Möchte man sich den perfekten Radfahrer schnitzen, dann geht man von einer drahtigen Erscheinung aus. Um die 1,75 Meter groß, lange Gliedmaßen, kompakter Torso. Perfekt um auf ebenen Strecken durch die richtige Hebelwirkung genügend Speed in die Pedale zu bringen. Dazu wenig Gewicht, das auf den Bergetappen sonst nur unnötig an den Kräften zehrt. Wenn dann noch eine überdurchschnittliche Ausdauer und mentale Kraft hinzukommen, hat man eine Cycliste-Wunderwaffe.
Der Spanier Miguel Indurain fuhr im Radzirkus unter ganz anderen Voraussetzungen. 80 Kilogramm Körpergewicht verteilten sich auf 1,88 Meter geballte Athletik. Breite Schultern, eine massive Statur. Was sich im ersten Moment wie eine verfehlte Wahl der Sportart liest, war schließlich der Schlüssel für die beeindruckende Dominanz von Big Mig.
Ein Bauernsohn aus Pamplona
Neben seiner ausgeprägten Physis verfügte der großgewachsene Indurain über eine vorbildliche Arbeitsmoral. Diese bekam er früh auf der Farm seiner Eltern in Villava nahe Pamplona vermittelt, auf der er am 16. Juli 1964 geboren wurde. Vater Bruno war ein stolzer Baske, der wenig redete und lieber seine Arbeit für sich sprechen ließ. Auch Miguel lebt bis heute nach dieser Devise: "Ich habe die innere Ruhe von meinem Vater, einem Farmer, geerbt. Du sähst, wartest auf gutes oder schlechtes Wetter, du erntest - aber Arbeit musst du immer verrichten."
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Mit dieser Einstellung stieg Miguel früh aufs Rad - schließlich hat der Norden Spaniens eine lange Radsport-Tradition. Zusammen mit seinen drei Schwestern und seinem Bruder Prudencio - ebenfalls ein professioneller Radfahrer - lieferte sich Miguelon auf dem heimischen Hof regelmäßig verbissene Rennen. Obwohl er sich zwischenzeitlich für Basketball, Fußball und Leichtathletik begeisterte, ließ ihn die Faszination für den Radsport nie los.
Das Rennrad gibt den Startschuss
Mit elf bekam Indurain sein erstes Rennrad geschenkt und nahm sofort an ersten Wettfahrten teil. Nach einer Woche kam der kleine Indurain mit seinem ersten Sieg nach Hause. Ein Jahr darauf klopfte das erste offizielle Team an.
Innerhalb von fünf Jahren mauserte sich das Sprinttalent durch Erfolge bei den Provinzmeisterschaften von Navarra und durch über 50 Einzelsiege zum großen Versprechen des spanischen Radsports. Nur wuchs er immer mehr in die Höhe und legte auch stetig an Gewicht zu. Gerade auf Bergetappen hatte er immer öfter das Nachsehen.
Ein Amateur startet durch
Nichtsdestotrotz wurde der damals 18-Jährige durch das regionale Pro-Team Reynolds unter Vertrag genommen. Indurain fuhr zunächst für den Amateur-Kader und schnappte sich nach einer einjährigen Eingewöhnungsphase auch bei den Erwachsenen die Provinzmeisterschaft. Dazu beendete er die Saison mit dem spanischen Amateurtitel.
Seine Leistungen katapultierten ihn geradewegs in den spanischen Olympia-Kader. Mit Beginn der professionellen Karriere musste er sich durch die Mühlen der Team-Hierarchie bei Reynolds kämpfen, konnte jedoch einige Ausrufezeichen setzen.
Vor allem bei Zeitfahren machte Indurain von sich reden. Die Leistungen des jungen Spaniers ließen aufhorchen. Bei den Leistungstests kam heraus, dass der großgewachsene Pedalritter über schier unerschöpfliches Potential in Bezug auf Ausdauer und Kraft verfügte, das man nur mit dem richtigen Training kanalisieren musste.
Der beschwerliche Aufstieg
Dennoch tat sich Miguel in der Folge schwer. Es bestanden nach wie vor Zweifel an seinen Kletter-Qualitäten. Zudem verfügte das Team mit Julian Gorospe und Pedro Delgado bereits über zwei Klassefahrer.
Auch der damalige Teamchef, Francis Lafargue, erklärte später: "Wir waren nicht ungeduldig, wir hatten einfach kein Auge für ihn. Delgado war unser Anführer. Er gewann die Tour 1988. Miguel war jung, aber zu dieser Zeit war er verdammt schwer. Er wog mehr als 80 Kilogramm. Wir dachten bei ihm nicht an Titel."
Nur ein Jahr später änderten sich jedoch die Vorzeichen. Der junge Spanier hatte sein Körpergewicht deutlich reduziert. Indurain gewann Paris-Nice und konnte vor allem am Berg überzeugen. Auch wenn ihn schließlich eine Handverletzung zurückwarf, leistet er bei der Tour einen eindrucksvollen Teambeitrag und unterstützte Teamleader Delgado nach Kräften. Dazu holte sich der Jungsprinter seine erste Etappe auf der Frankreich-Rundfahrt.
Die Wachablösung
1990 sollte sich schließlich als Schlüsseljahr entpuppen. Miguel zeigte bei zahlreichen Rundfahrten seine Klasse und wurde schließlich als Domestik - dessen vorrangige Aufgabe es ist, seinen Mannschaftskapitän zu unterstützen - auf die Tour geschickt. Spätestens bei den Bergetappen schien der Youngster deutlich fitter als sein Kapitän Delgado und wurde in seiner Leistung förmlich ausgebremst.
Zum Ende des Jahres wechselte der inzwischen 26-Jährige seinen ärztlichen Betreuerstab und arbeitete fortan mit Sabino Padilla zusammen. Der berühmte Sportmediziner öffnete jegliche Potentiale in der schlummernden Sprintmaschine und hatte großen Anteil an den später gemessenen Fabelwerten, die seither durch die Radwelt geistern.
Big Mig verfügte mit acht Litern Lungenkapazität über das fast doppelte Volumen eines durchschnittlichen Menschen (als das gemessen wurde, war hinterher das medizinische Gerät kaputt). Sein Ruhepuls von 28 Schlägen pro Minute ist der niedrigste Wert, der je bei einer gesunden Person gemessen wurde. Seine Kraftübertragung von 455 Watt, die er auf dem Rad leistete, ist absolute Spitze. Vor Radfahr-Legenden wie Bjarne Riis (449 Watt) oder Lance Armstrong (438 Watt).
Eine Ära beginnt
Dieser fleischgewordene Sprintapparat wurde 1991 schließlich auf die Radwelt losgelassen. Nach einem Dämpfer bei der Tour of Spain gingen Herausforderer Indurain und Altmeister Delgado als Führungs-Doppel in die Tour. Vor allem während der Zeitfahrten fuhr jedoch der Jüngere der beiden das Peloton in Grund und Boden.
Für die Bergetappen legte sich der nahezu emotionslos wirkende Spanier eine effektive Taktik zurecht. Trotz seiner inzwischen antrainierten Kletter-Qualitäten suchte Miguelon nie den Führungsabstand, sondern hielt sich immer am Hinterrad des Führenden auf. Somit ließ er sich bergauf "hinaufziehen", nur um taleinwärts konsequent den Turbo zu zünden.
"Meine Stärke war das Zeitfahren. Mir war klar, dass ich dort Zeit gutmachen und sie in den Bergen verteidigen musste", erklärte der Pedalritter einmal im Interview mit SPOX.
Die Stille dominiert
Mit dieser Taktik landete "El Silencio" (Der Stille), wie er wegen seiner wortkargen Art genannt wurde, seinen ersten Tour-de-France-Titel. Im darauffolgenden Jahr sprang sogar das Double aus Giro und Tour heraus. Die französische Presse taufte ihn "Alien" und von da an hieß es: "Alle gegen Indurain" (L'Equipe). 1993 wiederholte er den Doppelerfolg bei Giro und Tour de France und stieg damit endgültig in den Rad-Olymp auf. Der italienische Profikollege Claudio Chiappucci war nur noch bedient: "Ich glaube, ich verzichte darauf, gegen Miguel anzutreten. Es ist einfach sinnlos."
In der Zwischenzeit war Miguelon, ausgerechnet ein Baske, zu einer nationalen Ikone aufgestiegen. Seine zurückhaltende und freundliche Art imponierte den Menschen. "Indurain hat Spanien mehr geeinigt als jeder andere. Er ließ uns an den herrlichsten Siegen teilhaben", erklärte der spanische Schriftsteller Manuel Vazquez Montalban später.
1994 zeigte er sich beim Giro in einer schwierigen Verfassung und musste seinen Titel in Italien abgeben. Bereits beim ersten Zeitfahren der Tour de France hingegen, nahm er dem zweiplatzierten Tony Rominger zwei Minuten ab. Diesen Abstand konnte er schließlich bis nach Paris tragen. Tour-Titel Nummer vier war die Folge.
Ein letzter Kraftakt für den Rekord
Den finalen Tour-Erfolg und damit auch den Rekord für die meisten Titel in Folge (5), glich einem allerletzten Kraftakt. "Der Außerirdische" hatte sich die Nase operieren lassen, um besser Luft zu bekommen. Dazu hungerte er sich dank einer speziellen Diät auf 76 Kilogramm. Bei seiner letzten erfolgreichen Frankreich-Rundfahrt wurde der Baske erstmals auch von den französischen Fans verehrt, die in ihm jahrelang einen Langweiler gesehen hatten. Die absolute Dominanz kannte nur noch Huldigung und Anerkennung.
Bevor Indurain seinen Beruf aber wieder zum Hobby machte, gewann er 1996 noch die Goldmedaille bei den olympischen Spielen in Atlanta. Nach zwölf Jahren war der stille Spanier am Ende seiner Reise angekommen.
Auch wenn die Karriere von Big Mig bis heute von Doping-Vorwürfen begleitet wird, gilt er innerhalb der Radsportwelt als absoluter Ausnahmekönner. Allein die schier unmenschliche Physis, seine respektvolle Art und die beeindruckende Dominanz werden für immer einen Platz in den Ruhmeshallen des Radsports einnehmen.