Patrick Wiencek lag maßlos enttäuscht am Boden, Christian Prokop gratulierte bereits dem gegnerischen Trainer- und Betreuerstab. Die Zeit war abgelaufen, Slowenien hatte das Spiel mit 25:24 gewonnen - dachten zumindest alle. Alle außer Silvio Heinevetter.
Der Torhüter stürmte wie wild geworden auf Mindaugas Gatelis und Vaidas Mazeika zu. Es war, so schien es zumindest, der Mann von den Füchsen Berlin, der die litauischen Schiedsrichter auf einen Regelverstoß aufmerksam machte. Die Slowenen hatten beim deutschen Anwurf zu wenig Abstand gehalten, was in den letzten 30 Sekunden mit einer Roten Karte und Siebenmeter zu bestrafen ist.
Nun begann ein im Handball in diesem Ausmaß bis dato einzigartiges Drama. Die Unparteiischen schauten sich die Szene minutenlang in der Wiederholung auf einem Bildschirm an. "So lange auf die Entscheidung zu warten, war für alle Beteiligten eine schreckliche Situation. Ich dachte schon, dass es regeltechnisch Siebenmeter geben muss, war mir aber nicht sicher, ob es in dieser Situation geahndet wird", sagte Uwe Gensheimer später.
Gensheimer: "Reichmann hatte die Eier, das Ding zu versenken"
Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, bis Gatelis und Mazeika tatsächlich auf Rot und Siebenmeter entschieden. Tobias Reichmann, der den Ball schon die ganze Wartezeit über in seinen Händen gehalten hatte, trat an - und verwandelte eiskalt.
"Ich hatte erst eine andere Ecke im Kopf, habe mich dann aber umentschieden", erklärte der Rechtsaußen danach. Das Lob der Kollegen fiel entsprechend überschwänglich aus.
"Wir haben uns kurz angeschaut, Tobi hat sich den Ball geschnappt und hatte dann die Eier, das Ding zu versenken", sagte Gensheimer. Der Kapitän ist eigentlich der Siebenmeterschütze Nummer eins im deutschen Team, war während des Spiels aber bereits drei Mal gescheitert.
"Ich hätte den Siebenmeter nicht werfen wollen", meinte DHB-Vizepräsident Bob Hanning anerkennend. Und der Bundestrainer ergänzte: "Ich bin überglücklich, dass Tobi so eine Nervenstärke hat. Er ist ein Mann für die besonderen Momente, das hat er unter Beweis gestellt. Trotz der Show, die zuvor im Tor veranstaltet worden ist."
Veselin Vujovic sorgt für Wirbel
Prokop spielte damit auf das Verhalten von Sloweniens Trainer Veselin Vujovic an. Der war unmittelbar nach der Entscheidung des Schiedsrichtergespanns völlig ausgeflippt und hatte sich kurzzeitig einfach ins Tor gestellt.
"Ich kenne diese neuen Regeln nicht", sagte Vujovic in der ARD: "In den letzten zwei Sekunden, wenn du nicht drei Meter vom Anwurfpunkt wegstehst, gibt es Siebenmeter. Eine neue Regel. Aber zum ersten Mal in der Geschichte haben wir diese neue Regel. Glückwunsch an das deutsche Team, es ist eine gute Mannschaft. Ich wünsche ihnen nur das Beste. Aber ich denke, wir sind die Gewinner."
Es war längst nicht das erste Mal, dass der stets wild gestikulierende Vujovic mit kuriosen Auftritten für Aufsehen gesorgt hat. Als Spieler wurde der Montenegriner einmal nach einer Massenschlägerei während eines Ligaspiels für neun Monate gesperrt.
Vujovic: Fehltritt reiht sich an Fehltritt
Als Coach von Ciudad Real trat der 56-Jährige im Finale der Champions League 2002 gegen die SG Flensburg-Handewitt Linksaußen Lars Christiansen in die Kniekehle und schlug anschließend auf Rückraumspieler Lars Krogh Jeppesen ein. Dafür handelte er sich eine zehnmonatige Sperre ein.
Sechs Jahre später wurde Vujovic sogar für ein Jahr aus dem Verkehr gezogen. Der Rüpel vom Balkan war bei der Partie seines Klubs Vardar Skopje gegen Kadetten Schaffhausen außer Rand und Band geraten, auf die Schiris losgegangen und ließ sich nicht einmal von seinen Spielern einfangen.
Nun durfte man also in der Arena Zagreb den nächsten fragwürdigen Auftritt des Coaches erleben. Wenn auch dieser immerhin nicht in Prügelszenen endete.
Sloweniens Protest: Gibt es ein Wiederholungsspiel?
Die Slowenen legten jedenfalls nach dem Remis gegen Deutschland Protest gegen die Wertung des Spiels ein. Eine Entscheidung, ob es womöglich sogar ein Wiederholungsspiel geben wird, muss am Dienstag bis 12 Uhr von der EHF-Disziplinarkommission getroffen werden.
Fakt ist, dass die Meinungen, ob die litauischen Schiedsrichter richtig oder falsch entschieden haben, auseinander gehen. "Die Entscheidung war eine klare Sache, drei Männer standen im Anwurfkreis", sagte Reichmann.
Der frühere deutsche Schiedsrichter Frank Wenz kam dagegen bei Sky zu der Einschätzung, dass das Spiel eigentlich wiederholt werden müsste. Das in diesem Fall hochkomplizierte Regelwerk lässt unter bestimmten Bedingungen offenbar tatsächlich eine andere Schlussfolgerung zu. Beispielsweise wenn die Aktion von Paul Drux als gültige Torwurfsituation gewertet wird.
Es bleibt also nichts anderes übrig, als auf die endgültige Entscheidung zu warten. "Die Schiedsrichter haben die Möglichkeit des Videobeweises genutzt und die letzten Sekunden intensiv begutachtet. Ihre finale Entscheidung ist regelkonform. Die sportliche Enttäuschung unseres Gegners ob des dramatischen Spielendes verstehen wir, aber einem Protest der slowenischen Delegation sehen wir gelassen entgegen", teilte der DHB dazu mit.
Hanning: "Mit zwei blauen Augen davongekommen"
Bis es soweit ist, muss sich die deutsche Mannschaft ohnehin inhaltlich mit dem Auftritt gegen Slowenien auseinandersetzen. In den ersten 30 Minuten, in denen Deutschland zeitweise einem Sechs-Tore-Rückstand hinterher hechelte, passte nämlich in Angriff, Abwehr und bei den Torhütern so gut wie nichts.
"Wir haben in der ersten Halbzeit nicht das umgesetzt, was wir uns vorgenommen haben. Slowenien hat uns mit seiner Beweglichkeit und Härte beeindruckt. Miha Zarabec hat uns teilweise schwindelig gespielt", räumte der Bundestrainer ein. Auch Hanning gab zu, man sei "mit zwei blauen Augen davongekommen".
Prokop hebt das Positive hervor
Als grundsätzlich schlechtes Spiel wollten aber weder Trainer noch DHB-Vizepräsident den zweiten Auftritt bei dieser Europameisterschaft nach dem Sieg gegen Montenegro einordnen. Während Hanning betonte, die Mannschaft sei noch nicht am Ende ihrer Entwicklungsstufe angekommen, hob auch Prokop das Positive hervor.
"Wir sind trotz des Fünf-Tore-Rückstands zur Pause in dieser Atmosphäre zurückgekommen. Aber wir wissen auch, dass es bei dieser EM, bei der die Leistungsunterschiede so gering sind, entscheidend ist, konstant auf hohem Niveau zu spielen. Das haben wir heute nicht geschafft", sagte der 39-Jährige.
Am Mittwoch steht Deutschland gegen Mazedonien (18.15 Uhr im LIVETICKER) ein Endspiel bevor. Um mit drei Punkten in die Hauptrunde zu starten und damit eine gute Ausgangssituation mit Blick auf den Einzug ins Halbfinale zu haben, ist ein Sieg gegen Kiril Lazarov & Co. Pflicht.