Handball-EM - DHB-Kader im Check: Big Foot, Formel-1-Freak und ein Sack voller Nobodys

Felix Götz
14. Januar 202210:37
Das DHB-Team ist bei der EM in Ungarn und der Slowakei lediglich Außenseiter.imago images
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Am Freitag startet die deutsche Handball-Nationalmannschaft mit dem Spiel gegen Belarus (18 Uhr im LIVETICKER) in die EM 2022 in Ungarn und der Slowakei. Auf welchen Positionen ist das mit acht Turnierdebütanten gespickte Team von Bundestrainer Alfred Gislason gut besetzt - und wo drückt der Schuh? SPOX nimmt den DHB-Kader unter die Lupe.

Deutschland ist lediglich mit 17 statt der erlaubten 20 Spieler nach Bratislava gereist. Gislason darf aber jederzeit Spieler nachnominieren, insgesamt bis zu sechs. Aufgrund der Coronasituation kann der Isländer in absoluten Notfällen diesmal sogar auf Akteure zurückgreifen, die nicht in seinem erweiterten 35er-Kader stehen.

Vor jeder Partie muss der 62-Jährige einen 16er-Kader benennen. Für die gesamte Vorrunde wurden 19 Mann nominiert - neben den 17 Spielern, die in der Slowakei weilen, stehen auch Torhüter Joel Birlehm (SC DHfK Leipzig), der mit der deutschen Auswahl die gesamte Vorbereitung in Großwallstadt absolviert hat, und Kreisläufer Sebastian Firnhaber (HC Erlangen) auf der Liste.

Jannik Kohlbacher (Rhein-Neckar Löwen) steht zumindest im erweiterten Kader, ist aber ebenfalls nicht mit in die Slowakei geflogen. Der Kreisläufer plagt sich mit einer Adduktorenverletzung herum und wird frühestens zur Hauptrunde einsatzbereit sein.

Tor

NameVereinLänderspieleTore
Andreas WolffVive Kielce11813
Till KlimpkeHSG Wetzlar90

Wolff ist neben Julius Kühn, Simon Ernst und Kai Häfner einer von vier verbliebenen EM-Helden von 2016 und spielt inklusive zweier Olympia-Teilnahmen sein neuntes Turnier in Folge. Bis Ende Oktober hatte der 30-Jährige in Kielce große Probleme. Er erhielt wenig Einsatzzeit und zeigte maue Vorstellungen.

Mittlerweile passt seine Form allerdings, bei den finalen Testspielen gegen die Schweiz (30:26) und Frankreich (35:34) hielt der Euskirchener stark. Auffällig: Im Gegensatz zu früheren Turnieren hielt sich Wolff, der als klare Nummer 1 in die EM geht, bislang mit großen Ansagen zurück.

Im Vergleich zu den Olympischen Spielen in Tokio steht außer Wolff kein weiterer erfahrener Torhüter im Kader. Jogi Bitter steht nur noch im Notfall zur Verfügung, Silvio Heinevetter wurde nicht berücksichtigt.

Stattdessen ist der 23-jährige Klimpke erstmals dabei. Der Wetzlar-Keeper, aufgrund seiner riesigen Füße "Big Foot" genannt, kommt in der laufenden HBL-Saison auf durchschnittlich 6,7 Paraden pro Partie und eine Quote von 30,81 Prozent gehaltener Bälle.

Fazit: Das DHB-Team ist im Tor ordentlich, aber keinesfalls auf allerhöchstem Niveau besetzt. Wolff, der an seine Heldentaten von der EM 2016 in den vergangenen Jahren nur noch selten anknüpfen konnte, muss zwingend abliefern. Der Status als klare Nummer 1 sollte ihm Selbstvertrauen geben und helfen. Ein guter Start ins Turnier wäre für seine Psyche besonders wichtig. Klimpke ist eine gute Rolle als Nummer 2 zuzutrauen.

Linksaußen

NameVereinLänderspieleTore
Marcel SchillerFrisch Auf Göppingen31133
Lukas MertensSC Magdeburg47

Uwe Gensheimer ist nach den Olympischen Spielen aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Schiller hat allerdings bereits mehrfach bewiesen, dass er ein mehr als würdiger Nachfolger ist. Der 30-Jährige belegt aktuell mit 99 Toren in 17 Partien Rang fünf in der HBL-Torschützenliste und ist damit der deutsche Spieler mit den meisten Treffern.

Schiller war auch in den letzten beiden Testspielen mit insgesamt 12 Buden bester DHB-Werfer. Der Schwabe wird außerdem als Siebenmeterschütze eine wichtige Rolle spielen.

Mit Turnier-Debütant Mertens verfügt die DHB-Auswahl über einen zweiten zuverlässigen Linksaußen. Das 25-jährige Athletik-Wunder hat zahlreiche Wurfvarianten auf Lager. In der Bundesliga führt er mit Magdeburg die Tabelle an. Sein Beitrag: 61 Tore in 17 Spielen und eine Trefferquote von 76,25 Prozent.

Fazit: Schiller und Mertens sollten die Linksaußen-Position zu einer sorgenfreien Zone machen, wobei Schiller als klare Nummer 1 ins Turnier geht.

Rückraum links

NameVereinLänderspieleTore
Julius KühnMT Melsungen87272
Sebastian HeymannFrisch Auf Göppingen1425
Julian KösterVfL Gummersbach43

Der Ausfall von Paul Drux, dessen Körper nach zwei Knieoperationen nach einer Pause schreit, ist bitter. Umso mehr ist das DHB-Team auf der Königsposition von Kühns Wurfgewalt abhängig.

Der "Jackpot", der als absoluter Formel-1-Freak gilt, agierte in der Vorbereitung mit viel Selbstvertrauen. In der laufenden HBL-Saison erzielte er durchschnittlich 4,5 Tore pro Partie.

Obwohl Heymann erstmals dabei ist, wird er gleich eine große Rolle in Angriff und Abwehr spielen. Der 23-Jährige, der in der HBL mehr Tore (5,1) und eine bessere Quote (63,78) als Kühn verbuchte, hat einen guten Wurf und weiß auch spielerisch zu überzeugen. "Heymann ist ein extrem wichtiger Spieler für uns", bekräftigte Gislason.

Und dann wäre da noch Köster, mit seinen 21 Jahren das "Küken" und einziger Zweitligaspieler im Team. Der gebürtige Bielefelder gilt als eines der größten Rückraum-Talente im deutschen Handball und ist außerdem als Spielmacher sowie in der Abwehr einsetzbar.

Fazit: Das DHB-Team ist auf der Königsposition weit von einer Weltklasse-Besetzung entfernt. Spannend ist das nominierte Trio aber allemal. Einiges deutet darauf hin, dass in Gislasons System zunächst Heymann die erste Geige vor Kühn spielen wird. Der Göppinger könnte die positive Überraschung des Turniers aus deutscher Sicht werden.

Rückraum Mitte

NameVereinLänderspieleTore
Philipp WeberSC Magdeburg55135
Luca WitzkeSC DHfK Leipzig44
Simon ErnstSC DHfK Leipzig4336

Deutschlands Spielmacher-Nachwuchshoffnung Juri Knorr ist nicht geimpft und darf somit nicht teilnehmen. Wie schon bei den vergangenen Turnieren wird also sehr viel von Weber abhängen, der unter Gislason einen großen Schritt nach vorne gemacht hat.

Der 29-Jährige, der im Sommer von Leipzig nach Magdeburg gewechselt ist, verfügt über eine gute Übersicht und kann mit seinen schnellen ersten Schritten Löcher in die gegnerische Deckung reißen. Allerdings bekommt Weber (1,6 Tore und 0,4 Assists pro Partie) beim SCM wenig Spielanteile - und diese auch noch häufig im linken Rückraum. Trotz seiner gegen Frankreich erlittenen Schulterverletzung wird Weber wohl rechtzeitig fit werden.

Mit Witzke, der erst im November sein Nationalmannschafts-Debüt feierte, ist ein weiterer Neuling Gislasons zweiter verlängerter Arm auf dem Spielfeld. Beim Sieg gegen Frankreich tankte der 22-Jährige viel Selbstvertrauen, als er in letzter Sekunde das Siegtor erzielte. Witzke spielt mit 3,1 Toren und 3,1 Assists pro Spiel eine gute HBL-Saison.

Mit Ernst steht ein dritter nomineller Spielmacher im Kader. Der 27-Jährige, der sich nach drei Kreuzbandrissen beeindruckend zurückgekämpft hat, wird voraussichtlich vor allem in der Abwehr gefragt sein.

Fazit: Dass Deutschland ein Weltklasse-Spielmacher fehlt, ist altbekannt. Nichtsdestotrotz wird Weber der Schlüssel für eine erfolgreiche EM sein. Er genießt mangels Alternativen zurecht das volle Vertrauen von Gislason und muss das Team bestmöglich lenken.

Rückraum rechts

NameVereinLänderspieleTore
Kai HäfnerMT Melsungen114247
Djibril M'BengueFC Porto48
Christoph SteinertHC Erlangen612

Steffen Weinhold hat seine DHB-Karriere beendet, Fabian Wiede verzichtet aus familiären Gründen auf die EM. Das bedeutet: Einmal mehr lastet ein bedeutender Teil der deutschen Hoffnungen auf Häfners Schultern. Die gute Nachricht: Der 32-Jährige befindet sich in hervorragender Verfassung.

Häfner stellte in der Vorbereitung (acht Treffer gegen Frankreich) mit seiner Übersicht und seinen Durchbrüchen seine Stärken unter Beweis. In der HBL ist der EM-Held von 2016 aktuell mit 3,2 Assists pro Spiel bester deutscher Vorlagengeber. Auch seine 70 Tore in 17 Einsätzen können sich sehen lassen.

Dahinter lauern mit M'Bengue und Steinert zwei weitere Debütanten. "Djibi", der im kommenden Sommer zum Bergischen HC wechseln wird, ist bereits 29 Jahre alt und durfte seit 2018 in Porto nicht nur zwei Double-Gewinne feiern, sondern auch Champions-League-Luft schnuppern.

"Er ist ein Spätentwickler, aber topfit und ein sehr angenehmer Typ", sagt Gislason über den Sohn eines senegalesischen Vaters und einer deutschen Mutter. M'Bengue zeichnet unter anderem ein harter Wurf aus.

Komplettiert wird das Ensemble im rechten Rückraum durch "Steini", der sogar bereits 31 Jahre alt ist. Er ist auf und neben der Platte kaum aus der Ruhe zu bringen. Mit 41 versenkten Siebenmetern gehört er in dieser Kategorie in der laufenden Saison zur HBL-Spitze. Diese Aufgabe wird auf Steinert, der auch auf Rechtsaußen eingesetzt werden kann, neben Schiller auch bei der EM zukommen.

Fazit: Durch das Fehlen von Weinhold und Wiede geht viel Qualität verloren. Entscheidend wird sein, dass das Zusammenspiel - wie schon in der Vergangenheit häufiger gesehen - zwischen Häfner und Weber reibungslos klappt. Eine konstant gute Vorstellung von Häfner ist unabdingbar.

Timo Kastening tritt mit dem DHB-Team bei der EM in Ungarn und der Slowakei an.imago images

Rechtsaußen

NameVereinLänderspieleTore
Timo KasteningMT Melsungen40136
Lukas ZerbeTBV Lemgo46

Tobias Reichmann wurde nicht berücksichtigt, Patrick Groetzki sagte aus familiären Gründen ab. Der 26-jährige Kastening (3,9 Tore pro HBL-Spiel) wird die Hauptlast tragen müssen. Dass Deutschlands Handballer des Jahres 2020 dazu in der Lage ist, hat er nicht zuletzt bei Olympia gezeigt.

Als Backup steht ein Mann parat, dessen Name an eine ruhmreiche Vergangenheit erinnert. Lukas Zerbe ist der Neffe von Volker Zerbe, der 2004 mit dem DHB-Team Europameister wurde. In Anlehnung an den Spitznamen seines Onkels ("Zebu") wird der Rechtsaußen "Little Zebu" genannt. Der 25-Jährige kann auch in der Abwehr wichtige Beiträge leisten.

Fazit: Performt Kastening wie gewohnt, ist die Rechtsaußen-Position eine ebenso sorgenfreie Zone wie die Linksaußen-Position. "Little Zebu" wird demnach vermutlich nur sporadisch zum Einsatz kommen.

Kreis

NameVereinLänderspieleTore
Johannes GollaSG Flensburg-Handewitt3594
Patrick WiencekTHW Kiel153308

Nach Gensheimers Abschied neuer Kapitän, im Mittelblock überlebenswichtig und im Angriff am Kreis gefragt: Vermutlich wird - auch weil Hendrik Pekeler eine Nationalmannschaftspause einlegt - kein Spieler im aktuellen DHB-Aufgebot so sehr gebraucht wie Golla (48 HBL-Tore bei einer Trefferquote von 81,36 Prozent).

"In der jetzigen Kaderkonstellation ist er die ideale Besetzung. Obwohl er erst 24 Jahre alt ist, ist Johannes bereits sehr weit im Kopf. Er ist im Angriff und in der Abwehr absolute Weltklasse und verkörpert diese neue Art von Kapitän. Er ist kein Haudegen und kein Lautsprecher, versteht es aber sehr gut, im Hintergrund in ruhigen Gesprächen die Dinge zu managen", sagte Kastening im Interview mit SPOX über den Flensburger.

Alternativ steht Gislason mit dem 32-jährigen Wiencek der älteste und mit Abstand erfahrenste Spieler zur Verfügung. "Ich fühle mich als Opa", so der Kieler. Da Kohlbacher vorerst nicht zur Verfügung steht, wird "Bam Bam" auch im Angriff einspringen müssen. In der Liga verzeichnete er bislang 2,7 Tore pro Partie, während seiner gesamten DHB-Laufbahn 2,1 Treffer pro Spiel.

Fazit: Mit Pekeler steht einer der wenigen deutschen Weltklassespieler der vergangenen Jahre nicht zur Verfügung. Da auch "Kohli" erstmal passen muss, bricht am Kreis viel Qualität weg. Es bleibt abzuwarten, wie Golla mit seiner neuen Rolle als Mann für alle Fälle klarkommt.

Mittelblock

NameVereinLänderspieleTore
Johannes GollaSG Flensburg-Handewitt3594
Patrick WiencekTHW Kiel153308
Sebastian HeymannFrisch Auf Göppingen1425

Golla und Wiencek sind absolute Spezialisten für diese Aufgabe und dürften Gislasons erste Wahl sein. Allerdings macht sich natürlich auch in der Abwehr das Fehlen von Pekeler bemerkbar. Obendrein fehlt auch noch Finn Lemke verletzungsbedingt.

Somit rückt Heymann in den Fokus. Der Göppinger hat definitiv das Zeug dazu, in Angriff und Abwehr eine wichtige Rolle zu spielen. Sein Vorteil: In Phasen, in denen der Bundestrainer auf ihn in Angriff und Abwehr setzt, muss einmal weniger gewechselt werden.

Fazit: Von den Olympischen Spielen ist nur noch Golla übriggeblieben. In der Vorbereitung waren Abstimmungsprobleme nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem darf man dem Trio Golla, Wiencek und Heymann im Verbund mit den Torhütern zutrauen, eine gute Abwehr zu stellen.

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Schlussfazit

Klammert man die Außenpositionen aus, bleiben eigentlich in allen Bereichen gewisse Zweifel und Fragezeichen bestehen. Auf dem Papier ist Deutschland mit den zahlreichen Neulingen, die auf internationaler Bühne Nobodys sind, definitiv nicht gut genug besetzt, um es konstant mit den großen Nationen aufzunehmen.

Exakt darin könnte allerdings die große Chance liegen. Die Erwartungshaltung ist überschaubar, die Auslosung mit den Vorrundengegnern Belarus, Österreich und Polen günstig.

Sollte sich das Team als solches schnell finden, die gestandenen Nationalspieler ihre Leistung abrufen, der eine oder andere Debütant über sich hinauswachsen, alle drei Vorrundenspiele gewonnen und damit Punkte in die Hautprunde mitgenommen werden, ist eine Überraschung zumindest nicht auszuschließen.

Handball-EM: Der Spielplan der deutschen Gruppe

DatumUhrzeitTeam 1Team 2
Fr., 14. Januar18 UhrDeutschlandBelarus
Fr., 14. Januar20.30 UhrÖsterreichPolen
So., 16. Januar18 UhrDeutschlandÖsterreich
So., 16. Januar20.30 UhrBelarusPolen
Di., 18. Januar18 UhrPolenDeutschland
Di., 18. Januar20.30 UhrBelarusÖsterreich