Ka Ora: Das ist Leben!

Frederick Müller
18. September 201518:12
Die All Blacks wollen ihren WM-Triumph von 2011 wiederholengetty
Werbung
Werbung

Am Freitag beginnt die neunte Rugby-Weltmeisterschaft in England. Die berüchtigten All Blacks aus Neuseeland gehen als gefürchtetstes Team der Welt wieder einmal als Top-Favorit ins Rennen. Eine Geschichte über Ritualtänze, Stammesführer, einen aufsteigenden Randsport und gebrochene Knochen.

Am Sonntag betritt der Weltmeister den heiligen Rasen von Wembley. Und kurz vor dem Beginn des Vorrundenspiels der neunten Rugby-WM zwischen Neuseeland und Argentinien wird es im mit 90.000 Zuschauern ausverkauften Wembley-Stadion noch einmal Mucksmäuschenstill sein.

Dann werden die Fans nur eine einzige Stimme hören. "Ka Mate, Ka Mate", wird ein Neuseeländer aus seiner Brust herausbrüllen, als wäre es sein letzter Atemzug. Als wäre er König Leonidas, der seine 300 Spartaner hinter sich für den Kampf mit den Persern anheizt.

"Ka Ora, Ka Ora", wird seine treue Gefolgschaft zurückschreien. Sie schlagen sich mit den Händen auf die Schenkel, auf die Brust, strecken die Zungen raus, schneiden Grimassen. Je abstrakter, desto furchteinflößender. Sie bilden eine geballte Einheit, einschüchternd und schier unbesiegbar.

Mehr Tanz als Provokation

Es ist ein Schauspiel, das das neuseeländische Rugby-Team zur Legende und Weltmarke gemacht hat. Der Haka, den der Gegner in der Regel aus unmittelbarer Entfernung und regungslos über sich ergehen lassen muss, ist ein Tanz, der seinen Gegenüber in Ehrfurcht erstarren lassen soll. Auch wenn der Vergleich mit Leonidas und seinen tapferen 300 hinkt.

Denn was wie eine Kriegserklärung wirkt, hat keinesfalls eine kriegerische Bedeutung. Der Haka ist vielmehr eine Zeremonie, die zum Ritual wurde. Es ist ein Ritualtanz, den die Maori bereits aufführten. Jenes Volk, das im 13. Jahrhundert als erstes Neuseeland besiedelte. Te Raupahara, ein späterer Stammesführer des Maori-Stammes Ngati Toa, führte den Tanz um 1820 das erste Mal auf, als er vor seinen Feinden flüchtete.

Er versteckte sich unter dem Rock einer Frau. "Ka Mate, Ka Mate", rief er, als er beinahe entdeckt wurde ("Das ist der Tod"). Doch seine Feinde fanden ihn nicht und er konnte wieder sicher ans Tageslicht zurückkehren: "Ka Ora, Ka Ora!" ("Das ist das Leben"). Der Haka ist keine Aufforderung zum Kampf, sondern drückt die Freude über das Leben aus. Gleichzeitig ist er eine Warnung, wie nah jeder dem Tod ist. Es ist ein Unterschied, auf den die stolzen Rugby-Stars aus Neuseeland wertlegen.

Eine lange Erfolgsgeschichte

Denn trotz seiner rauen, kampfbetonten Art, ist Rugby ein respektvoller Sport. Fairness und Ehrlichkeit werden groß geschrieben und gelebt. Die Kapitäne sind die einzigen Spieler auf dem Feld, die mit dem Schiedsrichter kommunizieren dürfen. Der Rest muss kommentarlos folgen. Gemecker, Schauspielerei oder Schwalben gibt es nicht.

Seit über 120 Jahren leitet der Haka die All Blacks nun schon durch ihre Geschichte. 1888 von einer Delegation während einer England-Tour das erste Mal aufgeführt, wird er seit 1986 vor jedem Spiel präsentiert, um sich selbst zu pushen und den Gegner einzuschüchtern. Mit Erfolg: Die All Blacks dominieren das Geschehen, gehen in jedes Turnier als Top-Favorit und führen die Weltrangliste seit Jahren unangefochten an.

Zehn Mal gewann Neuseeland das Tri Nations Turnier gegen die beiden größten Kontrahenten aus Südafrika und Australien. Auch die Rugby Championship, wie das Turnier seit der Aufnahme von Argentinien 2012 heißt, musste seitdem erst einmal abgegeben werden. Als einziges Team der Welt hat Neuseeland gegen jeden Gegner eine positive Bilanz. Zwei Mal wurde die Weltmeisterschaft gefeiert: 1987 gewann man die erste WM überhaupt im heimischen Edenpark, 2011 wiederholten die All Blacks den Triumph, wieder war der Rugbytempel von Auckland Schauplatz.

Too big to miss im vereinten Königreich

Nun kommt der Sport rund um das Ei nach Hause. In England, wo das Spiel 1823 seinen Ursprung fand, als William Webb Ellis angeblich während eines Fußballspiels im Örtchen Rugby den Ball fing und unbeirrt ins gegnerische Tor trug, gehen die Mannen von Steve Hansen wieder einmal als Topfavorit ins Rennen. Es ist das erste Mal, dass das Königreich eine Rugbyweltmeisterschaft austrägt.

"Too big to miss", lautet das Motto des neunten globalen Wettbewerbs. Und dabei handelt es sich nicht bloß um eine Parole, sondern um die Realität: Das Finale im englischen Rugby-Nationalstadion in Twickenham im Südwesten von London ist mit 82.000 Karten restlos ausverkauft, Tickets auf dem Schwarzmarkt kosten rund 3.600 Euro. Insgesamt werden 2,2 Millionen Zuschauer in den insgesamt 13 Spielstätten erwartet (darunter auch das Millennium Stadium in Cardiff, Wales). Vor den TV-Geräten wird weltweit mit drei Milliarden Zuschauern kalkuliert.

Seitdem der Sport 1995 professionalisiert wurde, steigen die Popularität und der Markt rasant an. 2011 übertrugen 205 Länder das WM-Finale zwischen Neuseeland und Frankreich. Experten stufen den Wettbewerb als eine der drei größten Veranstaltungen der Welt ein, nennen sie in einer Riege mit Olympia, der Fußball-Weltmeisterschaft oder dem Super Bowl. 1924 zum letzten Mal olympisch, wird 7er-Rugby 2016 in Rio wieder ins Programm aufgenommen. Nicht wenige glauben, dass das Finale in nächster Zukunft den 100-Meter-Sprint als wichtigstes Event ablösen wird.

Seite 1: Mehr als eine Provokation - auch im Königreich

Seite 2: Eine Klatsche als Mutmacher und Hässlichkeit als Maßstab

Eine Klatsche als Mutmacher

An Deutschland geht der Trend indes jedoch unbemerkt vorbei. Immerhin: Mit DHL, BMW und Adidas steigen drei Global Player als Hauptsponsoren der WM ein. Keine schlechte Entscheidung, bedenkt man, dass ein globales Millionenpublikum für einen vergleichsweise kleinen Preis erreicht wird. Das Potential des Marktes wird zumindest langsam erkannt.

Sportlich ist dagegen nichts zu holen. Zu gering ist die Aufmerksamkeit, zu bequem thront König Fußball an der Spitze der öffentlichen Wahrnehmung. Und das, obwohl die deutsche Nationalmannschaft so knapp wie nie zuvor an ihrer ersten WM-Teilnahme vorbeischrammte: Erst in der vorletzten europäischen Qualifikationsrunde musste sich Deutschland Russland vor circa 3500 Zuschauern in Hamburg mit 20:31 geschlagen geben. Russland scheiterte in der nächsten Runde an Uruguay, das damit zum 20 Teams umfassenden Teilnehmerfeld gehört.

Im Vergleich mit den Topteams wird Deutschland nicht wahrgenommen. Eine 8:64-Pleite gegen WM-Teilnehmer Georgien, Nummer 14 der Welt, wurde im Frühjahr 2015 als Mutmacher beschrieben. Das deutsche Lager hatte eine noch höhere Pleite erwartet.

Der Kapitän schraubt sein Team zum Titel

Ganz anders ist die Lage am anderen Ende der Welt. Dort sind Typen wie Richie McCaw Nationalhelden. Der Kapitän der All Blacks führt seine Kollegen in den komplett schwarzen Jerseys seit 2006 auf das Feld. Er ging vorne weg, als man 2007 in Cardiff überraschend im WM-Viertelfinale gegen Frankreich scheiterte. Und er führte das Team zur Revanche 2011, als die All Blacks denselben Gegner im engsten Finale aller Zeiten niederrang und sich mit 8:7 die nach dem Gründer benannte Webb Ellis Trophy endlich zum zweiten Mal sicherte. Und das mit gebrochenem Fuß.

Eine Schraube, die einen Ermüdungsbruch zusammenhielt, brach noch vor dem Finale einen anderen Mittelfußknochen. Für die 108-Kilo-Maschine kein Grund zur Aufgabe. Nach dem Triumph ließ er sich operieren. "Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat. Er konnte ja nicht einmal richtig gehen", schüttelte Weltmeister-Coach Henry Graham damals den Kopf. Es sind solche Geschichten und Athleten wie McCaw, die diesen kampfbetonten, energischen Ballsport so spektakulär machen.

All Blacks über alles

Es wird die letzte große Bühne für den besten Dritte-Reihe-Stürmer der Welt werden. Im Sommer spielte er gegen Australien sein 142. Länderspiel, seitdem er 2001 im Alter von 20 Jahren zum ersten Mal das schwarze Trikot mit dem weißen Silberfarn auf der linken Brust überstreifen durfte. Kein Rugbyspieler hat jemals mehr Partien für sein Land absolviert. Nun soll der Titel verteidigt werden, danach ist Schluss: "Wir sind noch nicht am Ende. Da ist ein Berg, den wir erklimmen wollen", so "Captain Fantastic" im Vorfeld an das Turnier.

Mit ihm werden insgesamt neun weitere erfahrene Haudegen ihren Hut nehmen. Unter anderem auch Daniel Carter, der mit 1.516 Zählern mehr Punkte als jeder andere Spieler gesammelt hat. Der Spielmacher verlässt seine Heimat, um in Frankreich bei Racing Metro für eine gefüllte Rentenkasse zu sorgen. Damit scheidet er als Nationalspieler aus, denn All Black darf sich ein Spieler nur nennen, wenn er auch in Neuseeland aktiv ist. Doch das ist für die meisten Spieler wertvoller, als das große Geld in den europäischen Ligen.

"Du musst hässlich sein"

Die Zeichen stehen gut, dass die Rugbywelt am 31. Oktober in Twickenham kurz vor dem Kickoff des Finales Mucksmäuschenstill sein wird. Wer den Haka dann anstimmt, ist nicht so wichtig. Seit 2005 ist es nicht einmal mehr zwingend erforderlich, vom Volk der Maori abzustammen. Seitdem gibt es den Kapa O Pango. Der neue Haka ist inhaltlich extra auf die All Blacks abgestimmt und wechselt sich nun mit dem Ka Mate ab. Meist entscheiden die Führungsspieler gemeinsam mit dem Trainerstab, wer den Ton angibt.

Liam Messam gehört zu jenen Führungsspielern und kennt die Kriterien: "Du musst hässlich sein. 99 Prozent der Jungs sind hässlich, also scheitert es selten daran. Du solltest selbstbewusst sein und dir keine Gedanken machen, was andere über dich denken. Aber je hässlicher und furchteinflößender du aussiehst, desto besser."

Seite 1: Mehr als eine Provokation - auch im Königreich

Seite 2: Eine Klatsche als Mutmacher und Hässlichkeit als Maßstab