Wir schreiben den 11. Januar. Unicaja Malaga ist im Palau Blaugrana von Barcelona zu Gast. Der Tabellenführer der ACB führt mit 3 Punkten. 3,5 Sekunden sind noch auf der Uhr. Barca hat Einwurf.
Coach Xavi Pascual schreibt ein recht simples Play aufs Taktikbrett: Alex Abrines sprintet unterm Korb los und kriegt an der Freiwurflinie von zwei Big Men einen doppelten Block gestellt. Einwerfer Marcelinho Huertas findet den Shooting Guard gut einen Meter hinter der Dreierlinie. Viel Platz hat er allerdings nicht bekommen.
Egal. Abrines fängt den Ball, dreht sich und verschafft sich mit einem kurzen Dribbling zur Seite etwas Platz. Sein Verteidiger kommt nach, also lässt sich der 21-Jährige beim Wurf zur Seite fallen und lässt einen absolut wilden Stoßgebets-Dreier fliegen. Er kommt fast an der Seitenlinie auf - aber der Ball tropft vom Brett in den Korb. Abrines hat sein Team in die Verlängerung gerettet.
Der Spezialist schaut zu
Eigentlich hat Barcelona für diese Situationen einen anderen Spezialisten. Genau genommen sogar schon seit 18 Jahren, wenn man von einem einjährigen Intermezzo absieht, bei dem sich dieser Spezialist in der NBA bei den Memphis Grizzlies verdingte.
Der Spezialist heißt Juan Carlos Navarro, ist seines Zeichens bester Euroleague-Scorer aller Zeiten und der vielleicht höchstdekorierte Spieler, den man in Europa derzeit finden kann. Normalerweise ist es daher üblich, dass er den Ball in seinen Händen hält, wenn das Geld auf dem Tisch liegt. Doch "La Bomba" laboriert in den ersten Januar-Wochen an einer Verletzung und schaut sich diese Partie in Zivil an.
Real und Maccabi siegen im Gleichschritt
Nun hätte Pascual für den entscheidenden Wurf auch andere Kandidaten gehabt, wie Huertas, Edwin Jackson oder Justin Doellman. Es ist jedoch kein Zufall, dass ausgerechnet Abrines die Chance bekommt. Schließlich ist er der lebenden Legende Navarro durchaus ähnlich - und das in vielerlei Hinsicht.
"Ich spüre keinen Druck"
Da ist zum einen der Wurf. Aus allen Lagen. Aus dem Dribbling, aus dem Fallen, mit einer Hand im Gesicht, von drei Metern hinter der Dreierlinie. Er ist sicher noch nicht auf dem Level von Navarro, der einbeinig zur Seite abgesprungene Dreier übers Brett zu seinen leichtesten Übungen zählt. Aber auch Abrines kann sich immer wieder den Hauch Platz verschaffen, den er für seinen Wurf braucht.
Das ist allerdings nicht Abrines' einziges Attribut, das an Navarro erinnert. Es gibt noch ein, bildlich gesprochen, zwei weitere: Die Cojones. Schon als 18-Jähriger zeigte Abrines den Mut und das Selbstvertrauen, wichtige Würfe zu nehmen. "Ich spüre keinen Druck. Ich bin ein Typ, der nicht wirklich nervös wird", sagt er selbst im Gespräch mit "euroleague.net".
Zu guter Letzt spielt er mittlerweile eben auch schon in seiner dritten Saison neben der Klub-Ikone - und saugt dessen Lektionen auf wie ein Schwamm. "Navarro ist ein Vorbild für jeden Spanier, der beste europäische Spieler der letzten 15 Jahre. Die Chance, von ihm zu lernen, hat für mich den Ausschlag gegeben, nach Barcelona zu kommen", erklärt Abrines.
MVP bei der U-18-EM
So oder so ähnlich dürften sich das die Barca-Verantwortlichen vorgestellt haben, als sie Abrines 2012 mit einem Vierjahresvertrag ausstatteten, nachdem er bei Unicaja Malaga erst in der Vorsaison erste ACB- und Euroleague-Erfahrungen gesammelt hatte. Dort konnte er seine Fähigkeiten als Schütze und Highflyer erstmals auf großer Bühne zeigen.
Dass er ein enormes Potenzial mitbringt, hatte er jedoch schon im Sommer 2011 bewiesen, als er die spanische U-18-Nationalmannschaft mit durchschnittlich 13,4 Punkten und 4,8 Rebounds zur EM-Goldmedaille führte - wie Navarro 13 Jahre vor ihm. Im Gegensatz zum großen Vorbild räumte er dabei auch den MVP-Award des Turniers ab.
Mit großen Vorschusslorbeeren - und entsprechendem Selbstvertrauen - kam Abrines also nach Katalonien. Im prominent bestückten Barca-Kader musste er jedoch schnell feststellen, dass er sich jeden Einsatz, jeden Wurf, jede Minute hart erarbeiten musste. Keine leichte Situation für den Youngster. Umso wichtiger war es, dass Navarro ihn von Beginn an unter seine Fittiche nahm.
Lektionen vom Meister
"Als junger Spieler muss man erst verstehen, was es bedeutet, bei einem so großen Klub zu spielen wie Barcelona, bei dem Titel wichtiger sind als individuelle Schicksale", erinnert sich Navarro an die ersten Lektionen, die er Abrines und anderen Neuankömmlingen erteilte.
Beständig versucht er, sein Wissen an Abrines weiterzugeben. "Ich will ihm helfen, so gut es geht. Er hat riesiges Potenzial und spielt quasi die gleiche Position wie ich. Wenn er Fragen hat, habe ich daher meistens Antworten", erklärt Navarro.
Die Arbeit der beiden ist dabei weniger auf technische Feinheiten, sondern vor allem auf das Spielverständnis ausgelegt: "Sein Wurf ist schon sehr gut, da brauche ich ihm nicht mehr zu helfen. Es geht eher darum, das Spiel richtig zu lesen, zum Beispiel im Pick'n'Roll. Da muss er noch dran arbeiten."
Beständige Entwicklung
Nach etwas mehr als zweieinhalb Jahren lässt sich klar feststellen, dass der Privatunterricht Früchte trägt. Abrines ist bisher in jeder Saison stärker geworden und hat seine Rolle bei Barca nach und nach wachsen sehen. Er wird jetzt nicht mehr sporadisch eingesetzt, sondern ist ein fester Bestandteil des Teams.
Von 10,8 Minuten pro Spiel im ersten Jahr hat er sich wettbewerbsübergreifend auf 19,5 gesteigert, gelegentlich darf er auch starten, da er sowohl als Shooting Guard als auch als Small Forward spielen kann. Seine Punkteausbeute hat er fast verdreifacht (heute 9,53 Punkte im Schnitt), die Quoten sind durch die Bank beeindruckend (50 Prozent FG, 46,6 Prozent 3FG, 86 Prozent FT).
Und so hat Abrines' Entwicklung nicht nur in Spanien, wo er im vergangenen Jahr erstmals an einer WM der "Großen" teilnehmen durfte, für Aufsehen gesorgt. Auch in Oklahoma City wird jede Bewegung des jungen Swingmans genau beobachtet.
Europa oder NBA?
"Dass er sich bei diesem Top-Team in seinem Alter eine Rolle erkämpft hat, spricht für ihn", erklärte Thunder-GM Sam Presti noch im vergangenen Sommer. OKC hält seit 2013, als die Thunder Abrines an 32. Stelle drafteten, die NBA-Rechte am Swingman. Und Experten geben ihm gute Chancen, sich früher oder später auch dort durchzusetzen.
Fragt sich nur, ob Abrines das überhaupt so wichtig ist. Ein Navarro spielte schließlich auch bloß ein Jahr in der NBA, ehe er zurück nach Barcelona ging - obwohl sein Rookie-Jahr durchaus vielversprechend war. Eine Ikone bei Barca zu sein, war ihm eben wichtiger als ein Job als Rollenspieler in Amerika.
Bis sich Abrines solche Gedanken machen muss, wird aber ohnehin noch einige Zeit ins Land gehen. Bei allen Ähnlichkeiten ist Navarro für seinen Schützling nämlich teilweise immer noch ein Rätsel: "Ich versuche, die gleichen verrückten Würfe zu nehmen wie er. Aber er macht sie rein und ich treffe nicht einmal den Ring!"
Alex Abrines im Steckbrief