Lance Armstrong gegen Alberto Contador: Der Spannungsbogen der diesjährigen Tour de France wird in hohem Maße vom Zweikampf zwischen dem US-amerikanischen Showman und dem medienscheuen Spanier geprägt.
Was für viele zu Beginn der Rundfahrt noch eine kleine Unstimmigkeit über die Kapitänsfrage im Team Astana war, entpuppte sich während des Rennens als offene Rivalität im kasachischen Team der Superlative.
Armstrongs Ego als siebenmaliger Toursieger verbietet ihm regelrecht, einen anderen Leader als sich selbst zu akzeptieren. Und dass der 37-Jährige nicht ausschließlich nach Frankreich zurückgekehrt ist, um seine Krebsstiftung "Livestrong" zu promoten, ist spätestens seit dem Ruhetag in Limoges eindeutig.
Hochgebirge ist Contador-Terrain
"Wenn ich unterschreiben müsste, dass als Dritter in Paris ankomme, würde ich das nicht tun. Ich kann immer noch gewinnen", sagte Armstrong. Der US-Amerikaner schielt ungeniert auf den großen Coup: seinen achten Tour-Triumph.
Zwei Sekunden trennen ihn momentan von Contador. Acht sind es auf Rinaldo Nocentini im Gelben Trikot. Dessen Chancen auf das Maillot Jaune in Paris sind allerdings so groß wie ein gemeinsamer Urlaub von Armstrong und Contador nach der Großen Schleife.
Welche Chancen bieten sich Armstrong also noch, Contador Zeit abzunehmen? Wo könnte der Amerikaner seinen Rivalen angreifen und vielleicht vorzeitig das Leadertrikot überstreifen?
Eines ist klar: In den Bergen wird es ganz schwer für ihn werden. Zwar sind mit dem großen und kleinen Saint-Bernard, dem Roselend oder dem Colombiere noch zahlreiche schwere Alpenriesen zu bewältigen, doch das Hochgebirge ist Contadors Terrain.
Contador spaltet Astana
Im Schlussanstieg hinauf nach Arcalis hat der 26-Jährige seine sportliche Ausnahmestellung am Berg zementiert - wenn auch auf zweifelhafte Weise.
Denn sein Angriff in Andorra hat das Team endgültig in zwei Lager gespalten. "Contadors Vorstoß war nicht geplant. Wir wollten die Attacken der anderen abwarten und, egal was passiert, zusammenbleiben", bestätigte Teamchef Johan Bruyneel die am Morgen ausgegebene Mannschafts-Strategie.
Popowitsch: Armstrongs Bodyguard
Aller Meuterei zum Trotz: Contador braucht am Berg niemanden zu fürchten. Auch nicht Armstrong, dessen berühmter Stakkato-Tritt von einst bislang noch unsichtbar blieb.
Nach dem verletzungsbedingten Ausscheiden von Levi Leipheimer steht mit Jaroslaw Popowitsch wohl nur noch ein Fahrer der Mannschaft vorbehaltlos auf der Seite des US-Amerikaners, doch in den steilen Rampen der Alpen wird ohnehin jeder auf sich alleine gestellt sein.
Jens Voigt beschreibt den Moment der Wahrheit so: "Da helfen dir auch keine 100 Domestiken. Zu diesem Zeitpunkt bist du alleine mit deinen Schmerzen und deinem Können."
Die drei Berg-Szenarien
Geht es bergauf, bieten sich Armstrong drei mögliche Szenarien. Die gefährlichste Variante aus seiner Sicht: Contador attackiert am Anstieg als Erster und die Mitfavoriten um Cadel Evans, Carlos Sastre und die Schleck-Brüder können oder wollen nicht mitgehen.
Dann müsste Armstrong still halten und die Rivalen fahren lassen, wenn er seine selbstauferlegte Loyalität nicht über den Haufen werfen will: "Wenn das nach Verbier passiert oder am Mont Ventoux, habe ich keine andere Wahl. Ich kann nicht die Regeln des Teams brechen. Ich werde immer den Regeln der Mannschaft folgen."
Auch bei der zweiten denkbaren Konstellation scheint Armstrong im Nachteil. Dann nämlich, wenn einer der Mitfavoriten das Feuer eröffnet und die Flucht ergreift. Zwar wird Armstrong versuchen zu folgen, aber auch Contador wird das Hinterrad der Schlecks, Sastres und Evans nicht aus den Augen verlieren und keine Zeit einbüßen.
Duell Mann gegen Mann unwahrscheinlich
Szenario drei bietet dem Rekord-Toursieger die größten Möglichkeiten, einen Vorsprung auf Contador herauszufahren: Er kommt seinem Rivalen zuvor und greift selbst so früh wie möglich an. Hat der Amerikaner Glück, dann können ihm die Mitstreiter nicht folgen und Contador wäre gezwungen, bei ihnen zu bleiben.
Das große Spektakel schlechthin wäre ein direkter Kampf zwischen den beiden Leadern. Doch soweit wird es Armstrong-Intimus Bruyneel nicht kommen lassen. Noch einmal wird der Belgier seine Autorität nicht untergraben lassen.
Bruyneel: "Ich bin der Anführer"
Bruyneel wird den Teufel tun und seinem langjährigen US-amerikanischen Freund die Chance auf Gelb verwehren. "Es gibt Trümpfe und Bauern. Ich allein entscheide über die Taktik. Ich bin der Anführer", gab der Belgier kürzlich unmissverständlich zu verstehen.
Scheitert Armstrongs Versuch, den Abstand zu Contador in den Bergen zu verringern oder stabil zu halten, bleibt ihm noch seine Domäne aus vergangenen Tagen. Auf dem 18. Tagesabschnitt steht eine der diesjährigen Schlüsseletappen auf dem Plan. Um den See von Annecy findet ein 40 Kilometer langes Einzelzeitfahren statt.
Ein relativ flacher Parcours mit nur einer kleinen Mauer von sechs Prozent Steigung. Hier könnte Armstrong seine Qualitäten im Kampf gegen die Uhr in die Waagschale werfen und Contador Zeit abknöpfen.
Doch der Abstand der beiden Kontrahenten wird sich an diesem Tag in Grenzen halten. Es wird um Sekunden gehen, nicht um Minuten. Zu kurz ist die Runde am See, zu stark hat sich der Spanier in den letzten Jahren in dieser Disziplin entwickelt.
Armstrong: Meister der psychologischen Kriegsführung
Aber Armstrong wäre nicht Armstrong, hätte der ausgebuffte Texaner nicht noch ein Ass im Ärmel: Er ist ein Meister der psychologischen Kriegsführung und stellte dies in den vergangenen Tagen mehrfach unter Beweis.
"Es gibt zwei verschiedene Kapitänsansichten. Erstens: der stärkste Fahrer. Zweitens: der Erfahrenste, derjenige, dem die Teamkollegen am meisten vertrauen. Und der bin ich", sagte Armstrong gegenüber der italienischen "Gazzetta dello Sport".
Und seine Giftpfeile zeigen Wirkung beim Ziel namens Alberto Contador. Der Zeitfahrmeister reagierte sichtlich genervt: "Ich habe das Thema satt. Wir sind nicht die besten Freunde. Wir essen zusammen und fahren gemeinsam im Bus. Das war's. Das alles ist keine ideale Konstellation, um gut Rad zu fahren", beklagte sich Contador.
Experten sind sich uneinig
Die Experten sind sich indes uneins über Armstrongs Chancen, die Tour ein achtes Mal zu gewinnen. "Lance kommt nicht zurück, um Zweiter zu werden. Der Ehrgeiz in ihm ist aufs Neue erwacht. Ich denke, er wird die Tour gewinnen", sagt Jens Voigt vom Team Saxo Bank.
"Ich glaube nicht, dass er die Tour gewinnt. Mit Attacken in den Bergen hat er Schwierigkeiten", entgegnet Tour-Legende Bernard Hinault. Und Saxo-Bank-Chef Bjarne Riis prophezeit mit Blick auf die Schleck-Brüder: "In den Alpen zünden wir ein Feuerwerk."
Milram-Sprinter Gerald Ciolek sieht ebenfalls den Spanier in der Favoritenrolle: "Ich denke, es wird schwierig für Lance, denn Alberto Contador macht einen starken Eindruck", sagt der 22-Jährige im SPOX-Interview.
So blickt die Tour gespannt auf den ersten Schlagabtausch in den Bergen, am Sonntag auf dem Weg nach Verbier. Die Entscheidung wird freilich später fallen.
"Schreibt eure Geschichte nicht zu Ende, bevor wir nicht auf dem Mont Ventoux waren", empfiehlt Armstrong und bringt es auf den Punkt: "Das ist ein Rennen zwischen Alberto und mir."