Prügelknabe, Feigling, Champion

Von Adrian Franke
Johnny Nelson sollte eigentlich Priester werden - stattdessen wurde er Box-Weltmeister
© getty

Marco Huck hat gegen den Italiener Mirko Larghetti die Chance (22.35 Uhr im LIVE-TICKER), mit seiner 13. Titelverteidigung im Cruisergewicht den Rekord von Johnny Nelson einzustellen. Doch wer ist dieser 47-Jährige aus Sheffield eigentlich? Die Geschichte eines selbsternannten Feiglings, der dank seiner Geschwister und seines Mentors zu einem der unwahrscheinlichsten Champions aller Zeiten aufstieg.

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Es ist der 27. März 1999 in Derbyshire. In einem lange erwarteten Kampf, in dem es um den WBO-Titel im Cruisergewicht geht, demontiert Johnny Nelson seinen Gegner Carl Thompson förmlich. Nelson ist kaum wieder zu erkennen, ist schnell in seinen Bewegungen und lässt Thompson keine Chance. In der fünften Runde beendet der Ringrichter den Kampf nach mehreren Kopftreffern.

Jahrelang hatte sich Nelson genau diese Szene ausgemalt und sich dabei stets als coolen Champion gesehen, für den der Titelgewinn eine Selbstverständlichkeit ist. Doch tatsächlich sackt er direkt nach Kampfende in sich zusammen und lässt seinen Emotionen freien Lauf.

"Da ist viel von mir abgefallen", blickt er in seiner Autobiographie zurück: "Aber ich war plötzlich nicht mehr am Ruhm interessiert. Ich wollte einfach meinen Scheck einlösen und zurück ins echte Leben, mit der Handvoll Leute, die mir tatsächlich etwas bedeuteten."

Unwahrscheinlichster Champion aller Zeiten

Zu surreal erschien ihm die Szene plötzlich. "Es hat einige Tage gedauert, bis ich realisierte, dass ich gewonnen hatte. Ich konnte nicht glauben, dass das große, dürre Kind aus der Sidney Road in Crookes, im falschen Teil von Sheffield, das Kind, das auf eine Mädchenschule gegangen war und nie wirklich kämpfen wollte, am Ende doch der beste Cruisergewichtler der Welt geworden war", gab Nelson zu.

Er sah sich stets als einer der unwahrscheinlichsten Champions aller Zeiten und das aus gutem Grund: "Ich war ja nicht mal der beste Kämpfer in meiner Familie. Mein Bruder Alan war besser als ich, genau wie meine Schwester Theresa. Aber auf der anderen Seite waren wir auch keine normale Familie."

Das lässt sich ohne weiteres bestätigen. Johnny war eines von sieben Kindern - alle stammten von unterschiedlichen Vätern ab. "Meinen Stammbaum zu entwirren ist der Alptraum eines jeden Ahnenforschers", sagte Nelson schmunzelnd: "Meine Mutter war nicht promiskuitiv, sie hatte einfach Pech. Sie hatte vermutlich weniger Partner als die meisten Menschen heutzutage, aber als strenggläubige Katholikin hätte sie im Traum nicht daran gedacht, zu verhüten."

Traurige Kindheitserinnerung an den Vater

Seinen Vater James lernte er erst im Alter von 30 Jahren kennen und erfuhr so nach und nach, dass er noch neun weitere Brüder und Schwestern auf dessen Seite der Familie hatte. "Meine einzige Kindheitserinnerung an James ist aus der Zeit, als ich drei oder vier war. Da hielt ein Mann vor unserem Haus in einem beigen Ford Granada an und versuchte, mich ins Auto zu ziehen", erzählte Nelson.

Doch seine Mutter war sofort da: "Ich erinnere mich lebhaft daran, wie sie an mir zerrten, jeder an einem Arm. Ich wusste nicht, wer er war oder was er wollte, aber ich hatte Angst. Ich weinte, meine Mutter schrie und er schrie zurück: 'Cynthia, lass mich ihn haben!" Bis dahin waren aber die Nachbarn schon auf der Straße und dann gab er auf und fuhr davon."

Später zeigte sich sein Vater geschockt davon, dass sich Johnny ausgerechnet noch an diese Szene erinnerte. Er habe seinen Sohn angeblich nur zu sich holen wollen, weil er gehört hatte, dass seine Mutter ihn zur Patentante geben wollte. Ob das stimmt, fragt sich Nelson bis heute.

Boxen wegen seines Bruders

Der Einfluss der Familie zieht sich aber wie ein roter Faden durch sein Leben, Zusammenhalt war bei sieben Kindern wichtig. "Ich fing nur an zu boxen, weil ich meinen älteren Bruder Alan beeindrucken wollte", gab Nelson einst im "Newcastle Chronicle" zu: "Er ging in Brendans Gym in Sheffield, das schon große Kämpfer wie Herol 'Bomber' Graham und Prince Naseem Hamed hervorgebracht hatte. Ich fand Alan cool und wollte wie er sein. Wann immer ich konnte, bin ich ihm gefolgt."

Lange wusste seine Mutter überhaupt nichts vom Hobby ihres Sohnes. Sie ging sie davon aus, dass Johnny, der aufgrund einer Änderung der Schulpolitik auf eine von Nonnen geführte katholische Mädchenschule ging, eines Tages Priester werden würde. Erst durch ein Bild in der Lokalzeitung fand sie es heraus - Nelson hatte ihr erzählt, er würde nachmittags immer Tanzstunden nehmen.

Doch die Priesterkarriere war ohnehin früh zum Scheitern verurteilt. Nelson hatte oft Ärger in der Schule, war unaufmerksam und prügelte sich: "Dann kam ein Lehrer zu mir, gab mir einen Zettel mit den Prüfungsterminen und sagte mir, ich soll nur dazu erscheinen. Natürlich bestand ich keine einzige und plötzlich war ich raus aus der Schule und auf mich selbst gestellt, in einem Umfeld, das ich nicht kannte. Man hört oft von Leuten, die boxen, um ihrer Umgebung zu entfliehen. Für mich war es ein Weg, wieder rein zu finden."

Nelson: "Ich war ein Feigling"

Sein Bruder war dabei für ihn nicht nur Vorbild, sondern auch Stütze - wenn auch aus dem Hintergrund: "Er ist immer fünf Minuten vor mir rein gegangen und weil wir unterschiedliche Nachnamen hatten, merkte niemand, dass wir Brüder waren. Das klappte für zwei Jahre, aber als es raus kam, wollte jeder gegen mich kämpfen und ich wurde oft verprügelt. Da sie es nicht mit Alan aufnehmen konnten, musste ich herhalten."

Für den damals schüchternen Jungen ein hartes Brot, oft weinte er auf dem Rückweg im Bus. "Ich war nie ein harter Typ, ich war ein Feigling. Alles was ich wollte, war nicht verletzt zu werden. Es war mir egal, ob ich gewann oder ob ich verlor, solange ich nicht verprügelt wurde", blickt er heute auf die Anfänge seine Karriere zurück.

Dennoch bewahrte ihn das nicht davor, trotz zehn Niederlagen in insgesamt 13 Amateurkämpfen den Weg in den Profi-Boxsport einzuschlagen. "Nach meinem letzten Amateurkampf erhielt ich eine Taschenlampe und eine Wolldecke als Preis. Ich fühlte mich verarscht und dachte mir, dass ich wenigstens dafür bezahlt werden könnte, wenn ich schon geschlagen werde", so Nelson.

Dabei handelte er auch gegen die ausdrückliche Warnung seines großen Mentors Brendan Ingle: "Er sagte, ich würde vor meinen Dreißigern nichts gewinnen und er hatte Recht. Er und seine Familie standen mir immer zur Seite und ich hatte auch die volle Unterstützung meiner Frau Debbie."

Das Debakel gegen De Leon

190 Pfund kassierte er schließlich für sein Profi-Debüt gegen Peter Brown - und verlor nach Punkten. In vier seiner ersten fünf Profi-Kämpfe musste sich Nelson geschlagen geben. Obwohl er etwas später seinen ersten Live-TV-Kampf hatte, musste er häufig boxen. Zu gering waren die Gehälter und so musste Nelson teilweise alle zwei Monate in den Ring steigen, um über die Runden zu kommen.

Doch es waren nicht die Prügel im Ring, die ihm wirklich zu schaffen machen sollten. Seinen persönlichen Karrieretiefpunkt erlebte er in seiner Heimatstadt Sheffield gegen Carlos De Leon.

"Auf einmal war ich berühmt und es hat mir wirklich Spaß gemacht. Ich verlor meinen Fokus und dachte nicht wirklich über Taktiken nach", erinnert er sich: "Als ich dann in den Ring kletterte, konnte ich einige Stars der Stadt sehen. Ich hatte wahnsinnige Angst davor, vor diesen Leuten verprügelt zu werden. Deshalb schlug ich zu und lief davon, immer wieder. Am Ende gab es ein Unentschieden, aber ich hatte die Leute verloren."

Monatelange Demütigung in Sheffield

Nelson wurde in der Halle ausgebuht, fünf Jahre brauchte er, um den Kampf persönlich zu verarbeiten. Auf den Straßen von Sheffield wurde er noch monatelang beleidigt und ausgelacht, sein Auto wurde demoliert und selbst Ingle erhielt Drohungen.

"Es war furchtbar, aber rückblickend das Beste, was mir hätte passieren können. Ich lernte. Ich hatte die besten und die schlechtesten Seiten der Menschen gesehen. Ich behielt zwar noch für eine ganze Weile den Ruf eines langweiligen Kämpfers, aber Brendan Ingle meisterte die Situation und ich wurde später mit vielen großen Momenten belohnt."

Dabei bediente sich sein Mentor eines Tricks: Mit einer Anzeige lockte er zahlreiche Männer aus der Gegend ins Gym, denen 700 Pfund versprochen wurden, wenn sie es eine Woche als Nelsons Sparringspartner aushielten. Nelson gab gleich dem Ersten einen derart heftigen Treffer, dass er aus dem Ring kroch. "Die meisten verstanden die Botschaft. Sie betonten, dass sie nur zuschauen und nicht kämpfen wollten. Es gibt viele Sofa-Champions, aber wenige echte", erklärte Nelson. Sein Ruf war zumindest teilweise wieder hergestellt.

Thompson-Kampf als Rehabilitation

Trotz einiger Erfolgserlebnisse bei Titelkämpfen der kleineren WBF brauchte Nelson nach dem Kampf gegen De Leon neun Jahre und die Demontage von Thompson, um mit der Öffentlichkeit ins Reine zu kommen - und um seinen Rekord überhaupt zu ermöglichen. Nelson dominierte den Kampf von Beginn an und als Thompson in der vierten Runde auf die Bretter ging und in der fünften Runde erneut heftig Prügel bezog, beendete der Ringrichter trotz Thompsons heftigem Protest den Kampf.

Sieben Jahre lang hielt Nelson den WBO-Gürtel anschließend und verteidigte ihn in 13 Kämpfen, zum letzten Mal 2005 in Rom gegen Vincenzo Catatore. Als Weltmeister trat er schließlich zurück.

"Ein stolzer Rekord", sagte Nelson, mittlerweile TV-Experte und sozial extrem engagiert, etwa bei der Arbeit mit Gefängnisinsassen, vor einigen Jahren. Eine 14. Titelverteidigung gegen Enzo Maccarinelli musste er aus Verletzungsgründen absagen. Doch da hatte er seinen Frieden mit dem Boxen und Sheffield schon längst gemacht.

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