Fliegen mit der Stoppuhr

Oliver Mehring
30. Januar 201601:19
Bis heute gilt Nurmi als erfolgreichster Leichtathlet bei Olympia imago
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Das menschliche Chronometer Paavo Nurmi war einer der dominantesten Läufer der Leichtathletik-Geschichte. Der Finne war Triumphator der Sonnenschlacht von Colombes und erlernte sein Rüstzeug als Wasserlieferant. Zeit seines Lebens von Selbstzweifeln geplagt, war er der erste Fliegende Finne der Sportwelt und wurde zur nationalen Ikone. SPOX stellt den Rekord-Olympioniken vor.

Alle vier Jahre erlebt der Sport das größte Spektakel, das die Welt unter dem Banner der fünf Ringe zu bieten hat. Acht Sprintwunder in den Startlöchern und die Frage: welcher Mensch über 100 Meter der Überirdischste ist? Ein kurzer Moment atemloser Spannung. Der Kampf gegen die physikalischen Grenzen komprimiert in einem Zehn-Sekunden-Opus.

Um dieses Event herum brennen zahlreiche Mittel- und Langstreckendisziplinen einen zuweilen schauderhaften Kontrast in die olympischen Tartanbahnen. Quälende Minuten der mentalen und körperlichen Schinderei. Hässliche Grimassen, hängende Schultern, zermürbende Schritte. Doch ein Mann erhob selbst diese Strapazen zur Kunstform und schien unter den widrigsten Bedingungen fast zu fliegen.

Funktionieren bei 45 Grad

Es ist der 12. Juli 1924, als Paavo Nurmi zusammen mit 37 weiteren Läufern in Paris zum Querfeldeinlauf der achten Olympischen Spiele antritt. Bei Temperaturen von knapp 45 Grad ist an Leistungssport eigentlich nicht zu denken, doch der damals 27-jährige Finne blendet diese unmenschlichen Zustände rigoros aus. Er erlaubt seinem Körper keine Angriffsfläche, keine Schwäche. Zwei Tage zuvor hatte er bereits Historisches vollbracht und innerhalb einer Stunde die Goldmedaille über 1500 Meter und 5000 Meter geholt. Der Laufapparat muss einfach weiter funktionieren.

Funktionieren, darin sah Paavo Nurmi, geboren am 13.6.1897 im südfinnischen Turku, seine sportliche Bestimmung seit Hannes Kolehmann Finnland bei den Spielen 1912 mit drei Goldmedaillen "auf die Weltkarte lief". Nurmi war damals 15 und fasste als begeisterter Läufer den Entschluss, dieses Erbe irgendwann einmal fortzuführen.

Disziplin als Schlüssel

Dabei wurde dem kleinen Paavo vehemente Disziplin in die Wiege gelegt. Die Nurmis waren bettelarm und die meisten Mahlzeiten bestanden bei der Zimmermannsfamilie aus Schwarzbrot und getrocknetem Fisch. Die Schule der fünf Kinder lag mehrere Kilometer entfernt und konnte im Winter nur per Ski erreicht werden. Daneben musste der Nachwuchs früh einen Weg finden, um die Familienkasse zu unterstützen. Leerlauf war keine Option.

Nicht nur deshalb betrachte Vater Johan Frederik das Hobby seines Sohnes als "einen unnötigen Zeitvertreib". Aber der Kleine hatte große Pläne. "Meine Freunde und ich begannen mit einem extrem harten Trainingsprogramm", erinnerte sich Paavo. Jeder Tag war eine neue Herausforderung für den Jungen: "Langläufe, meistens querfeldein, machten wir drei bis viermal in der Woche. Zum Teil zehn Kilometer weit. Normalerweise war der Trainer ein älterer Junge."

Wasser liefern und trainieren

Bereits mit 13 Jahren verlor der junge Nurmi seinen Vater und musste nun als ältester Sohn der Familie einen noch größeren Beitrag zum Unterhalt der Familie leisten. Dadurch war die herkömmliche Trainingsarbeit zwar eingeschränkt, allerdings erledigte er neben Holzarbeiten auch anstrengende Wasserlieferungen, die ihn täglich bis an den äußersten Rand seiner Heimatstadt führten. Darüber hinaus suchte das Ausnahmetalent - spätestens als er mit 17 seine Vereinskarriere startete - nach immer neuen Wegen, um sich zu verbessern.

Das finnische Laufwunder, das bereits mit elf Jahren die 1500 Meter in unter fünf Minuten lief, war einer der ersten Sportler, der systematische Trainingspläne erstellte: Er teilte sein Tage in Intervalle ein, probierte sich an anderen Sportarten, um neue Impulse für seinen Körper zu setzen. Auch Ernährung war früh ein Thema. Der Leichtathlet war jahrelang Vegetarier, verzichtete auf Kaffee, Tee oder Alkohol.

Die Stoppuhr als bester Freund

Im Mittelpunkt seines Schaffens stand allerdings die Arbeit mit der Stoppuhr. Sein Stillauf wurde immer mit der Uhr begleitet und machte ihn zu einem gewieften Taktiker, sein Zeitmanagement war legendär. Der einstige IOC-Präsident Avery Brundage wurde einmal gefragt, was ihm als erstes in den Sinn kommt, wenn er an Paavo Nurmi denkt: "Der mathematische Gebrauch von Zeit".

Ein ausgeprägtes Zeitgefühl wurde zu seinem sechsten Sinn - wie ein menschlicher Chronometer: "Wenn du gegen die Zeit läufst, brauchst du nicht zu sprinten. Die anderen können nicht mithalten, wenn das Tempo konstant schnell ist - bis ins Ziel", erklärte er einst seine Vorgehensweise.

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Paris als Denkmal

Mit dieser Taktik ging Paavo Nurmi auch die Elf-Kilometer-Schinderei über Stock und Stein in Paris an. An der Startlinie wartete bereits Ville Ritola, mit dem Nurmi seine gesamte Karriere über eine Privatfehde führte. Der Landsmann war ebenfalls ein begnadeter Läufer, musste sich aber im direkten Vergleich in Paris bisher immer geschlagen geben. Jedoch hatte Ritola Tage zuvor bei seinem Sieg über 10.000 Meter bewiesen, dass er besonders ein Mann für die intensiven Langstrecken war.

Als entlang der Seine endlich der Startschuss fiel, wirbelten die 76 Beine der Athleten sofort kiloweise Staub in die Luft und machten so schon die ersten hundert Meter zu einer Folter für die Atemwege.

Nurmi ließ sich von den Bedingungen nicht beirren und spulte wie eine Maschine sein Programm ab. Dabei setzte sich der damalige dritte große Name im Langstreckenlauf, der Schwede Edvin Wide, an die Spitze des Feldes und versuchte früh, das Tempo zu diktieren. Dahinter positionierten sich die beiden Finnen.

Einer nach dem anderen

Bereits nach den ersten Kilometern mussten einige Läufer den zermürbenden Temperaturen Tribut zollen. Auf etwa 4,5 Kilometern verabschiedete sich auch der völlig übermotivierte Wide. Nach und nach stieg ein Teilnehmer nach dem anderen aus. Die Konkurrenz verkleinerte sich im Minutentakt. Acht Läufer mussten sogar mit einer Trage abtransportiert werden, auch zahlreiche Zuschauer klagten über Kreislaufprobleme.

Das Highlight setzte aber ein französischer Teilnehmer, der vor heimischem Publikum unbedingt die Ehre der Tricolore verteidigen wollte. Er wurde von einem solch massiven Hitzeschlag getroffen, dass er beim Stadioneinlauf plötzlich anfing, in kleinen Kreisen zu laufen und verlor dabei völlig die Orientierung. Wie vom Blitz getroffen wachte er plötzlich aus seiner Trance auf, rannte im Vollsprint los, knallte in die Zuschauerränge und setzte sich damit selbst K.o.

Per Spaziergang zum Sieg

Von all diesen Ereignissen bekam Nurmi kaum etwas mit. Er beschäftigte sich nur mit seinem eigenen Lauf und überquerte am Ende mit 32:54 Minute - eineinhalb Minuten vor dem Zweitplatzierten Ritola - die Ziellinie. Dabei wirkte der neue Olympiasieger anschließend völlig entspannt und saß wenige Zeit später schon in der Umkleidekabine, um sich wortkarg den Fragen der Journalisten zu widmen.

Jeder andere Läufer war mehr oder minder über die Ziellinie gefallen, nur der 1,74-Meter-große Finne machte den Eindruck, als hätte er soeben einen entspannten Nachmittagsspaziergang gemacht - die Sonnenschlacht von Colombes (nach dem Namen des Pariser Olympia-Stadions) verlieh dem Fliegenden Finne, wie Nurmi von der Presse getauft wurde, seinen endgültigen Legendenstatus als scheinbar leichtfüßiger Kilometerfresser.

Dabei liest sich auch die übrige Erfolgsbilanz des finnischen Nationalhelden wie eine einzige Erfolgsstory: Dreimal Gold und einmal Silber bei den Spielen in Antwerpen 1920, Fünfmal Gold in Paris 1924 und im Alter von 31 einmal Gold und zweimal Silber in Amsterdam. Dadurch gilt der Mittel- und Langläufer bis heute als erfolgreichster Olympionike der Leichtathletik.

IOC sperrt Nurmi lebenslang

Ein Jahr nach seinem letzten Olympiatriumph begann der Stern des Wunderläufers allmählich zu sinken. 1932 wurde der Finne vor den Olympischen Spielen in Los Angeles wegen der Verletzung des Amateurstatus lebenslang gesperrt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er zu viel Geld für Reisekosten bei einem Wettbewerb berechnet hatte.

Bis zuletzt hoffte er auf eine Aufhebung des Urteils und reiste mit einer Zeit von 2:22 Stunden über 40,2 Kilometer in die USA, um seine Karriere mit Gold im Marathonlauf zu krönen. Ein Start blieb ihm allerdings verwehrt. Nurmi versank nach diesem und weiteren persönlichen Rückschlägen in Verbitterung.

Besonders die schwedische Presse, die kein großer Freund der Finnen war, bombardierte ihn nachträglich mit Negativartikeln. Seine 1932 geschlossene Ehe wurde bereits 1935 wieder geschieden. Vom Leistungssport wurde er ausgeschlossen.

Auch als Funktionär oder Trainer durfte Nurmi offiziell nicht arbeiten. Dennoch trat er regelmäßig zu Showläufen an, um Geld für die Finnland-Hilfe zu sammeln, die in den Kriegsjahren die Armen versorgte. Außerdem sprach er als ehemaliger Soldat regelmäßig vor Militärs, um die die kriegsmüden Finnen aufzumuntern.

Das Publikum weint

Erst 1952 erinnerte sich die internationale Sportwelt wieder an den ehemaligen Helden, als der Rekordläufer das olympische Feuer ins Stadion von Helsinki tragen durfte. Das IOC war wenig begeistert, doch von den Zuschauern wurde der Einlauf mit Tränen und Jubelrufen begleitet. Dabei wollte die Läuferlegende eigentlich nie ein Nationalheld sein: "Ich laufe für mich, nicht für Finnland," hatte er einmal erklärt.

Einige Jahre ließ er sich noch als Berühmtheit herumreichen, doch sein Lebensabend war von Depressionen geprägt. Nurmi erblindete beinahe, erlitt mehrere Herzinfarkte und war schließlich halbseitig gelähmt. Als er 1973 verstarb, verfasste Finnlands Staatspräsident Urho Kaleva Kekkonen einen Nachruf, der mit dem Satz endete: "Er war kein glücklicher Mensch!"

Diese Feststellung kommt nicht von ungefähr - bis zuletzt war Nurmi unwahrscheinlich hart gegen sich selbst: "Meine Bilanz ist nüchtern und ehrlich: Ich habe in meinem Leben nichts geleistet." Dagegen steht das Zitat des finnischen Politikerin Marjatta Väänänen, die seine Wahrnehmung in der Heimat zusammenfasste: "Rekorde werden eingestellt, Goldmedaillen verblassen, Sieger werden zu Besiegten. Aber als historischer Name ist Paavo Nurmi unschlagbar."

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