Immer wieder neue Dopingskandale, ein höchst umstrittener Weltverbandspräsident und kaum Besserung in Sicht: Das Gewichtheben steht am Scheideweg. Der jüngste Skandal erschütterte die Heberszene am Samstag, als bekannt wurde, dass gleich elf bulgarische Athleten bei Routinekontrollen der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) vor zwei Wochen positiv auf das anabole Steroid Stanozolol getestet worden waren.
Während der Weltverband IWF mit einer provisorischen Sperre der Betroffenen reagierte, sieht Doping-Experte Fritz Sörgel die Glaubwürdigkeit der gesamten Sportart mehr denn je ramponiert. "Dass das beim Gewichtheben mit rechten Dingen zugeht, kann mir keiner erzählen", sagte Sörgel dem SID: "Und ich habe wenig Hoffnung, dass sich das in absehbarer Zeit ändert."
Dafür sei Doping nach Sörgels Ansicht "viel zu fest verankert und zu selbstverständlich. Das System ist durch und durch korrupt. Es gibt einfach zu viele Verbände, die Dreck am Stecken haben. Da beziehe ich auch die IWF ein."
Stanozolol sei ein Steroid, das schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts verwendet worden sei, führte er aus. Daher sind auch die Folgen der Dopingpräparate hinreichend bekannt. Noch heute kommt es immer wieder aufgrund der Folgeschäden zu Todesfällen. Erst im Oktober 2014 verstarb der einstige Weltrekordler Gerd Bonk, eines der Doping-Opfer der ehemaligen DDR, an Organschäden.
"Alten Generationen erst einmal aussterben"
Am Samstag, wenige Stunden nach Bekanntwerden des Dopingskandals, starb der bulgarische Olympiasieger Milen Dobrew im Alter von nur 35 Jahren. Sörgel sieht zumindest einen möglichen Dopinghintergrund. "Da könnte man sicherlich einen Bezug herstellen, auch wenn das natürliche spekulativ ist."
Der Weltverband IWF mit seinem umstrittenen Präsidenten Tamás Aján an der Spitze hielt sich zu den Neuigkeiten äußerst bedeckt, listete lediglich die Namen der Sünder auf und ließ mitteilen, man werde sich vorerst nicht weiter zu den Vorkommnissen äußern.
Das ist aus Sörgels Sicht viel zu wenig, und Hoffnung auf Besserung hat der Pharmakologe weiterhin nicht. Dafür müssten "die alten Generationen erst einmal aussterben", meinte er.
Rigider Anti-Doping-Kampf gefordert
Daher wäre es für Sörgel sogar denkbar, das seit 1896 olympische Gewichtheben bei den künftigen Spielen zumindest vorläufig aus dem Programm zu streichen und damit im Sinne der Glaubwürdigkeit des Sports zu handeln: "Wenn sich Sportarten selbst disqualifizieren, dann müssen sie für eine Zeit aus dem Verkehr gezogen werden", sagte Sörgel.
Realistisch ist ein solches Szenario nicht, denn IWF-Boss Ajan ist glänzend vernetzt im Weltsport. Im Sommer 2011 wollte Christian Baumgartner, heute Präsident des Bundesverbandes Deutscher Gewichtheber (BVDG) und damals noch Vize und Dopingbeauftragter, gemeinsam mit dem damaligen BVDG-Boss Claus Umbach im Heber-Weltverband aufräumen.
Dort herrscht der Ungar Ajan (76), der seit Jahren unter Korruptionsverdacht steht. Die deutschen Funktionäre verlangten von Ajan vor allem einen rigiden Anti-Doping-Kampf, der im IWF bis dahin nicht mal ansatzweise stattfand.
Keine bulgarische Beteiligung
Sie bissen bei Ajan auf Granit. Die Situation eskalierte. Ajan drängte Umbach zu Baumgartners Entlassung, Umbach forderte Ajan zum Rücktritt auf. In dieser explosiven Gemengelage bat das Heber-Duo den damaligen DOSB-Präsidenten Thomas Bach um Hilfe, präsentierte ihm bei einem Treffen einen Haufen belastendes Material, das er gegen Ajan in der Hand hielt. Doch Bach half nicht.
Kurze Zeit später trat Umbach völlig überraschend, unter Verweis auf "sportweltpolitische Verwicklungen", zum Canossagang an. Er entschuldigte sich bei Ajan in aller Form. Nicht wenige im Heberlager fühlen sich von Bach hängen gelassen.
Eine plausible Erklärung für dessen Zurückhaltung liegt auf der Hand: Ajan, das Ehrenmitglied im IOC, durfte keinesfalls Bachs Sprung an die Spitze der "Weltregierung des Sports" gefährden - und tat es auch nicht.
Nach dem jüngsten Skandal wird zumindest die EM in Tiflis (9. bis 19. April) ohne bulgarische Beteiligung stattfinden. Der Verband zog seine Teilnahme zurück und kündete an, den Dopingfall umfassend aufklären zu wollen.
Dass sich das Stanozolol im Essen der Athleten befunden habe, wie es der bulgarische Nationaltrainer Iwan Iwanow behauptete, bezeichnete Sörgel als "unglaubwürdig. Es gibt keine Nahrungsmittel, die einen solchen Befund verursachen können."