"Deutschland homosexuell" und Leon Goretzkas Herz: Was passiert diesmal gegen Ungarn?

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© Getty Images / SPOX

Wie schon bei der EM 2021 trifft Deutschland am Dienstag (18 Uhr) erneut auf Ungarn. Damals dominierten rund ums DFB-Team politische Debatten, letztlich formte Leon Goretzka ein Herz und Deutschland kam weiter. Was passiert am Mittwoch in Stuttgart?

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Deutschlands abschließendes Gruppenspiel der EM 2021 gegen Ungarn neigte sich in der Münchner Arena schon bedrohlich dem Ende entgegen, als Leon Goretzka das DFB-Team mit seinem Treffer zum 2:2 doch noch rettete. Aus etwa 15 Metern drosch er den Ball ins Tor und Deutschland auf Kosten der Ungarn ins Achtelfinale, wo dann gegen England Endstation war.

Goretzkas Treffer blieb aber nicht nur wegen seiner sportlichen Relevanz in Erinnerung, sondern auch wegen seiner politischen: Beim Jubel lief er vor Ungarns schwarzen Fanblock und formte mit beiden Händen ein Herz. Anschließend postete er ein Foto des Jubels bei Instagram und schrieb dazu: "Spread Love". Ein starkes Zeichen vor den Hintergründen des Spiels, das sich vorab zu einer hochpolitischen Veranstaltungen entwickelt hatte.

Weil Ungarn kurz vor der EM ein Gesetz verabschiedet hatte, das die öffentliche Aufklärung über Homo- und Transsexualität verbot, wollten der DFB und der Münchner Stadtrat die Arena während des Spiels in Regenbogenfarben erleuchten. In Deutschland riefen die Pläne ein weitestgehend positives Echo hervor, auch ungarische Spieler wie Willi Orban von RB Leipzig begrüßten sie. Ungarns Außenminister Peter Szijjarto empörte sich dagegen: "Es ist äußerst schädlich und gefährlich, Sport und Politik zu vermischen." So sah es auch die UEFA, als Ausrichter des Turniers verbot sie die Regenbogen-Beleuchtung.

Unvergessenes Bild: Leon Goretzka jubelt nach seinem Tor zum 2:2 bei der EM 2020 gegen Ungarn.
© getty

Ungarns Carpathian Brigade sorgte in München für Skandale

Dafür nutzten die Mitglieder von Ungarns dominierender Fan-Gruppierung Carpathian Brigade das Spiel, um ihre politischen Einstellungen zu unterstreichen. "Das ist eine paramilitärische Gruppe, die aus Neonazis besteht. Sie ist die gewalttätigste und auch einflussreichste Gruppe in der Kurve", sagte Balint Josa von einer ungarischen NGO damals bei Vice. Normalerweise halten es die etwa 500 bis 1000 Fans mit unterschiedlichen ungarischen Klubs, bei Länderspielen vereinen sie sich ganz in schwarz gekleidet hinter der Nationalmannschaft.

Nachdem Mitglieder der Carpathian Brigade beim vorangegangenen Spiel gegen Frankreich dunkelhäutige Spieler mit Affenlauten bedacht hatten, zeigten sie vor der Partie gegen Deutschland im Zentrum Münchens Hitlergrüße. In der wegen Corona-Regularien nur teilweise gefüllten Arena skandierte sie "Deutschland, Deutschland homosexuell" und versuchte einen Block mit deutschen Fans zu stürmen. Die Polizei intervenierte, Goretzka zeigte sein Herz, Ungarn scheiterte dramatisch als Gruppenletzter.

Dieses Schicksal droht nun erneut: Ungarn verlor das erste Gruppenspiel gegen die Schweiz in Köln mit 1:3 - die Carpathian Brigade war wieder vor Ort. Beim Marsch zum Stadion kam es lediglich zu kleineren Zwischenfällen, Eskalationen wie damals in München blieben aus. Der Einsatzleiter der Polizei Köln Martin Lotz sprach anschließend von einem "weitestgehend störungsfreien Einsatzverlauf".

Am Wiener Platz campierten derweil am späten Nachmittag die ungarischen Gäste-Fans, die meisten unter ihnen Mitglieder der Carpathian Brigade, die bereits beim EM-Spiel gegen Frankreich für einen Eklat gesorgt hatten.
© getty

Ungarn gegen Deutschland? "Größtes Auswärts-Spektakel unserer Gruppe"

Der Hauptfokus der Carpathian Brigade liegt aber ohnehin auf dem zweiten Gruppenspiel gegen Deutschland. In einem vor der EM veröffentlichten Statement kündigte sie für die Partie in Stuttgart etwas vage "das größte Auswärts-Spektakel unserer Gruppe" an, geplant sind unter anderem eine Choreographie und ein Marsch zum Stadion - am Mittwoch-Vormittag warnten sie in einer weiteren Mitteilung vor deutsche Anhängern.

Ungarns Fans treffen sich ab 12 Uhr am Mittleren Schlossgarten in unmittelbarer Nähe des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Deutschlands Fanmarsch beginnt um 14.30 Uhr im rund 1,5 Kilometer entfernten Stadtgarten. Für das Spiel sind Ungarn offiziell 10.000 Tickets zugeteilt. "Aber unsere Fans sind sehr kreativ, wenn es darum geht, an Karten zu kommen", sagte Keeper Peter Gulacsi der Bild. "Ich glaube, das wird ein Auswärtsspiel für euch!" Insgesamt erwartet Stuttgart bis zu 20.000 Ungarn.

Nach der stimmungsvollen wie friedlichen EM-Eröffnung gegen Schottland ist die Partie gegen Ungarn - bei der pikanterweise Deutschlands pinkes Auswärtstrikot sein Debüt bei der EURO feiern wird - das brisanteste Vorrundenspiel des DFB-Teams. Die Polizei deklarierte es zu einem Hochrisikospiel und warnte vor "einem hohen Gefährdungspotenzial von Auseinandersetzungen".

Immerhin blieben diesmal im Vorfeld politische Debatten aus. Überhaupt verläuft das Turnier aus deutscher Sicht diesbezüglich verhältnismäßig ruhig. Kein Vergleich beispielsweise zu Frankreich, wo einige Nationalspieler wie Kylian Mbappé ob des Rechtsrucks bei den Europawahlen mit starken Statements öffentlich Stellung bezogen. Der Grat zwischen Haltung und Ablenkung ist dabei stets ein schmaler.

Das DFB-Team hielt sich beim Mannschaftsfoto demonstrativ den Mund zu.
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Politische Debatten überschatteten die drei vergangenen Turniere

Beim DFB sorgte vor Turnier-Beginn lediglich eine aufsehenerregende WDR-Umfrage für etwas Wirbel. 21 Prozent der Befragten bejahten dabei eine Frage, ob sie sich eine "weißere Nationalmannschaft" wünschen würden. Durch resolute Aussagen wurde die Thematik aber schnell abmoderiert. Seitdem herrscht Ruhe. Eine angenehme wie ungewohnte Turnier-Situation für den DFB, standen neben der EM 2021 doch auch die beiden vergangenen Weltmeisterschaften ganz im Zeichen politischer Debatten.

2018 sorgte ein Foto von Ilkay Gündogan und Mesut Özil mit dem türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan für Wirbel. Während Gündogan den deutsche Sturm der Entrüstung relativ schadlos überstand und mittlerweile sogar als DFB-Kapitän fungiert, trat Özil nach dem Turnier mit Rassismus-Vorwürfen aus dem DFB-Team zurück und fiel zuletzt mit einer gewissen Nähe zu der rechtsextremen türkischen Gruppierung der Grauen Wölfe auf.

Noch politischer wurde es bei der aus vielerlei Gründen umstrittenen WM 2022 im autoritär regierten Wüsten-Emirat Katar. Als Zeichen für Vielfalt und Toleranz ließen sich die west- und nordeuropäischen Verbände die sogenannte One-Love-Kapitänsbinde mit einem Herzen in Regenbogenfarben einfallen. Die FIFA untersagte die Pläne aber, der DFB knickte - gemeinsam mit den anderen beteiligten Verbänden - aus Angst vor Punktabzügen ein und schickte Kapitän Manuel Neuer stattdessen mit einer FIFA-Binde ins Eröffnungsspiel.

Wie bei der gescheiterten Arena-Beleuchtung 2021 erlitt der DFB beim Versuch, ein Zeichen zu setzen, letztlich einen Gesichtsverlust. Für das Zeichen sorgten dafür die Spieler selbst, indem sie sich beim Mannschaftsfoto vor dem Eröffnungsspiel gegen Japan (1:2) symbolisch die Hände vor ihre Münder hielten. Befürwortet hatten diese Geste aber nicht alle Spieler - als treibende Kräfte galten Neuer und der Herz-Held von 2021, Goretzka. Beim Wiedersehen mit Ungarn am Dienstag wird Neuer erneut im Tor stehen, Goretzka fehlt in Julian Nagelsmanns Aufgebot.

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