1. Torhüter: Wolffs grauenhafte Ausbeute
Vor dem Turnier waren sich alle Experten einig: Mit Andreas Wolff und Jogi Bitter verfügt das DHB-Team über ein Torhütergespann, das die Position zwischen den Pfosten zu einer sorgenfreien Zone macht. Doch davon ist bislang nichts zu sehen.
Wolff präsentierte sich nach der ordentlichen Performance im Auftaktspiel gegen die Niederlande in den anschließenden Partien gegen Spanien und Lettland völlig von der Rolle. In 36 Minuten auf der Platte parierte der Held vom EM-Coup 2016 in Polen nur einen einzigen von 22 Würfen - eine erschütternd schlechte Ausbeute!
Bitter sollte eigentlich immer dann zur Stelle sein, wenn es beim Kielce-Keeper mal nicht läuft. Doch auch der Weltmeister von 2007 ist weit weg von seiner Bestform. Der 37-Jährige war gegen Oranje und zeitweise gegen Spanien noch passabel, wehrte gegen Lettland allerdings lediglich fünf von 26 Würfen ab und kam damit auf eine Gesamtquote von 19 Prozent.
2. Abwehr: Das Prunkstück ist weg
Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler bilden beim THW Kiel in schöner Regelmäßigkeit einen Mitteblock, der an eine Betonwand erinnert. Auch bei der Heim-WM 2019 waren die "Killer von der Förde" die wichtigste Waffe der deutschen Nationalmannschaft.
Vom einstigen DHB-Prunkstück ist aktuell nicht mehr viel übrig. Wenig Aggressivität, wenig Entschlossenheit, kein gutes Zusammenwirken mit den auf den Halbpositionen deckenden Mannschaftskollegen. Das DHB-Team kassierte in seinen bisherigen drei Partien - davon zwei gegen Teams, die nicht ansatzweise auf dem Niveau des DHB-Teams sein dürften - durchschnittlich 27,6 Gegentore. Warum gegen Lettland so lange eine 3-2-1-Abwehr gespielt wurde, gegen die Letten-Star Dainis Kristopans machen konnte, was er wollte, gab Rätsel auf.
Davon abgesehen besonders irritierend: Während "Bam Bam" im vergangenen Jahr die Fans mit seinen emotionalen Ausbrüchen nach jeder gelungenen Aktion von den Sitzen riss, fällt der Kreisläufer diesmal gar nicht auf. Auch von "Peke" sind positive, pushende Gesten in Richtung der Teamkollegen so gut wie gar nicht zu sehen.
"Wir haben es in diesem Turnier noch nicht geschafft, zu unserer Abwehr zu finden", räumte Pekeler nach dem Lettland-Spiel ein: "Vielleicht hilft es uns, in Wien vor einer volleren Halle zu spielen. Das will ich jetzt nicht als Ausrede gelten lassen: Aber in Trondheim vor gefühlt 100 Leuten zu spielen, macht nicht sonderlich viel Spaß."
Die Abwehr ist damit neben den Torhütern das zweite Puzzleteil, das bislang zu großen Teilen fehlt. Dabei müssen die Duos Wolff/Bitter und Wiencek/Pekeler eigentlich zwingend die Basis für eine erfolgreiche EM sein. In keinem Mannschaftsteil sonst - mit der Ausnahme von Uwe Gensheimer auf Linksaußen - gibt es im DHB-Team Akteure, die normalerweise das Prädikat Weltklasse verdienen.
3. Rückraum: Die fehlende Zuverlässigkeit
Dass die Prokop-Truppe nach der Absage von Martin Strobel über keinen klassischen Spielmacher im Kader verfügen würde, war bekannt. Es war ebenso klar, dass die Ausfälle von Steffen Weinhold, Fabian Wiede und Franz Semper diese Probleme verschärfen würden. Trotzdem ist es erschreckend, wie groß die Schwierigkeiten nun tatsächlich sind.
Weder Paul Drux noch Philipp Weber oder Marian Michalczik waren in der Vorrunde konstant in der Lage, dem Spiel ihren Stempel aufzudrücken oder ihre Mitspieler in Szene zu setzen. Kai Häfner ist mit durchschnittlich 3,3 Assists pro Partie der bislang mit Abstand beste Vorlagengeber im deutschen Team. Kein Wunder, dass auch das Spiel über die Kreisläufer meistens nur mäßig funktioniert.
Auch auf den Halbpositionen fehlt dem deutschen Team ein Mann im Rückraum, der konstant und zuverlässig abliefert. Julius Kühn überzeugte zwar mit vier und acht Toren gegen die Niederlande und Lettland, war dafür aber gegen Spanien kein Faktor.
Fabian Böhm erzielte in den ersten beiden Partien zwei und drei Treffer und mischte gegen Lettland gar nicht mit. Und Häfner, der im rechten Rückraum aufgrund der vielen Absagen eigentlich Leistung bringen muss, baute nach dem vielversprechenden Start gegen Oranje (5 von 5) in den folgenden Partien gegen Spanien (3 von 8) und Lettland (0 von 4) rapide ab.
4. Führungsspieler: Der fehlende Star
Mit Kapitän Uwe Gensheimer, Wolff, Bitter oder Pekeler verfügt Deutschland über Typen, die Führungsspieler sein können. Das Problem: Von ihren Positionen auf Linksaußen, im Tor oder am Kreis ist es unheimlich schwierig, großen Einfluss zu nehmen. Freilich wird es durch die Tatsache, dass es bei dem Quartett insgesamt bei dieser EM bislang nicht läuft, nicht leichter.
Ein Führungsspieler, der in entscheidenden Momenten das Kommando und die Verantwortung für das Spiel übernimmt, kann eigentlich nur aus dem Rückraum kommen. Es ist offensichtlich, dass dazu zumindest momentan weder Drux, Kühn, Böhm noch Häfner in der Lage sind.
Keiner dieser vier Spieler ist dafür vom Spielertyp her gemacht. Das DHB-Team verfügt nun mal nicht wie Mazedonien über einen Kiril Lazarov, wie Norwegen über einen Sander Sagosen oder wie Island über einen Aron Palmarsson.
"Wir hatten einfach keine Führung auf dem Platz und keinen, der es geschafft hat, das fallende Messer aufzuhalten", beschrieb DHB-Vizepräsident Bob Hanning nach der Pleite gegen Spanien die Situation: "Wenn du sieben einfache Tore über den Tempogegenstoß plus sieben einfache Tore von deinem Starspieler aus dem Rückraum bekommst, dann ist es natürlich einfacher, als wenn du es so lösen musst, wie wir es lösen müssen."
5. Prokop: Das Potenzial wird nicht ausgeschöpft
Wenn es nicht läuft, kommt Kritik am Trainer auf - so ist bekanntlich das Geschäft. Dass diese Kritik nach den bisherigen Auftritten des DHB-Teams aufkommt, ist alles andere als verwunderlich.
Das Spiel gegen die Niederlande war nicht mehr als okay. Obwohl das Team taktisch genau wusste, was auf es zukommt, tappte es gegen Spanien in die altbekannte Falle. Und gegen den Handball-Zwerg Lettland in einem Entscheidungsspiel ernsthaft in Bedrängnis zu geraten, ist einer deutschen Nationalmannschaft nicht würdig - Ausfälle hin oder her.
Prokop muss sich bisher ankreiden lassen, das vorhandene Potenzial im Kader nicht ansatzweise komplett auszuschöpfen. Auch über seine Ansprachen in den Auszeiten kann man sich streiten. "Bleibt handlungsorientiert", sagte der 41-Jährige beispielsweise in der Schlussphase gegen Lettland - man würde sich manchmal klarere Ansagen wünschen.
"Für Christian ist die Situation nicht einfach, er hat sich viel mit der Mannschaft vorgenommen. Aber es ist keine Situation, in der man irgendwelche Fehler zuordnen kann", sagte Hanning nach dem Spanien-Spiel. Sollte die deutsche Mannschaft in der Hauptrunde in Wien weiterhin so schwache Leistungen zeigen, werden garantiert Fehler zugeordnet.