Wer Steffen Baumgart während seiner Zeit beim 1. FC Köln oder dem SC Paderborn erlebt hat, weiß, dass der gebürtige Rostocker nach außen hin nicht den oftmals diskutierten modernen Trainer verkörpert. Doch so "old school" Baumgart auch zuweilen wirkt, seine Arbeit als Trainer ist alles andere als aus der Zeit gefallen.
Generell steht der ehemalige Angreifer für einen Fußball, der vor allem über das Positionsspiel und weniger das Passspiel der eigenen Mannschaft Druck erzeugen soll. Das wurde zuletzt während seiner Zeit in Köln offensichtlich, als der Effzeh nie zu den ballsichersten Teams gehörte, aber aufgrund der relativen Dichte im Mittelfeld Ballverluste im besten Fall abfedern oder sogar zum eigenen Vorteil nutzen konnte.
Basis dafür war zumeist eine Mittelfeldraute, die Anteil daran hatte, dass Köln in der vergangenen Saison zusammengerechnet die meisten Tacklings und Interceptions produzierte. Ohne diese Intensität gegen den Ball - abseits der vorskizierten Pressingarbeit - hätte das ganze Spielsystem von Köln aufgrund des hohen Risikos im eigenen Offensivspiel nicht funktioniert. In der Saison 2022/23 blieb Köln auch aufgrund von Abschlusspech und zwischenzeitlich mittelmäßigen Leistungen der Hintermannschaft hinter den eigenen Möglichkeiten zurück.
Nun kommt Baumgart zu einem Team, welches die eigenen Ambitionen erst recht nicht erfüllt. Der offensive Fußball während der zweieinhalbjährigen Amtszeit von Tim Walter war noch weniger als jener von Baumgart auf Stabilität ausgerichtet, wobei in dieser Saison phasenweise kein klassischer Walter-Ball gespielt wurde, was unter anderem am Fehlen der Innenverteidiger Sebastian Schonlau und Mario Vušković lag. Insofern ist mit der Ankunft von Baumgart kein krasser Wandel im Spielstil zu erwarten.
Zudem hat der neue HSV-Trainer nicht den Vorteil, dass er eine Mannschaft vorfindet, die mit ihrem vorherigen Trainer im Clinch lag. Baumgart mag ein guter Motivator sein, aber der gleichfalls intensive Walter hatte bis zum Ende seiner Amtszeit die Kabine auf seiner Seite. Es liegt also am Team, sich in dieser sportlichen Lage auf einen neuen Trainer einzulassen.
Hamburger SV unter Tim Walter: Viele Tore, wenig Kontrolle
Abgesehen von den Herausforderungen, die mit einem Trainerwechsel einhergehen können, stellt sich die Frage, weshalb es der HSV auch in diesem Jahr nicht geschafft hat, die Liga entsprechend der eigenen Erwartungshaltung anzuführen. Sieben beziehungsweise vier Punkte liegt man aktuell hinter Stadtrivale FC St. Pauli und Holstein Kiel sowie lediglich einen Punkt vor Hannover 96.
Nur drei Spieltage lang, in der Frühphase der Saison, waren die Hamburger Tabellenführer. Danach folgte nicht nur eine sportliche, sondern auch emotionale Berg- und Talfahrt. Denn nach vielversprechenden Siegen etwa gegen andere große Traditionsclubs kam es häufig zu ernüchternden und zuweilen auch wilden Remis und Niederlagen wie dem 3:4 gegen Hannover in Walters letzter Partie.
Klar unterlegen war der HSV in keinem Spiel und dank Robert Glatzel, László Bénes und einigen anderen auch stets torgefährlich. Doch regelmäßig zerstörten Gegentreffer gerade auch in den Schlussphasen von Spielen die Siegchancen der Hamburger. Das Spielsystem von Walter war nicht darauf ausgerichtet, dass sich sein Team in kompakter Formation in der eigenen Hälfte positionieren und effektiv gegen den Ball arbeiten würde.
Stattdessen war das Fundament des Hamburger Spiels stets die Spieleröffnung und das Entwickeln von Angriffen. Dadurch waren Ballverluste trotz einer grundsätzlichen Passstärke unvermeidlich. In vielen Fällen konnte der HSV den Ball auch recht schnell zurückerobern, aber eben nur dann, wenn man Spieler in Ballnähe postiert hatte.
Hier und da erzeugte der HSV allerdings keinen Zugriff mehr und es brachen defensiv gesehen alle Dämme. Obendrauf kamen individuelle Fehler, ein etwas inkonstanter Torwart und das Fehlen von zwei Innenverteidigern mit Schonlau und Vušković, die zusammen im Spielaufbau wohl noch mehr Kreativität ausstrahlen würden als die zuletzt angestammten Kräfte. Und schon mäandert der HSV ein weiteres Mal durch eine Zweitligasaison verfolgt von der steigenden Angst, dass es auch in diesem Jahr nicht für die Rückkehr in die Bundesliga reichen könnte.
HSV: Steffen Baumgart und Sebastian Schonlau kennen sich
Nun kommt Baumgart ins Spiel, der bis dato Teams zumeist in der Sommerpause nach seinen Vorstellungen formen durfte. Das war zum Beispiel in Köln der Fall, in Paderborn übernahm er kurz vor Saisonende, um den Abstieg aus der 3. Liga zu verhindern. Der Nicht-Abstieg gelang schlussendlich nur am grünen Tisch, aber Baumgart hatte anschließend Zeit einen partiellen Umbruch einzuleiten. Bei seiner neuen Aufgabe muss er nun für eine Weile mit jenem Team arbeiten, das er vorfindet und das zuletzt viel Walter-Ball, wenngleich in dieser Saison in abgeschwächter Form, gespielt hat.
Eine essenzielle Rolle könnte Schonlau einnehmen, den Baumgart aus gemeinsamen Jahren in Paderborn kennt und dessen Aufstieg vom Dritt- zum Erstligaspieler er bekleidet hat. Schonlaus persönliche Entwicklung sei laut Baumgart enorm. "Deswegen wird er sehr wichtig für mich. Nicht nur als Spieler, sondern als Persönlichkeit", sagte der 52-Jährige in dieser Woche. Schonlau wie auch Jonas Meffert oder Ludovit Reis werden entscheidend dafür sein, dass Baumgart eben jene Effektivität gegen den Ball erreicht, die es für diese Hamburger Mannschaft braucht, damit man Spiele besser kontrollieren kann.
Baumgart ist keiner, der für klassische Spielkontrolle steht. Deshalb ist die Aufgabe im Volkspark auch für ihn eine besonders knifflige und wohl auch spannende. Immerhin ist er selbst Anhänger des HSV. "Ich bin Fan geworden, da war der HSV noch eine Größe. Seitdem bin ich drangeblieben", sagte er einmal. Der HSV war besonders erfolgreich in einer Zeit, in die Baumgart als Typ hineingepasst hätte. Im Jahr 2024 ist er jedoch in erster Linie die vorerst letzte Hoffnung für den großen Traditionsverein aus dem Norden, der Zweitklassigkeit zu entfliehen.