SPOX: Ein weitere Punkt war die umstrittene Athleten-Erklärung, die das IOC verabschiedete. Was denken Sie als Athlet darüber?
Hartung: Es wurde zwar online eine Abfrage gemacht, aber dann ging es mehr oder weniger im Hoppla-Hopp-Stil weiter und plötzlich wird eine Charta veröffentlicht. Eine Charta beschließt man ja auch nicht jedes Jahr neu, die soll universell gültig sein. Und jetzt sind dabei Sachen herausgekommen, bei denen ich nur mit dem Kopf schütteln kann. Es soll ja um die Rechte und Pflichten der Athleten gehen, aber beim Durchlesen sind mir eigentlich nur die Pflichten hängengeblieben. Wir sollen das Solidarsystem der Olympischen Spiele respektieren. Wir sollen möglichst nicht politisch sein. Da waren einige Kracher dabei, die sich wie eine direkte Replik an uns gelesen haben. Kein Athlet hätte sich das ausgedacht. Aber die IOC-Athletenkomission trägt es natürlich mit. Das mag beruflich opportun sein, aber enttäuschend ist es dennoch.
SPOX: Es wird von Seiten des IOC oft behauptet, dass die Kritik ja nur aus Westeuropa kommen würde.
Hartung: Angenommen wir hätten ein weltweites Athleten-Parlament mit Athleten aus der ganzen Welt, also beispielsweise auch aus China, Afrika und Nordkorea, dann sind diese Athleten natürlich in einem ganz anderen Regime groß geworden und haben ein ganz anderes Verständnis von Abstimmungen. Aber gleichzeitig würde ich mir wünschen, dass der Sport eine Vorreiterrolle einnimmt, wenn es um so etwas wie Menschenrechte geht. Warum sollen in einer Charta nicht die Menschenrechte verankert werden? Es ist doch ohnehin nicht rechtlich bindend. Oder, mal rein hypothetisch gedacht: Wenn es im Turnen bestimmte Trainingsmaßnahmen gibt, die zu Erfolgen führen, aber körperliche Langzeitschäden verursachen, dann muss es weltweit das Bestreben geben, Kinder und junge Leistungssportler davor zu schützen. Dann muss es Mindeststandards für den Schutz des Körpers geben. Dann zu sagen, wir formulieren es mal nicht so streng, weil wir es international gesehen für unrealistisch halten, kann doch nicht die Haltung sein.
>SPOX: Mittlerweile ist die Situation der Olympischen Spiele so dramatisch, dass Volksentscheide in der ganzen Welt reihenweise negativ ausfallen. Wie dramatisch sehen Sie die Lage?
Hartung: Sehr dramatisch. Die Olympische Bewegung steht auf dem Spiel. Ich hätte das noch vor fünf Jahren niemals für möglich gehalten, aber es kann sein, dass Olympische Spiele in 20 oder 30 Jahren nur noch eine triviale Veranstaltung sein werden. Wenn man keine Kurskorrektur vornimmt, ist das denkbar. Ich habe mein ganzes Leben lang dafür trainiert, bei Olympischen Spielen dabei zu sein. Als mein Traum 2012 in London Wirklichkeit wurde, war es für mich das Größte der Gefühle. Aber 2016 in Rio ist es komplett umgeschlagen.
SPOX: Warum?
Hartung: Wenn du zu Olympischen Spielen kommst und auf Menschen triffst, die dir sagen, "es ist ja toll, was du hier machst, aber mein Kind kann nicht mal zur Schule gehen", dann macht das etwas mit dir. Dazu die halbleeren Stadien, vor allem der Skandal um die russische Mannschaft - ich war tierisch enttäuscht und auch traurig. Olympia hat seitdem seinen Glanz für mich verloren.
SPOX: Glauben Sie, dass wir zu Ihren Lebzeiten noch einmal Olympische Spiele in Deutschland erleben werden?
Hartung: Man wird ja heutzutage schon alt. (lacht) Es ist schwer, Zukunftsprognosen dazu abzugeben, aber ich denke schon, dass es möglich ist. Wir können ja auch ohne Probleme eine Fußball-EM ausrichten.
SPOX: Ja, weil Deutschland ein Fußballland ist, aber kein Sportland in dem Sinne.
Hartung: Das will ich eigentlich nicht sagen. Natürlich schwebt der Fußball über allen anderen Sportarten, das war schon immer so, aber erst in den vergangenen zehn Jahren hat es aus meiner Sicht überhandgenommen. Dass ein Huster von Thomas Müllers Frau so zum Thema wird, zeigt doch alles.
SPOX: Weil aber auch viel mehr Leute die Meldung über Thomas Müllers Frau lesen als die Nachricht vom erneuten EM-Titel von Max Hartung.
Hartung: Ich weiß. Aber woher kommt es, dass die Aufmerksamkeit für andere Sportarten in anderen Ländern ganz anders ist. Wenn ich jetzt als Fechter nach Italien oder in die USA gehe, also in Länder, in denen auch der Fußball oder American Football die Nummer eins ist, dann kommen die Kinder angerannt und wollen Unterschriften oder Selfies mit mir machen. In Deutschland passiert mir das nicht. Das ist schon komisch. Deutschland scheint abgesehen vom Fußball dann doch insgesamt weniger sportbegeistert zu sein. Gleichzeitig sehen wir uns aber als große Sportnation. Wenn wir in Tokio im Medaillenspiegel nicht in den Top 6 landen sollten, wird das Geschrei groß sein.
>SPOX: Wie viel Schuld tragen die Sportarten aber auch selbst daran, dass sie zum Beispiel von Darts überholt werden, weil es ja ganz offensichtlich mehr Menschen anspricht?
Hartung: Sicherlich tragen sie eine Teilschuld. Es ist aber nicht so, dass die Sportarten sich nicht öffnen wollen, die Strukturen sind nur nicht agil und flexibel genug. So bleibt eine Weiterentwicklung dann leider aus, obwohl die Sportler bereit dazu wären. Ich fechte von mir aus auch in einer Burg gegen drei, wenn sich das eine Million am Samstagabend anschauen will. Es ist schwer, den Mechanismus zu durchbrechen, aber Sportarten wie meine werden über kurz oder lang untergehen, wenn sich nichts ändert.