Kaum hatte die Partie gegen Weißrussland begonnen, da wurde es unruhig auf der Medientribüne in der Kindarena. Endlich war die Bestätigung eingetroffen, auf die seit Tagen gewartet wurde: Holger Glandorf wird nachnominiert, reist am Donnerstag nach Rouen und wird bereits am Abend am Mannschaftstraining teilnehmen.
Die anstehende Ankunft des Weltmeisters von 2007 war schließlich auch unmittelbar nach dem vierten Sieg im vierten Spiel das Thema Nummer eins. Holger hier, Holger da - irgendwie waren alle vom Glandorf-Fieber befallen.
"Er ist ein Weltklasse-Handballer und wird das Team auf und neben dem Platz voranbringen. Nun sind wir noch variabler und für die Gegner schwerer auszurechnen", sagte DHB-Vizepräsident Bob Hanning. Und Dagur Sigurdsson ergänzte: "Ich erwarte, dass wir durch Holger eine bessere Balance in die Mannschaft bekommen. Er ist sehr erfahren und wird den jungen Spielern helfen. Ich finde es ein super Signal von ihm, dass er bereit ist, hierherzukommen. Das zeugt von Charakter."
Glandorf heiß: "Eine besondere Ehre"
Glandorf hatte seine Karriere in der Nationalmannschaft eigentlich vor zweieinhalb Jahren beendet. Weil aber mit Fabian Wiede und Steffen Weinhold zwei Leistungsträger im rechten Rückraum verletzungsbedingt ausfallen, ließ sich der Flensburger dazu überreden, für eine Nachnominierung bereitzustehen.
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Deshalb besetzte der Bundestrainer lediglich 15 der 16 Kaderplätze, um jeder Zeit einen Spieler über das sogenannte Late-Entry-Verfahren nach Frankreich beordern zu können.
Und deshalb absolvierte der 33-jährige Glandorf unmittelbar vor der WM bereits ein Test-Länderspiel gegen Österreich (33:16), um sich schon einmal mit den Abläufen im Team vertraut zu machen. Anschließend war der Linkshänder wieder nach Hause gefahren und hielt sich bei seinem Klub, der SG Flensburg-Handewitt, fit.
"Natürlich ist es eine besondere Ehre, bei einer Weltmeisterschaft noch einmal für Deutschland zu spielen. Ich freue mich auf die Spiele und werde Vollgas geben", versprach Glandorf in der ARD, für den es nach 2005, 2007, 2009 und 2011 die fünfte WM-Teilnahme ist.
Entlastung für Häfner
"Die ganze Mannschaft freut sich. Jeder weiß, was für eine riesige Qualität Holger mitbringt. Wir werden uns gut ergänzen", sagte Kai Häfner. Der 27-Jährige von der TSV Hannover-Burgdorf war bisher der einzige rechte Rückraumspieler im deutschen Kader und wird nun mehr Pausen erhalten.
"Wenn Kai über das ganze Turnier hinweg so viel spielen müsste, würde man den Kräfteverschleiß irgendwann merken. Deshalb kann Holger für uns ein ganz wichtiger Faktor werden. Er ist ein Ausnahmespieler", erklärte Julius Kühn.
Mit Nachnominierungen hat das DHB-Team gerade mit den Personen Häfner und Kühn im vergangenen Jahr bei der EM in Polen hervorragende Erfahrungen gemacht. Beide stießen damals vor dem entscheidenden Zwischenrundenspiel gegen Dänemark zur Mannschaft und waren direkt wichtige Faktoren. Das wird natürlich von einem Mann wie Glandorf umso mehr erwartet.
DHB-Team pennt - Sigurdsson sauer
Zumal das Spiel gegen Weißrussland vor allem in der ersten Halbzeit sehr zu wünschen übrig ließ. Deutschland spielte seine Angriffe teilweise nicht konsequent zu Ende, war in der Abwehr viel zu lasch, geradezu schläfrig, Torhüter Andreas Wolff (2 von 15, 13 Prozent) bekam zudem kaum einen Ball zu packen - mit einem 16:16 ging es in die Kabine.
"Nach den Spielen gegen Chile und Saudi-Arabien war es eine Umstellung, gegen die körperlich viel stärkeren Weißrussen zu spielen. Wir haben uns in der ersten Halbzeit sehr schwer getan und einfach auch ein bisschen gepennt. Deshalb haben wir in der Pause eine ordentliche Standpauke vom Trainer bekommen", berichtete Kühn.
Sigurdsson bestätigte: "Wir haben in der ersten Halbzeit den Kampf nicht angenommen und zu viele Tore kassiert. Ich habe von der Mannschaft mehr Emotionen und mehr Einsatz verlangt."
Die deutliche Ansprache zeigte Wirkung. Der Start in die zweite Halbzeit - mittlerweile mit dem starken Silvio Heinevetter (9 von 21, 43 Prozent) zwischen den Pfosten - glückte. Letztlich geriet der Sieg angeführt vom besten Werfer Uwe Gensheimer (8) und dem sehr guten Steffen Fäth (6 von 6) nie ernsthaft in Gefahr.
Showdown gegen Kroatien
Im letzten Spiel der Vorrunde kommt es damit am Freitag zum Showdown um den Gruppensieg gegen Kroatien, das ebenfalls alle seine vier bisherigen Partien gewonnen hat. Die deutschen Spieler sind sich einig: Jetzt beginnt die wilde Fahrt. Und: Es muss eine deutliche Leistungssteigerung her, um mindestens ein Remis, das aufgrund des besseren Torverhältnisses für Platz eins reichen würde, zu schaffen.
"Gegen Kroatien muss man 60 Minuten voll da sein und nicht nur 30", stellte Paul Drux klar, der nach seiner im zweiten Spiel gegen Chile erlittenen Sprunggelenksverletzung gegen die Weißrussen mit vier Toren einen sehr ordentlichen Eindruck hinterließ. "Wir müssen noch ein, zwei Gänge zulegen", pflichtete ihm Häfner bei.
Wie viel gegen den Weltmeister von 2003 auf dem Spiel steht, rief derweil Wolff allen Beteiligten noch einmal ins Bewusstsein. "Dieses Spiel ist extrem wichtig. Nicht nur, um die bestmögliche Ausgangssituation für das Achtelfinale zu bekommen, sondern auch, um sich eine 900-Kilometer-Reise zu ersparen", sagte der Torhüter vom THW Kiel.
Der Gruppensieger reist nämlich von Rouen aus direkt ins 140 Kilometer entfernte Paris und bestreitet in der Hauptstadt alle verbleibenden K.o.-Duelle. Der Zweite muss für das Achtel- und Viertelfinale ins weit im Süden gelegene Montpellier.
"Jetzt kommen die Endspiele"
"Klar ist es wichtig, Gruppenerster zu werden. Letztendlich wird das Achtelfinale aber auf jeden Fall ein schwieriges Spiel. Egal, ob du Erster, Zweiter oder Dritter wirst. Da bekommst du auf jeden Fall einen starken Gegner", sagte Sigurdsson.
Um wen es sich handelt, ist freilich noch nicht entschieden. Es wird allerdings auf Ägypten, Katar oder Schweden hinauslaufen.
"Jetzt kommen die Endspiele", hielt der Bundestrainer fest und erinnerte an die ersten beiden großen Erfolge der Bad Boys des letzten Jahres mit dem EM-Titel und der Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen in Rio: "Wir haben bewiesen, dass wir in der Lage sind, diese Endspiele bei großen Turnieren zu meistern."
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