitän gegen 22 Uhr aufsteht und sagt: "So, jetzt gehen die Frauen nach Hause und die Männer ziehen noch weiter." Stellen Sie sich das heute mal vor. Das hätte zu 50 Prozent die Scheidung zur Folge. (lacht)
SPOX: Gummersbach scheint in Sachen Party ein heißes Pflaster gewesen zu sein. Andreas Thiel räumte einmal im SPOX-Interview ein, zu seiner Zeit beim VfL nach jedem Auswärtsspiel blitzeblau aus dem Bus geklettert zu sein.
Kretzschmar: Das gilt nicht nur für Gummersbach, das war im Handball zu dieser Zeit generell so. Man muss sich nur mal die Geschichten aus Essen, Großwallstadt oder von Wallau Massenheim anhören. Es gab kein Social Media, niemand konnte irgendwas im Netz verbreiten. Selbst in der eigenen Stadt konntest du bis morgens um 4 Uhr in Kneipen gehen und problemlos auch mit Fans feiern. Das war völlig normal, das hat dir niemand übel genommen. Selbst Dinge, wie im Mannschaftsbus zu rauchen, waren völlig normal.
SPOX: Wie bitte? Trainer Heiner Brand galt doch als extremer Gegner der Raucher.
Kretzschmar: Bei Heiner war es dann eben so, dass nur hinten im Bus geraucht werden durfte. (lacht)
SPOX: In Gummersbach gab es außerdem ein ziemlich fragwürdiges Aufnahmeritual. Erzählen Sie uns davon.
Kretzschmar: Wir wurden in eine Kneipe eingeschlossen und der Zapfhahn wurde mit einem Gummi befestigt, sodass das Bier ununterbrochen lief. Ältere Spieler hatten die Aufgabe, sich um jüngere zu kümmern, also sie abzufüllen. Bei mir war das relativ leicht. Ich habe nichts vertragen und war nach einer halben Stunde voll. Wenn der ältere Spieler auf ex trank, dann musstest du das auch machen. Es war dabei übrigens auch völlig egal, ob die Gläser unterschiedlich voll waren. Dann musste man sich auf einen Stuhl stellen und zwei halbe Liter in weniger als einer Minute trinken. Danach musste man noch eine Rede halten.
SPOX: Worüber?
Kretzschmar: Das Thema wurde einem vorgegeben. Mein Thema war Intimtätowierungen in der ostdeutschen Zone. Darüber musste ich drei Minuten sprechen. Innerhalb der Mannschaft gab es ein Präsidium, das darüber entschieden hat, ob du aufgenommen oder abgelehnt wurdest. In meinem Jahrgang wurde tatsächlich einer abgelehnt.
SPOX: War dieser Spieler somit im Team geächtet?
Kretzschmar: Es war tatsächlich so - und damit darf man sich nicht rühmen - dass dieser Typ das gesamte Jahr über nicht akzeptiert wurde. So hart war damals der Profisport.
SPOX: Wir haben Brand vorhin schon einmal kurz angesprochen. Sie sind anfangs gar nicht mit ihm klargekommen. Oder sollte man sagen, dass er mit Ihnen nicht zurechtgekommen ist? Er unterstellte Ihnen jedenfalls "einen unheimlichen Spaß am Provozieren".
Kretzschmar: Rückblickend gesehen, liegt die Hauptschuld wohl eher bei mir. Wobei Heiner damals auch stur war, da prallten zwei völlig unterschiedliche Charaktere aufeinander. Ich, der Vollidiot aus Berlin, der aus der Hausbesetzer- und Punk-Szene kam, und Heiner Brand aus Gummersbach. Weiter entfernt kann man nicht voneinander sein. Wenn wir nicht beide mit Handball zu tun gehabt hätten, dann hätten wir wohl überhaupt keine Gemeinsamkeiten gehabt. (lacht) Er hat nicht verstanden, was ich machte. Und ich habe nicht verstanden, was er von mir will.
SPOX: Was war daran so schwer?
Kretzschmar: Ich verstand erst mit 26 oder 27 Jahren, worum es im Mannschaftssport geht. Ich habe mit Parolen nur so um mich geworfen, habe völlig sinnlos und ohne Verstand provoziert, wo ich nur konnte.
gettySPOX: Schämen Sie sich rückblickend teilweise für das damalige Verhalten?
Kretzschmar: Wenn ich mir heute Fernsehsendungen von damals ansehe, bei denen ich zu Gast war, dann ist das einfach nur peinlich. Das hatte mit Coolness gar nichts zu tun. Natürlich hat es für Aufsehen gesorgt und viele Kids fanden es irgendwie cool. Trotzdem: Es war einfach nur peinlich, das muss ich ganz ehrlich sagen.
SPOX: War Brand also hauptsächlich wegen Ihnen in der damaligen Zeit ein Kontrollfreak?
Kretzschmar: Ein Stück weit wurde er dazu gezwungen, ich war wahrscheinlich der Schlimmste. Ich war vor wenigen Wochen mit der alten Truppe inklusive Frauen in Portugal. Da habe ich zum ersten Mal nach 20 Jahren mehr als drei Minuten mit der Frau von Heiner gesprochen. Sie erzählte mir, was sie damals von mir gehalten hat. Das war so schlimm, dagegen hat Heiner mich fast schon geschätzt. (lacht)
SPOX: Was hat Frau Brand denn von Ihnen gehalten?
Kretzschmar: Sie hat sich damals geschworen, nie wieder ein Wort mit mir zu reden. Sie hätte sich nicht vorstellen können, was ich im Leben noch für eine Wendung nehme. Daran kann man das Ausmaß erkennen, was ich für ein Idiot gewesen sein muss. Ich hätte es nicht mal für nötig gehalten, sie zu grüßen, ich hatte selbst die einfachsten Benimmregeln nicht drauf. Ich glaube, dass auch Heiner daran ein Stück weit verzweifelt ist.
SPOX: Als Sie zum DHB-Team kamen, war Andreas Thiel der unumstrittene Chef in der Mannschaft. Auch da soll es anfangs Probleme gegeben haben.
Kretzschmar: Mit dem Hexer war es anders. Das lag daran, dass ich mit ihm viel über Politik gesprochen habe. Er hat dadurch gemerkt, dass ich kein Dummkopf bin, dass ich Meinungen vertreten kann, die auch Sinn ergeben. Nur meine noch verankerte Ostalgie war für ihn schlimm, da er einer der größten Sozialismus-Gegner war, die es gab. Das hat zu heftigen, stundenlangen Diskussionen geführt.
SPOX: Zu welchen Gelegenheiten fanden diese Diskussionen statt?
Kretzschmar: Eine Situation werde ich nie vergessen. Wir waren mit dem Nationalteam in Tel Aviv, der Hexer, Jan Holpert, Christian Ramota und ich gingen in einen Laden, wo wir feststellten, dass es Wodka Lemon in Dosen gab. Das fanden wir so überragend, dass wir einen ganzen Koffer davon gekauft haben. Damit sind wir ins Hotelzimmer gegangen, wo Thiel und ich intensiv zu diskutieren begannen. Holpert und Ramota schlugen irgendwann die Hände über dem Kopf zusammen und gingen, wir diskutierten stundenlang weiter.
SPOX: Also haben Sie zum Hexer bis heute eine besondere Beziehung?
Kretzschmar: Diese Gespräche haben mir unglaublich viel bedeutet. Der Hexer ist für mich der Spieler in der Geschichte des deutschen Handballs, er hat - glaube ich - den höchsten Intelligenzquotienten, den es gibt. Er war schon damals eine Legende, zu der ich aufgeschaut habe, eine absolute Autoritätsperson. Wenn er etwas gesagt hat, dann wurde das gemacht. Er ist ein ganz wichtiger Mensch in meinem Leben. Der Hexer ist einfach großartig.
SPOX: Es gibt immer wieder Erzählungen, die darauf schließen lassen, dass es bei Olympia in Atlanta 1996 besonders hoch hergegangen ist. Kam vom Spaßfaktor irgendein anderes Turnier an Atlanta heran?
Kretzschmar: Die großen Turniere hatten in der Regel mit Spaß nicht viel zu tun. Da war die Mannschaft während der Turniere eigentlich immer vernünftig, es herrschte dann eine relativ große Disziplin. Gut: In Atlanta sind wir früh ausgeschieden, danach wurde zugegebenermaßen Gas gegeben. Generell war es aber eher so, dass die großen Spaßmomente bei anderen Gelegenheiten stattfanden.
SPOX: Zum Beispiel?
Kretzschmar: Vor Olympia 2004, wo wir letztlich Silber holten, absolvierten wir ein vierwöchiges Trainingslager, das völlig irre war. Mir ist heute noch rätselhaft, wie Heiner Brand auf die glorreiche Idee kam, ein Vorbereitungslager mitten in Köln zu absolvieren. Entsprechend sah dann die Vorbereitung auch aus. Im Training haben wir zwar Gas gegeben, aber was die Freizeitgestaltung betrifft, haben die Wochen in Köln Maßstäbe gesetzt. Mehr will ich dazu nicht sagen. (lacht)
SPOX: Was war denn rückblickend das Highlight überhaupt mit dem DHB?
Kretzschmar: Das Highlight war kein großer Sieg, sondern elf Jahre Nationalmannschaft insgesamt. Ich durfte mit tollen Jungs eine tolle Zeit verbringen, die immer Spaß gemacht hat. Es waren kleine Momente, die wir groß machten und die bis heute in unseren Erinnerungen sind. Dabei konnte es sich um eine einfache Busfahrt, um Gespräche nach dem Abendessen oder um eine Zimmerparty handeln. Ob mit Christian Schwarzer, Daniel Stephan oder Henning Fritz - da sind Freundschaften entstanden.
SPOX: Gibt es denn ein Negativerlebnis, das Ihnen in Erinnerung geblieben ist?
Kretzschmar: Schlimm war für mich Sydney mit dem Aus im Viertelfinale gegen Spanien, als ich den letzten Wurf an die Latte setzte. Meiner Meinung nach waren wir zu dieser Zeit die beste Mannschaft der Welt. Hätten wir dieses Viertelfinale gewonnen, wären wir Olympiasieger geworden, glaube ich. Mit dem verlorenen Finale in Athen kann ich viel besser leben, weil ich anerkennen muss, dass Kroatien an diesem Tag einfach besser war. Rückblickend gesehen sind Niederlagen die Momente, in denen du anfängst nachzudenken. Deshalb bin ich heute für erlittene Niederlagen sogar dankbar, weil sie einen irgendwie zu einem etwas besseren Menschen machen.
SPOX: Ihre erfolgreichste Zeit erlebten Sie in Magdeburg, wo Sie ab 1996 spielten. Dort hielt sich die Begeisterung anfangs in Grenzen. Es sollen sogar Spieler zum damaligen Manager Bernd-Uwe Hildebrandt gegangen sein, um gegen Ihre Verpflichtung zu protestieren.
Kretzschmar: Ich hatte gerade einen Vertrag bei Nike unterschrieben und Magdeburg war als Verein bei Nike unter Vertrag. Der Nike-Ansprechpartner für mich war auch der des SCM. Der hat mir mitgeteilt, was die Mannschaft davon hält, dass ich komme. Das hätte ich lieber nicht wissen wollen. In Magdeburg zählt ehrliche Arbeit, da wurde im Handball immer gekämpft. Ein Paradiesvogel wie ich, als der ich damals galt, passte da eigentlich überhaupt nicht rein. Der einzige, der mich unbedingt wollte, war Manager Hildebrandt, weil er die Vision hatte, eine neue Halle für 7500 Zuschauer zu bauen und die Champions League zu gewinnen. Er wusste, wenn er diese Halle füllen will, benötigt er Attraktionen. Dann kam er zu mir nach Gummersbach und sagte, dass er mich, - übertrieben formuliert - koste es was es wolle, holen möchte. Das war für mich natürlich ein Argument.
SPOX: Waren die Spieler, die Sie nicht haben wollten, der einzige Grund dafür, dass Sie sich anfangs nicht wohlgefühlt haben?
Kretzschmar: Das war nur ein Grund. Hinzu kam, dass ich den SCM zwar mochte, ich damals die Stadt an sich aber für nicht sonderlich attraktiv hielt. Mittlerweile hat sich das geändert, die Stadt hat sich gut entwickelt. Damals war es aber eher trist. Mein Plan war, in Magdeburg zu unterschreiben und in Berlin eine Wohnung zu nehmen und zu pendeln. Anfangs erschien mir das völlig logisch, der Plan entpuppte sich aber natürlich als völliger Schwachsinn, weil unfassbar viel Zeit drauf ging. (lacht)
SPOX: Hildebrandt hat den Klub groß gemacht, ihn später aber durch dubiose Vorgehensweisen in arge Schwierigkeiten gebracht. Wie haben Sie ihn erlebt?
Kretzschmar: Hildebrandt war ein Visionär, ein hemdsärmeliger Typ mit einer gewissen Bauernschläue. Er war kein Intelligenzbolzen, hatte erst recht keine Ahnung von Handball. Aber er war ein Macher. Er war jemand, der immer groß dachte. Wenn er beispielsweise ein politisches Problem hatte, wollte er gleich den Bundeskanzler anrufen. Mit diesem Selbstverständnis und einer gewissen Dreistigkeit öffneten sich für ihn alle Türen. Er war damals in Magdeburg die wichtigste Person, wichtiger als der Bürgermeister. Er war als Imperator von Magdeburg bekannt. Er hat verstanden, wie damals das Zusammenspiel aus Sport und Wirtschaft funktionierte. In Magdeburg war es wichtig, im VIP-Raum des SCM zu sein, weil dort Geschäfte gemacht wurden. Er baute diese Halle, holte diese Mannschaft, die in der Lage war Meister zu werden und die Champions League zu gewinnen und bezahlte sie auch - irgendwie.
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SPOX: Wie kam es dazu, dass es plötzlich in die andere Richtung ging?
Kretzschmar: Es kam Neid auf, Hildebrandt ist ein paar Menschen zu viel auf die Füße getreten. Dann brach alles zusammen, was hinter den Kulissen nur durch seidene Fäden zusammengehalten worden war. Aus meiner ganz persönlichen, egoistischen Sicht muss ich eigentlich sagen: Er war ein Glücksfall für diesen Verein. Dass dabei natürlich vieles nicht legal war, kam ans Tageslicht und wurde bestraft. Ich wage aber zu behaupten, dass es damals in über 60 Prozent aller Profivereine nicht wesentlich anders abgelaufen ist.
SPOX: Neben Hildebrandt war in Magdeburg Alfred Gislason eine der wegweisenden Personen.
Kretzschmar: Als Gislason nach Magdeburg kam, war er ein Niemand. Man dachte erst: Was wollen wir denn mit dem? Aufgrund seiner Art und seiner Aura räumte er diese Zweifel aber schnell aus. Er wurde sofort als Mensch akzeptiert, die Erfolge kamen. Man muss natürlich auch sagen, dass wir eine großartige Mannschaft hatten. Das Problem war: Es gab mit dem THW Kiel eine Mannschaft, die einfach fast immer noch besser war.