Die samoanische Dampframme

Alex Leapai (l.) erarbeitete sich mit einem Sieg gegen Denis Boytsov einen Titelkampf
© getty

Erst am absoluten Tiefpunkt seines Lebens fand Alex Leapai zu sich selbst. Was folgte, war eine Entwicklung, die wohl die wenigsten erwartet hätten. Mit der größten sportlichen Herausforderung gegen Wladimir Klitschko (22.30 Uhr im LIVE-TICKER) vor Augen wirft SPOX einen Blick auf den Ursprung seines unbändigen Willens.

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"Klitschko wird nicht wissen, wie ihm geschieht, das verspreche ich. Ich habe keine Zweifel und sehe nicht, wie er gegen mich gewinnen soll. Es heißt, er hat einen guten Jab, aber er hat noch nie gespürt, was ich habe. Mit meiner Power werde ich seine Strategie zunichte machen. Ich schreibe Geschichte für Australien - die Welt wird geschockt sein."

Es sind markante Worte, die Alex Leapai vor der wohl größten Chance seines Lebens von sich gibt. Dabei ist der australisch-samoanische Boxer, der seit seinem zwölften Lebensjahr in Australien lebt, gegen Weltmeister Wladimir Klitschko lediglich krasser Außenseiter. Ein Sieg hätte wohl die gleiche Dimension wie der Titelgewinn von James Douglas gegen Mike Tyson.

In Punkto Erfahrung, Technik und nicht zuletzt bei den körperlichen Vorrausetzungen liegt der fünfzehn Zentimeter kleinere Linksausleger, der darüber hinaus auch bei der Reichweite mit 16 Zentimetern erhebliche Nachteile hat, deutlich hinter seinem übermächtig erscheinenden Kontrahenten. Ein Blick in seine Vergangenheit verrät, warum er dennoch gar nicht anders kann, als an sich zu glauben.

Außer Kontrolle

Der größte Trumpf des 34-Jährigen dürfte unbestritten sein unbändiger Wille sein. Eine Eigenschaft, die Leapai jedoch erst erlernen musste und deren Abwesenheit ihn beinahe in den körperlichen und seelischen Ruin getrieben hätte. Nachdem er zunächst in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte und sich während seiner frühen Jugend erfolglos als Boxer ausprobierte, galt er als großes Rugby-Talent und stand kurz vor dem Sprung in die höchste professionelle Spielklasse, die National Rugby League.

Auf dem Weg nach oben geriet sein Leben allerdings außer Kontrolle. Immer öfter kam es zu Konflikten mit seinen Mitmenschen. Als er in einer Partie schließlich zwei Gegenspieler mit Faustschlägen attackierte und danach einen Schiedsrichter anging, erhielt er eine zwölfmonatige Sperre.

Durch seine starke Physis und einen Mangel an Perspektiven versuchte er sich im Anschluss an einer Rückkehr in den Ring. In einer Zeit, die ihn heute noch verfolgt, geriet er in eine Spirale aus Alkohol, Drogen und tiefen Depressionen. Es folgten ständige Konflikte mit dem Gesetz, die 2005 in einer Gefängnisstrafe endeten. Leapai war gegenüber den Türstehern eines Nachtklubs handgreiflich geworden und wurde anschließend zu einem Gefängnisaufenthalt von vier Jahren verurteilt.

Als das Urteil verkündet wurde, richtete er, scheinbar am Boden angekommen, den Blick auf seine im Gerichtssaal sitzenden Eltern und fiel noch tiefer. "Ich hatte meinen Vater in der Vergangenheit zwar bereits weinend gesehen, jedoch niemals meine Mutter und ihn gleichzeitig. Sie hielten sich in den Armen - meine Mutter schrie. Ich zerbrach innerlich." Dieser Moment war es, der sein Leben grundlegend veränderte. "Ich habe einige schlimme Dinge getan, es war an der Zeit, meinen Eltern, meiner Frau und meinen Kindern etwas zurückzugeben."

Eine zweite Chance

Die Chance dazu sollte sich schneller bieten, als gedacht. Nach nur sechs Monaten im Hochsicherheitsgefängnis von Woodford, in dem Häftlinge zu ihrer eigenen Sicherheit in Einzelhaft einsitzen, konnte er die Mauern des Komplexes hinter sich lassen. Möglich wurde dies, da der zuständige Richter bei der Findung des Strafmaßes berücksichtigte, dass Leapai eine Frau sowie zu diesem Zeitpunkt drei Kinder hatte. Er gab ihm bei guter Führung die Möglichkeit, bereits nach eben jenem halben Jahr wieder ein freier Mann zu sein. Eine zweite Chance.

"Ich habe zu Gott gebetet, um eine zweite Chance gebeten. Ich habe viele Fehler in meinem früheren Leben gemacht, Schande über meine Familie gebracht." Beflügelt von der Dankbarkeit eines Neuanfangs und durch die Unterstützung seiner Familie gelang ihm die Wende.

Potential alleine reicht nicht

Maßgeblichen Anteil am geglückten zweiten Versuch hat auch sein Trainer Noel Thornberry. Ein Lehrmeister der alten Schule, der Leapai die meiste Zeit über in seiner Scheune trainierte. Er erkannte das Potential seines Schützlings bereits vor dessen Haftstrafe und ließ ihn auch während dieser nicht fallen.

"Eine von Alex großen Vorzügen ist seine Stärke. Es ist äußerst unangenehm, sich auf ihn vorzubereiten, seine Schläge kommen aus dem Nichts. Zuweilen kann nicht mal ich vorhersagen, woher der nächste Schlag kommt. Auch Alex selbst ist sich zeitweise nicht sicher, was folgt."

Dass Potential alleine nicht reicht, dürfte hinlänglich bekannt sein. Leapai jedoch arbeitete trotz seines zeitraubenden Jobs als Fahrer für einen Lieferdienst unermüdlich und verbesserte so nicht nur seine Fähigkeiten, sondern auch seinen Kampfrekord.

Auch der Grund, weshalb er in den Ring steigt, hat sich drastisch geändert: "Ich bin Vater von sechs Kindern und habe eine Frau, die mich durch sämtliche Tiefs begleitet hat. Ich habe Eltern, die mich nie fallen gelassen haben. Wenn ich in den Ring steige, dann wird es persönlich."

Leapai, ein kalkulierbares Risiko

Sein neues Auftreten sowie seine Siege brachten ihn in den Fokus des Sauerland-Teams rund um Hoffnungsträger Denis Boytsov. Als kalkulierbares Risiko und von Hand ausgewählt, sollte er für den ungeschlagenen Russen als Zwischenschritt zu einem Titelkampf gegen Wladimir Klitschko dienen. Sieg Nummer 34. Nicht mehr als eine gesichtslose Zahl in den Geschichtsbüchern.

In einem Duell, dessen Ausgang bereits im Vorfeld festzustehen schien, überraschte Leapai Boytsov jedoch mit seiner enormen Schlagkraft und eben jenem inneren Drang, der ihn seit seinem Aufenthalt im Gefängnis antreibt. Nach zwei Niederschlägen entschied der Außenseiter das Aufeinandertreffen nach Punkten klar für sich.

Obwohl es sich nicht um einen offiziellen Ausscheidungskampf handelte, wurde Leapai durch den Sieg zum Pflichtherausforderer der WBO. Des Weiteren stehen auch die Gürtel der WBA, IBF und IBO auf dem Spiel. Nach Bill Squires ist er deshalb der erste Australier, der seit 106 Jahren eine solche Chance erhält. Doch existiert diese tatsächlich? Wirkte Boytsov bereits übermächtig, dürfte Klitschko unbesiegbar sein.

Rocky? Nein, danke!

Der Weltmeister, seit nunmehr zehn Jahren ohne Niederlage und praktisch in allen Belangen überlegen, trifft auf einen Herausforderer, von dem die Öffentlichkeit bisher wenig wahrgenommen hat. "Ich habe vor dem Kampf gegen Boytsov nie etwas von Leapai gehört", zeigte sich auch Klitschko überraschend offen: "Ihm fehlt die Erfahrung, und das werde ich ausnutzen. Ich werde beweisen, dass ich der stärkste Boxer der Welt bin."

Was kann den Herausforder also retten? Ein Lucky-Punch vielleicht? Eine Einstellung, die Leapai nicht teilt: "Im Boxen kann ein einzelner Schlag alles verändern, allerdings bin ich nicht auf diesen angewiesen." An Selbstbewusstsein mangelt es nicht. Warum auch? Würde er nicht an sich glauben, hätte er auf diesem Level wohl sowieso nichts verloren. So schwindend gering die Chancen auch sein mögen, zeichnet den Boxsport stets seine Unberechenbarkeit aus. Von einer Sekunde auf die andere kann sich alles verändern. "Ich habe die Chance, Geschichte zu schreiben. Diese werde ich nutzen."

Wenig verwunderlich, dass spätestens an diesem Punkt die meisten Journalisten in der Berichterstattung rund um den Kampf die Parallelen zum Film "Rocky" bemühen. Was sie dabei stets zu vergessen scheinen, ist das Ende. Jenes verkam schließlich auch im Film zur Randnotiz. Doch könnte es wichtiger kaum sein: Rocky verlor seinen Titelkampf gegen Apollo Creed. Zwar nach einem sensationellen Schlagabtausch, aber er verlor. Ein Schicksal, das Leapai nicht teilen möchte und es auch nicht kann. Denn wenn er verliert, wird es keine Fortsetzung geben.

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