Philipp Boy hatte seit Minuten seine Silbermedaille um den Hals hängen, da schüttelte er bei der Siegerehrung immer noch ungläubig den Kopf. "Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn", entfuhr es dem neuen Vize-Weltmeister im Mehrkampf bei den Kunstturn-Weltmeisterschaften in Rotterdam immer wieder.
In den zum Bersten gefüllten Katakomben des Ahoy-Sportpalastes sah Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB), den Beginn einer neuen Ära:
Philipps Durchbruch
"Dieser Wettkampf war unglaublich, das ist Philipps Durchbruch", prophezeite der Verbandsboss, der sich in den vergangenen Jahren weitgehend auf Fabian Hambüchen als deutschem Vorturner verlassen musste.
Aber Hambüchen war diesmal nur Zuschauer, der aktuelle deutsche Turnheld heißt zumindest bis Sonntag Boy. Am Ende einer Kampfkür am Reck fiel er Chefcoach Andreas Hirsch überglücklich in die Arme, als 90,048 Punkte auf der Anzeigetafel erschienen. Danach wurde er zum überglücklichen Dauerlächler: "Ich grinse jetzt schon seit einer halben Stunde."
Uchimura verteidigt Titel überlegen
Überlegener Titelträger wurde wie schon im Vorjahr in London der Japaner Kohei Uchimura (92,391), Bronze holte sich Jonathan Horton aus den USA (89,864). Trotz kleinerer Fehler am "Königsgerät" gelang es dem neuen Vize-Weltmeister, im sechsten und letzten Durchgang noch an dem bis dahin vor ihm liegenden Mykol Kuksenkow aus der Ukraine vorbeizuziehen.
Und der Turntraum des 23-Jährigen kann am Sonntag (16.50 Uhr) weitergehen, wenn es beim WM-Reckfinale zum direkten Vergleich mit dem Riegenrivalen Hambüchen kommt.
"Silber und Bronze habe ich ja schon, da fehlt eigentlich nur noch Gold", witzelte Boy, um im gleichen Atemzug dem bislang weit prominenteren Turnkollegen einen sportlich heißen Kampf zu versprechen: "Keiner von uns wird etwas verschenken."
Der alte und neue Weltmeister Uchimura jedoch war vor 8000 Zuschauern eine Klasse für sich. Der Turn-Ästhet spielte quasi nur mit seinen Gegnern und verblüffte das Publikum mit seinen ausgefeilten Übungen. "Er turnt in seiner eigenen Liga, mit ihm kann und will ich mich nicht vergleichen", hatte Boy schon nach der Team-Entscheidung mit Bronze um den Hals fast ehrfurchtsvoll gesagt.
Boy auf Hambüchens Spuren
Boy trat mit seinem Abschneiden bravourös in die Fußstapfen von Hambüchen, der wegen einer Entzündung in der linken Achillessehne im Ahoy-Sportpalast auf Boden und Sprung und damit auf einen Sechskampf verzichten musste. Der ehemalige Reck-Weltmeister war vor drei Jahren bei den Welttitelkämpfen in Stuttgart ebenfalls WM-Zweiter in der Königsdisziplin geworden.
Zeitsoldat Boy musste eine regelrechte Aufholjagd starten, um bei der Medaillenvergabe überhaupt mitreden zu können. Er startete solide am Boden und kam auch ohne größere Probleme über das Seitpferd. An den Ringen jedoch hatte er kleinere Schwierigkeiten und fiel so folgerichtig in der Zwischenwertung bis auf den 13. Platz zurück.
Spiridonov landet auf Rang 17
Der Sprung brachte die Wende zum Besseren, obwohl der Lausitzer im Gegensatz zum Mannschafts-Wettbewerb seinen spektakulären Roche diesmal nicht sauber stehen konnte und einen großen Ausfallschritt machen musste, um einen Sturz zu vermeiden. Aber da auch mehrere seiner Konkurrenten Standprobleme hatten, rückte Boy spürbar auf.
Einen erwartungsgemäß unauffälligen Sechskampf absolvierte Eugen Spiridonov. Der ehemalige Vize-Europameister am Seitpferd, der als sicherer Startturner einen großen Anteil am Gewinn der Bronzemedaille im Mannschafts-Wettbewerb hatte, kam erneut sicher durch seine sechs Kürübungen.
Da dem gebürtigen Russen aber die absoluten Höchstschwierigkeiten fehlten, musste er sich am Ende mit Rang 17 und 86,948 Punkten unter 24 Teilnehmern bescheiden.