Es ist die berühmte Ruhe vor dem Sturm im winterlichen Kiew, das am 16. Februar 2014 drei Tage vor der ukrainischen Revolution steht und somit kurz vor seiner größten politischen Umwälzung seit der Unabhängigkeit.
Etwa 700 Kilometer östlich und nahe der russischen Grenze kommt es in Donzek, das sich seit der Revolution in einer politisch ungeklärten Situation befindet, durch einen kleinen Franzosen bereits wenige Tage vor der politischen Wende zu einem historischen Sprung - in diesem Fall mit sportlichen Folgen für die slawische Republik.
Ein Sprung für die Geschichtsbücher
Denn der Stabhochspringer Renaud Lavillenie knackte an diesem Tag eine Bestmarke, die bis zu diesem Zeitpunkt so unumstößlich erschien wie die ukrainischen Karpaten. Mit 6,16 Meter sprang "Air France" einen Zentimeter höher als die ukrainische Hochsprunglegende Sergej Bubka. Der Nationalheld hatte den bis dato existierenden Weltrekord vor über 20 Jahren ausgerechnet in seiner Heimatstadt Donzek aufgestellt.
Bubka, inzwischen erfolgreicher Sportfunktionär und in der Halle zugegen, fand sogleich staatsmännische Worte für den besonderen Augenblick. "Dies ist ein historischer Moment, und ich bin sehr glücklich, dass Renaud es hier geschafft hat, in Donezk, meiner Stadt", schwärmte die Legende: "Das ist fantastisch."
Stab oder Gerte
Die fantastische Reise von Lavillenie bis zu diesem Rekordsprung fand ihren Anfang am 18. September 1986 im westfranzösischen Barbezieux-Saint-Hilaire. Als Sohn eines Stabhochspringers und der Leiterin eines Pferdesportzentrums standen dem kleinen Energiebündel früh die Welten zu zwei extravaganten Sportarten offen - so versuchte sich Renaud neben dem Hochstab auch lange am Voltagieren.
Trotz eines beachtlichen Talents für den Umgang mit den grazilen Reittieren und übersichtlichem Erfolg beim Hochsprung, zeigte der kleingewachsene Jüngling fortwährende Begeisterung für die traditionelle Leichtathletikdisziplin: "Ich wollte das gleiche tun wie mein Vater und verliebte mich schließlich in den Stabhochsprung. [...] Wenn du versuchst zu fliegen und die Messlatte ohne Berührung überquerst - dieses Gefühl ist phänomenal."
Ehrgeiz zahlt sich aus
Anfänglich von seinem Vater betreut, ließ Lavillenie einfach nicht locker und begann als 15-Jähriger mit dem systematischen Training bei Leichtathletikguru Georges Martin. Herausragende Siege oder Medaillen konnte der Ehrgeizling auf Juniorenebene aber nicht erzielen. Mit 20 Jahren übersprang Renaud erstmals die Fünf-Meter-Marke. In diesem Alter und im Vergleich zu anderen Stabhochsprungtalenten keine sonderlich beeindruckende Leistung.
Für den heute 28-Jährigen jedoch der entscheidende Stufenschritt. Binnen zweier Jahre zündete Renaud eine erstaunliche Leistungsexplosion, die schlussendlich im überraschenden Triumph bei den Hallen-Europameisterschaften 2009 in Turin mündete. Seine disziplinierte Arbeit hatte sich bezahlt gemacht - Lavillenie konnte nun immer konstanter sein Potenzial abrufen und besonders auf mentaler Ebene schien der zuweilen verbissene Wettkämpfer seinen Groove gefunden zu haben.
Die sechs Meter fallen
2009 entwickelte sich zum absoluten Schlüsseljahr des französischen Leichtathletiktalents, denn im gleichen Jahr knackte der aufstrebende Jungstar auch erstmals die Sechs-Meter-Marke und wurde dadurch, bei einer Körpergröße von 1,76 Meter, zum kleinsten Athlet, der diese Schallmauer jemals durchbrechen konnte.
Besonders sein rasanter Antritt katapultiert den Franzosen seitdem regelmäßig in außergewöhnliche Höhen: "Auch wenn ich der Kleinste unter den Stabhochspringern bin, liegt meine Stärke vor allem im Anlauf, um diese Höhen zu erreichen", erklärte der kleingewachsene Lavillenie. "Das hilft ungemein, um den richtigen Zugriff auf den Stab zu bekommen und gibt dir einen guten Schub für die Phase beim Abdrücken."
Fleißiger Titelsammler bekommt Konkurrenz
Der erste Herrentitel liegt inzwischen sechs Jahre zurück - seitdem schnappte sich "Air Lavillenie", eine olympische Goldmedaille, dazu jeweils drei Freiluft- und Hallen-EM-Siege. In diesem Jahr gewann er die Hallen-EM mit einem Turnierrekord von 6,04 Meter. Einzig ein Weltmeister-Titel fehlt noch in der beachtlichen Titelsammlung des französischen Sprungwunders.
Dabei zeigte sich ein deutscher Wettkämpfer zuletzt als besonders hartnäckiger Widersacher: Der amtierende Weltmeister Raphael Holzdeppe ist mit Blick auf die Juniorenkarriere der komplette Gegenentwurf zum Franzosen und galt bereits im Jugendalter als großes Zukunftsversprechen in der antiken Leichtathletikdisziplin. Als Lavillenie seinen ersten EM-Titel feierte, war Holzdeppe bereits Junioren-Weltrekordler und amtierender U23-Europameister.
Holzdeppe gelingt die Überraschung
Nachdem sich das deutsche Talent sukzessive in die Weltspitze vorgekämpft hatte und bereits bei der Freiluft-EM 2012 mit dem dritten Platz zu überzeugen wusste, trafen sich die beiden Kontrahenten im Finale der Olympischen Spiele. Beim großen Triumph von Lavillenie grüßte Holzdeppe in London mit persönlicher Bestleistung vom Bronze-Treppchen. Ein richtungweisender Erfolg für den Youngster.
Denn nur ein Jahr später machte 25-Jährige die WM-Ambitionen des französischen Branchenprimus tatsächlich zunichte. In einem vergleichsweise durchschnittlichen Wettkampf in Moskau übersprangen die beiden Duellanten im letzten Durchgang 5,89 Meter. Am Ende benötige Holzdeppe für die letzte Sprunghöhe weniger Versuche und krönte sich zum Weltmeister.
Blick Richtung Peking
Für den fünfmaligen Diamond-League-Gewinner Lavillenie hat die WM in Peking deshalb absolute Priorität: "Das ist das größte Ziel für mich", zeigt sich Renaud motiviert. Die Chancen für den Gewinn des letzten Karriere-Puzzlestücks stehen nicht schlecht.
Seit der Schmach von Moskau pflügte Lavillenie nur so durch die Stadien der Leichtathletik-Welt. Alleine der historische Rekordsprung in Donzek ist Ausdruck einer nahezu beängstigenden Dominanz. Während das Jahr des Weltrekordlers mit der Wahl zum Weltsportler und Welt-Leichtathlet zu Ende ging, durchschritt Holzdeppe ein ernüchterndes Formtief.
Ohne Druck zur WM
Es gibt jedoch Grund zur schwarz-rot-goldenen Hoffnung: Frisch zur WM-Saison 2015 meldete sich Holzdeppe zurück und gewann erst vor wenigen Wochen mit persönlicher Bestleistung seinen ersten deutschen Meistertitel mit einer Höhe von 5,94 Meter. Ein selbstbewusster Fingerzeig in Richtung Lavillenie.
Holzdeppe sieht seine Ausgangslage auf alle Fälle positiv : "Ich komme mit dem Ziel nach Peking: Ich darf meinen Titel verteidigen, ich muss es aber nicht um jeden Preis. Ich möchte nicht ohne eine Medaille wieder nach Hause kommen. Aber wenn es Silber oder Bronze werden sollte, hätte ich Silber oder Bronze gewonnen und nicht Gold verloren."
In China wird Lavillenie so oder so als Titelfavorit anreisen. Der ehemalige französische Gold-Stabhochspringer Jean Galfione ist von seinem Landsmann jedenfalls begeistert: "Er ist nicht der Stärkste, nicht der Größte, nicht der Schnellste, erst mit der Stange in seiner Hand wird er unglaublich stark", schwärmt Galfione. "Er ist unglaublich, er ist einer der Jungs, die kein Limit kennen."