Herr Gislason, insgesamt haben sechs Stammkräfte aus persönlichen Gründen oder wegen Verletzungen für die WM abgesagt. Hinzu kam jede Menge Corona-Wirbel. Mit welchem Gefühl starten Sie am Sonntag in die WM-Vorbereitung?
Alfred Gislason: Ich bin sehr gespannt, was mich erwartet. Ich freue mich aber richtig darauf. Es macht keinen Sinn, über die Ausfälle zu jammern. Wir müssen jetzt darauf schauen, wer da ist. Wir wollen sehen, was die jungen und weniger erfahrenen Spieler leisten können. Auf lange Sicht wird uns das sicherlich etwas bringen.
Genau sieben Trainingstage plus zwei Spiele in der EM-Qualifikation bleiben Ihnen bis zum Abflug nach Ägypten. Reicht das, um die völlig neu zusammengestellte Mannschaft mit fünf Turnier-Debütanten in WM-Form zu bekommen?
Gislason: Nein, das reicht natürlich gar nicht. Es ist viel zu wenig Zeit. Es ist umso schwerer, weil wir unser gewohntes Gerüst nicht mehr haben, vor allem in der Abwehr. Wir müssen deshalb noch gezielter arbeiten. Uns bleiben zur Vorbereitung vier Spiele, bis das Endspiel in der Gruppe gegen Ungarn ansteht. Wir müssen erst einmal zusammenfinden, zudem im taktischen Bereich weiterkommen und die Spiele dann auch noch gewinnen - das ist eine schwierige Kombination.
Und Johannes Golla ist dabei plötzlich ihr erster Kreisläufer ...
Gislason: Johannes Golla wird ein extrem wichtiger Spieler für uns sein, im Angriff und in der Abwehr. Er hatte aber eine schwere Fußverletzung. Ich kann also nicht davon ausgehen, dass er jedes Spiel 60 Minuten spielen kann. Deswegen ist es umso wichtiger, auch andere Lösungen für den Innenblock zu finden.
Wo liegen die Schwerpunkte in den kommenden Tagen?
Gislason: Das größte Kopfzerbrechen bereitet mir die Abwehr. Darauf wird der Schwerpunkt liegen. Ich werde am Anfang auf die Schnelle versuchen, eine 5:1-Abwehr zu trainieren. Ich werde aber auch schauen, ob eine 3-2-1-Deckung für uns eine Alternative ist. Wir müssen unbedingt Sicherheit bekommen und in der Abwehr vorankommen.
Sie haben in Ihrem erfolgreichen Trainerleben viel erlebt. Wird die bevorstehende WM Ihr schwerster Job?
Gislason: Ja, das kann man sicherlich so sagen. Jede Aufgabe, die ich hatte, war anders schwer. Aber das Besondere dieses Mal ist, dass ich extrem wenig Zeit habe, etwas zu machen. Ich bin 30 Jahre Trainer und weiß: Ich kann nicht etwas in zwei Tagen so einstudieren, wie ich mir es vorstelle. Ich bin aber auch gespannt, wie schnell die Spieler die Inhalte aufgreifen. Ich habe den Spielern vorab schon viele Sachen ins Netz gestellt. Wir müssen das spielen, was uns liegt. Ich freue mich zu erfahren, wie schnell die Jungs sich einbringen.
Sie werden im Januar wieder im Fokus eines Millionenpublikums stehen. Was können Sie den Leuten versprechen? Was wird die deutsche Mannschaft unter Alfred Gislason zeigen?
Gislason: Ich kann versprechen, dass die Mannschaft alles geben wird. Wir wissen aber überhaupt nicht, wo wir stehen. Nach den beiden Österreich-Spielen in der EM-Qualifikation kann ich vielleicht mehr sagen, wo die Reise hingeht. Es ist klar, dass wir weit weg von einer Favoritenrolle sind in diesem Turnier.
Der Jahreswechsel ist auch die Zeit zurückzuschauen. Abgesagter Einstand im Frühjahr, ausgefallene Olympia-Quali im April, verschobenes Olympia-Turnier im Sommer, Corona-Schlagzeilen rund um Ihr DHB-Debüt im Herbst: Wie fällt das Fazit Ihrer ersten zehn Monate als Bundestrainer aus?
Gislason: Es hätte kaum schlimmer kommen können, ganz ehrlich. Das war nicht vorherzusehen und ist frustrierend, wie das gelaufen ist. Ich hoffe, dass so ein Jahr nie wiederkommt und wir bald wieder zur Normalität übergehen können.
Sorgen Sie sich um die Sportart Handball?
Gislason: Ja, natürlich. Es ist momentan schwierig für die Klubs, sich zu finanzieren. Der Handball lebt von den Zuschauereinnahmen, viel mehr als andere Sportarten, und von regionalen Sponsoren. Deswegen wird es auf Dauer schwer sein, unter den aktuellen Bedingungen zu überleben. Deshalb mache ich mir Sorgen um den Handball, und es ist in meinen Augen wichtig, diese WM zu spielen, um präsent zu bleiben.
Was wünschen Sie sich für 2021 - für den Handball und für sich?
Gislason: Viel (lacht). Ich wünsche mir, dass die Corona-Pandemie verschwindet - auch wenn es momentan nicht danach aussieht. Aber vielleicht lässt sich das Virus durch die Impfungen besser in den Griff kriegen. Dann käme wieder mehr Normalität in unser Leben. Für mich persönlich wünsche ich mir, meine Enkelkinder wiederzusehen. Als vierfacher Opa kann ich zurzeit nicht nach Island fliegen, wann ich es will, und meine Enkel besuchen. Den Klubs wünsche ich, dass sie sich erholen von den schweren Rückschlägen der vergangenen Monate.
Und was wünschen Sie sich für Ihre Mannschaft bei der WM?
Gislason: Erstes Ziel ist der Gruppensieg in der Vorrunde. Das wird nicht einfach. Bis dahin müssen wir viel erarbeiten.