Ganz alleine stand er auf dem Podium. Kaum eine Kamera war auf ihn gerichtet, kein Mikro wurde ihm unter die Nase gehalten. Und trotzdem huschte für einige Momente ein kleines, verschmitztes Grinsen über sein Gesicht.
Jürgen Brähmer genoss den Moment im Gartensaal des Berliner Kempinski-Hotels. Nicht wie Don King, der nur wenige Meter entfernt von ihm in seiner unvergleichlichen Art und Weise die Medien hofierte und die Rolle seines Lebens mal wieder vorzüglich spielte. Sondern eher als stiller Genießer.
In diesen Augenblicken lässt sich die Entwicklung erahnen, die Brähmer in den letzten Jahren genommen hat. Der mittlerweile 35-Jährige ist besonnener geworden, die Zeit hat ihn verändert: "Vielleicht bin ich in der besten Phase meines Lebens."
Familie im Mittelpunkt
Auch das nahende Ende mag eine Rolle spielen. Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass der Herbst seiner Karriere längst angefangen hat. Ganz egal, welches Ende der WM-Kampf am Samstag in Neubrandenburg gegen Marcus Oliveira nehmen wird. Die Prioritäten haben sich verschoben, Frau Tatjana und Töchterchen Jasmin sind nun der Mittelpunkt in seinem Leben.
"Der WM-Titel ist nicht mehr das Wichtigste in meinem Leben, sondern die Familie", erklärte Brähmer vor nicht allzu langer Zeit. Wenn der Sport nicht mehr die erste Geige spielt, leidet meistens die Leistung darunter.
Bei Brähmer durfte man in den letzten Monaten das Gegenteil beobachten. Die Familie half ihm, ein geregeltes Leben zu führen und den Kopf für die große Leidenschaft frei zu haben.
Das Jahrhunderttalent
Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Den Anfang nahm alles mit einem kleinen Wörtchen, das ihn lange verfolgen sollte: Jahrhunderttalent.
Es war der erste "Titel", den Brähmer als Profi gewann. Es sollte der schwerste bleiben. Dabei waren sich rund um die Jahrtausendwende fast alle Experten einig, dass Brähmer genau das war.
95 Siege in 100 Amateurkämpfen. Erfolge über Felix Sturm, Carl Froch und Ricky Hatton. Der Triumph bei der Amateur-Weltmeisterschaft 1996 in Havanna. Früh galt Brähmer als "Total Package", wie die Amerikaner es gerne nennen. Flink auf den Beinen, technisch versiert, mit einem Punch in den Fäusten und einem beweglichen Oberkörper, mit dem er Schläge des Gegners auspendeln konnte.
Nicht weniger als eine neue Ära sollte er prägen, nachdem die großen Helden wie Henry Maske oder Axel Schulz die Handschuhe an den Nagel gehängt hatten. Ob er das selber wollte, wurde nie gefragt.
Der Knastboxer
Viele Wunderkinder sind unter diesem Druck zusammengebrochen. Brähmer suchte und fand ein anderes Ventil. Gemeinschaftlicher Raub, Körperverletzung, Fahren ohne Führerschein. Trotz der Erfolge im Ring rückte das Sportliche schnell in den Hintergrund, seine Akte bei den Behörden dominierte die Schlagzeilen - und brachte ihn 2002 sogar ins Gefängnis.
Das Jahrhunderttalent, das zum Knastboxer wurde. So lautete sein neuer Beiname, dem ihn der Boulevard verpasste. Dass er nach seiner Entlassung auch sportlich wieder für Schlagzeilen sorgte und 2009 zum ersten Mal Weltmeister wurde, änderte daran kaum etwas.
Denn selbst der lang ersehnte Titel schien Brähmer nicht zu Ruhe kommen zu lassen. Zu den anhaltenden Konflikten mit dem Gesetz kam auch der drohende Untergang Universums. Titelverteidigungen wurden abgesagt, Zahlungen nicht eingehalten, die Kluft zwischen Brähmer und seinem Boxstall vergrößerte sich.
Wechsel zu Sauerland
Im Sommer 2012 zog er die Reißleine und verließ Universum. "Das waren verlorene Jahre, richtige Scheißjahre. Man konnte sich einfach nicht mehr auf den Sport konzentrieren", blickte Brähmer im April 2013 gegenüber SPOX zurück. Den WM-Titel hatte er da schon längst abgeben müssen, nachdem er fast zwei Jahre lang nicht im Ring zu sehen war.
16 Monate sind seitdem vergangen. 16 Monate, in denen Brähmer scheinbar den Frieden mit sich und seinem Schicksal gemacht hat. Dass er mittlerweile ausgerechnet beim einstigen Universum-Rivalen Sauerland sein Glück gefunden hat, passt dabei irgendwie ins Bild.
"Ich habe den Spaß am Boxen zurückgewonnen" betonte Brähmer in den letzten Monaten oftmals. Ein Grund dafür ist auch Karsten Röwer, Brähmers alter Amateurtrainer, der ihn wieder unter die Fittiche genommen hat
"Er hat das Boxen nicht verlernt"
"Früher war er nur talentiert, jetzt ist er bewusst bei der Sache, mit Disziplin und Leidenschaft. Und das Boxen hat er auch nicht verlernt", lobte Röwer seinen alten und neuen Schützling im "Tagesspiegel".
Das spiegelte sich auch im Ring wider. In seinem ersten Kampf für den neuen Arbeitgeber sicherte sich Brähmer gegen Eduard Gutknecht im Januar den EM-Titel. Mit Erfolgen über Tony Averlant und Stefano Abatangelo marschierte er danach in der Weltrangliste nach oben.
Für das Hollywood-reife Happy End fehlt nur noch der erneute WM-Titel. Dabei lässt sich in den Tagen von Neubrandenburg nicht so schnell erahnen, wer denn sein Gegner im Kampf um den vakanten WBA-Gürtel im Halbschwergewicht ist.
Zu übermächtig scheint Don Kings Präsenz, mit der die Promoter-Legende die Medien in seinen Bann zieht. Sein Schützling Marcus Oliveira ist häufig nicht mehr als nettes Beiwerk.
Schlagstärke vs. Technik
Das könnte auch für den Samstagabend gelten. Zwar wirkt der Kampfrekord des Amerikaners mit 20 K.o.-Siegen imposant (25-0-1), große Namen sucht man allerdings vergeblich. Auch in der Weltrangliste der unabhängigen Internetseite "Boxrec.com" rangiert der bislang ungeschlagene Oliveira nur auf Platz 38.
Das Lager von Don King vertraut offenbar ganz allein auf die Schlagstärke seines Schützlings. Ob das ausreicht, um den gerade technisch überlegenen Brähmer unter Druck zu setzen, bleibt abzuwarten.
Stattdessen deutet einiges auf den glorreichen Höhepunkt in Brähmers Comebackjahr hin - und auf den Abschluss seiner Transformation. Der Knastboxer, der zum stillen Genießer wurde.