Zehn Punkte Vorsprung hatte Sven Hannawald, als er zum Saisonfinale der Motorsportserie ADAC GT Masters nach Oschersleben kam. Doch anstatt seine zweite Karriere hinter dem Lenkrad einer Chevrolet Corvette gleich im ersten kompletten Jahr mit dem Titel in der Amateur-Wertung zu krönen, wurde sein Auto in beiden abschließenden Rennen von Teamkollegen abgeschossen.
Obwohl dem 35-Jährigen seitdem schleierhaft ist, warum Rennfahrer im Auto manchmal das Gehirn ausschalten, bereut er keine Minute, sich erneut professionell einem Sport zu widmen und seinem Leben damit wieder einen richtigen Sinn zu geben.
SPOX hat Hannawald in München getroffen und mit ihm über das Fehlen eines solchen Sinns, die Sucht nach Nervenkitzel, die Gefahren des Burnout-Syndroms, Robert Enke und Gedanken an ein Comeback im Skispringen gesprochen.
SPOX: Herr Hannawald, ich hatte gehofft, mich mit einem frisch gebackenen Motorsport-Champion zu treffen. Das war aber wohl nichts.
Sven Hannawald: Das stimmt allerdings. Leider.
SPOX: Was ist passiert?
Hannawald: Ich verstehe es auch noch nicht. Ich hatte vor den letzten beiden Rennen zehn Punkte Vorsprung und die klare Ansage im Team war, dass mein Auto gefälligst heil bleibt. Genau das ist aber zweimal nicht passiert. Ich weiß einfach nicht, was in den Köpfen mancher Rennfahrer vorgeht.
SPOX: Sie sprechen den Unfall im ersten Rennen in Oschersleben zwischen ihrem Teamkollegen Thomas Jäger und Corvette-Kollege Sascha Bert an.
Hannawald: Wenn ich ein richtiger Profi bin und es für mich im Rennen um nichts geht, dann muss ich einen Teamkollegen, für den es um die Meisterschaft geht, nicht kaputt fahren. Und wenn ich dann noch merke, dass dieser Fahrer sich auch noch im Recht fühlt, dann verstehe ich die Welt nicht mehr.
SPOX: Sie haben nach diesem Unfall am Samstag gesagt: "Wenn mich das die Meisterschaft kostet, flippe ich aus." Es ist so gekommen. Sind Sie ausgeflippt?
Hannawald: Ja sicher! Aber wenn ich mich da hineinsteigere, dann sage ich Sachen, die ich später bereue. Von daher muss ich das akzeptieren und als wertvolle Erfahrung abhaken. Wenn sich Rennfahrer hinter das Steuer setzen, sind sie einfach nicht mehr sie selbst.
SPOX: Sie sprechen mit unüberhörbarer Distanz von "diesen" Rennfahrern. Ich dachte, Sie sind mittlerweile selbst einer.
Hannawald: Ich habe aus meiner Profikarriere immer noch das Denken: Muss das jetzt unbedingt sein oder nicht? Auch bei uns im Skispringen gab es Leute, die manchmal ausgetickt sind, aber in einem Einzelsport macht das nicht viel aus. Ich sitze allein auf dem Balken und stoße mich ab. Dabei stört mich keiner. Niemand sägt mir den Balken ab. Und wenn es schief geht, bin ich ganz alleine schuld daran. In Massensportarten wie dem Motorsport ist es problematisch, wenn Leute in gewissen Situationen nicht rational denken können und dadurch alles kaputt machen. So etwas frustriert mich.
SPOX: Nimmt Ihnen der aktuelle Frust den Spaß am Motorsport?
Hannawald: Nein, ich bereue gar nichts. Abgesehen vom letzten Rennen war meine erste komplette Saison der Hammer. Vor dieser Saison hätte ich den Titel Vize-Meister mit Kusshand genommen. Schließlich bin ich vorher immer nur Gaststarts gefahren und habe sehr lange gebraucht, um Blut zu lecken.
SPOX: Warum?
Hannawald: Ich glaube, ich bin zu früh zu schnelle Autos gefahren. In der DTM-Rahmenserie Seat Leon Supercopa hatte ich schon in meinen ersten Rennen 250 PS unter der Haube. Damit war ich schlicht und ergreifend überfordert. Das war, wie wenn ich mit Skispringen anfangen will und gleich auf die Skiflugschanze gehe. Ich musste mich erst langsam an die Belastungen gewöhnen.
SPOX: Das hat ja ausgezeichnet geklappt. Wie soll es denn nun weitergehen?
Hannawald: Ich bleibe auf jeden Fall in der GT-Masters-Serie. Ich muss weiterhin mit einem Profi an meiner Seite lernen.
SPOX: Jan Ullrich ist bei den 24 Stunden auf dem Nürburgring gestartet, obwohl er deutlich weniger Motorsport-Erfahrung hat als Sie. Ist das auch eine Option?
Hannawald: Dazu müssen bei mir erst einmal viele Motorsport-Grundlagen automatisch funktionieren. Ich darf nicht mehr über Abläufe im Auto nachdenken müssen. Denn dann wird es gefährlich und ich ende ganz schnell in der Leitplanke. Wenn ich irgendwann mal 24 Stunden fahre, dann will ich nicht nur hinterher schleichen, dann will ich konkurrenzfähig sein. Das ist meine Denke als Sportler. Deshalb spiele ich auch noch kein Golf. Ich habe momentan nicht die Zeit, das ernsthaft anzugehen, aber auch keine Lust, vier Jahre mit einem hohen Handicap herumzuspielen.
SPOX: Immer noch so ehrgeizig?
Hannawald: Das bin ich überall. Alles, was ich mache, will ich gut machen, sonst fange ich überhaupt nicht damit an. Andere gehen vielleicht einfach nur zum Spaß mal auf den Fußballplatz oder spielen eine Runde Golf. Das kann ich nicht. Ich kann Dinge nicht so locker sehen.
SPOX: Ist der Motorsport eine Art Ersatzdroge fürs Skispringen?
Hannawald: Bei beidem ist auf jeden Fall eine Menge Adrenalin im Spiel. Man spielt mit dem Risiko, dass etwas passieren kann, und reizt das bis ans Limit aus. Diesen Nervenkitzel brauche ich. Nach meinem Karriere-Ende habe ich recht schnell gemerkt, dass das Leben ohne Nervenkitzel langweilig ist. Viele Leute gehen spazieren und genießen das schöne Wetter, mir ist das aber zu öde.
SPOX: Ist das ein generelles Problem von Profisportlern?
Hannawald: Ich glaube schon. Sie hatten 20 Jahre lang einen festen Plan, nach dem sie gelebt haben. Der ist plötzlich nicht mehr da. Das ist für einen Sportler extrem schwierig. Klar kann ich weiter Sport treiben, joggen oder mit dem Rad steile Berge erklimmen. Aber das Ziel fehlt. Was bringt es mir, einen Berg am zweiten Tag zwei Minuten schneller hochzufahren als am ersten? Warum soll ich mich fit halten? Ich bin fit.
SPOX: Sie können also nicht ohne den Sport. Zu der Zeit Ihres Burnouts konnten Sie aber auch nicht mehr mit dem Sport.
Hannawald: Wenn man sich in eine Sache so sehr hineinsteigert wie ich damals und Warnsignale des Körpers ignoriert, dann zieht er irgendwann die Notbremse. Mein Ehrgeiz hat dafür gesorgt, dass es neben dem Sport überhaupt nichts anderes mehr gab. Ich bin nicht weggegangen, nichts. Und wenn dann die Ergebnisse dieser Schinderei nicht stimmen, dann steigert man sich umso mehr hinein. Das ist ein Teufelskreis und irgendwann kommt der Punkt, an dem der Körper nicht mehr das leisten kann, was sich der Kopf vorstellt.
SPOX: Hätten Sie im Nachhinein betrachtet früher aufhören sollen?
Hannawald: Ich würde nichts anders machen. Selbst wenn ich damals früher ans Aufhören gedacht hätte, hätte ich es nicht gemacht. Ich weiß, wie ehrgeizig ich bin.
SPOX: Waren Sie manchmal neidisch auf Kollegen, die ganz locker und unbeschwert durch die Karriere geflogen sind?
Hannawald: Nein. Ich vergleiche mich nicht mit anderen. Ich bin, wie ich bin und gehe meinen Weg. Ich sehe bei anderen, dass es auch mit Lockerheit funktionieren kann, aber ich glaube nicht, dass ich auf diese Weise so weit gekommen wäre. Ein Beispiel: Ein Kollege hat früher nach einem weiten Sprung gesagt: "Ich war zwar zu spät am Schanzentisch, aber egal, der Sprung war geil." Ich hätte gedacht: "Wenn ich den Absprung getroffen hätte, wäre vielleicht sogar ein Schanzenrekord dabei herausgekommen."
SPOX: Wie haben Sie Ihren Burnout überwunden?
Hannawald: Ich hatte Glück, dass ich mir alle Zeit der Welt nehmen konnte. Ich hatte keinen Job, ich musste keine Familie ernähren. Wie lange es aber letztlich dauert, kann man nicht pauschal sagen. Die Leute hätten immer gern einen festen Genesungsplan wie nach einem Knochenbruch, aber so funktioniert es nicht. Es ist ein schleichender Prozess, den man zuerst gar nicht bemerkt. Man hat seinen Trott und aus dem muss man erst einmal ausbrechen. Deshalb bin ich damals auch direkt in die Klinik gegangen.
SPOX: Haben Sie das alles mit sich selbst abgemacht?
Hannawald: Ja. Ich tue immer das, was ich für richtig halte. Damals war mir klar, dass ich sofort aufhören muss, egal, ob die Sponsoren auf laufende Verträge pochen oder ob der Skiverband Druck macht. Die wären zu der Zeit ohnehin nicht an mich herangekommen.
SPOX: Sie sind mittlerweile bei weitem kein Einzelfall mehr. Zahlreiche Sportler wie Jan Ullrich oder Sebastian Deisler haben sich geoutet.
Hannawald: Und das ist auch gut so! Heutzutage hat ein Profisportler Dauerstress. Zum Training und den Wettkämpfen kommen 500.000 andere Dinge, die erledigt werden müssen. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass es in Zukunft immer mehr Burnout-Fälle geben wird. Das ist eine Krankheit, mit der man nicht spaßen darf. Das hat der Fall Robert Enke leider auf tragische Weise gezeigt.
SPOX: Sie sprechen den Fall Enke an. Wie weit ist der Weg vom Burnout zur Depression?
Hannawald: Depression ist die unweigerliche Konsequenz, wenn man die Warnsignale des Körpers und der Psyche über Jahre hinweg ignoriert. Irgendwann will man einfach nicht mehr und tut Dinge, die mit normalem Menschenverstand nicht zu erklären sind.
SPOX: Ihre Therapie war zum Glück erfolgreich. Haben Sie danach an ein Comeback gedacht?
Hannawald: Als es mir nach meinem Klinik-Aufenthalt wieder gut ging, habe ich in der Tat damit geliebäugelt. Aber sobald ich wieder in Hinterzarten war und in den alten Trott hineingekommen bin, waren die negativen Gefühle zurück.
SPOX: Angst, das alte Niveau nicht mehr erreichen zu können?
Hannawald: Wenn ich mental unbelastet gewesen wäre, hätte ich es bestimmt wieder erreicht. Aber mit all den Zweifeln nicht.
SPOX: Würden Sie sich heute noch trauen, von einer Skisprungschanze zu springen?
Hannawald: Das würde ich nur für sehr viel Geld machen (lacht).
SPOX: Haben Sie komplett mit dem Skispringen abgeschlossen oder gibt es die Chance auf eine Rückkehr in den Verband - als Trainer zum Beispiel?
Hannawald: Wenn man mich braucht, höre ich mir das an. Aber ich bin im Moment zufrieden damit, wie es ist.
SPOX: Hat es mal konkrete Gespräche gegeben?
Hannawald: Nein. Das war mir aber auch klar, weil ich weiß, wie ein Verband arbeitet. Wenn ich Trainer werden wollte, müsste ich den langen Weg über die Akademie in Köln gehen. Aber ich war 20 Jahre in dieser Mühle drin, ich möchte jetzt erst einmal mein Leben leben.
SPOX: Janne Ahonen hat über sein Leben ein Buch geschrieben. Haben Sie ähnliche Ideen?
Hannawald: Ich bin dran. Aber ich will keine Geschichten abseits des Sports über meinetwegen Alkohol oder Groupies erzählen, nur damit das Buch lesenswert wird. Ich muss mich nicht interessant machen. Mir geht es darum, über das Leben danach zu berichten. Genug Stoff ist mit meinem Burnout und der zweiten Karriere im Motorsport da.