Nach langem Zögern hat Schach-Weltmeister Magnus Carlsen nun doch seine Zusage für eine Titelverteidigung gegeben. Herausgefordert wird der Champion ab dem 7. November erneut von Viswanathan Anand, selbst in der Vergangenheit mehrfacher Titelträger. Der "Rückkampf" in Sotschi - 2013 gewann Carlsen souverän - verspricht also jede Menge Brisanz. SPOX stellt den indischen Altmeister vor.
Viswanathan Anand spielt eine gelungene Eröffnung. Aufgrund einiger Ungenauigkeiten gerät er danach in die schlechtere Position, aber noch nichts Wildes. Der Routinier verteidigt sich perfekt. Es folgen, wie Anand selbst zugibt, fünf bis sechs zweitbeste Züge. Im anschließenden Turmspiel will Anand auf keinen Fall überhastet ziehen, übersieht am Ende aber ein Turmmanöver komplett.
So verliert er Spiel fünf der Weltmeisterschaft und liegt damit in der Gesamtwertung mit 2:3 zurück. "Stunden später fiel mir ein, wie ich es hätte spielen müssen. [...] Ich schlief die ganze Nacht nicht." Anand kann den Rückstand in den folgenden Partien nicht mehr aufholen: Magnus Carlsen wird 2013 zum ersten Mal Schachweltmeister.
Das Rematch hing lange in der Schwebe: Titelträger Carlsen war sowohl mit Sotschi als Austragungsort aufgrund der geographischen Nähe zum Unruheherd Ukraine unzufrieden, als auch mit den finanziellen Rahmenbedingungen. So ließ der 23-Jährige die erste, eigentliche Frist des Weltverbandes FIDE sogar verstreichen, bevor er endlich den Vertrag unterschrieb. Mittlerweile ist klar: Das WM-Finale wird wie geplant zwischen dem 7. und 28. November steigen. Fans aus aller Welt können sich also auf eine Wiederauflage freuen - mit vertauschten Rollen. 2013 hatte Carlsen Viswanathan Anand als Weltmeister entthront.
Gegensätze ziehen sich an
Unterschiedlicher könnten die beiden Kontrahenten nicht sein. Der norwegische Titelverteidiger ist ein Genie wider Willen und hat sich unter anderem mit Modelverträgen einen Ruf als Posterboy erarbeitet. Manch einer hofft, dass der amtierende Weltmeister den Sport aus seiner verstaubten Ecke holen kann. Anderen, konservativ gesinnteren Experten der alten Schule, ist die polarisierende Persönlichkeit Carlsens ein Dorn im Auge. Wie auch immer man zu ihm steht: Seine Qualitäten am Brett sind unumstritten. Gegen Anand geht er als klarer Favorit ins Duell um die Krone des Sports.
Ganz anders als sein Widersacher präsentiert sich Anand. Der 44 Jahre alte entthronte Altmeister, der schon vor Monaten seine Zusage für das Duell gab, ist quasi die verkörperte Bodenständigkeit. Nicht nur hinsichtlich des Unterschrift-Zeitpunkts unterscheiden sich die beiden Konkurrenten. Anand gehört zur alten Garde, tritt stets souverän und als Gentleman auf: Seine jahrzehntelange Erfahrung auf der internationalen Schachbühne merkt man ihm an.
Schachfieber aus den Philippinen
Schließlich spielt der Inder schon 38 Jahre lang Schach: Mit sechs Jahren bringt ihm seine Mutter das Spiel der Könige bei. Schnell begeistert er sich für den Sport und spielt schon ein Jahr später in einem Schachverein.
Endgültig packt ihn das Schachfieber im Alter von acht Jahren, als die Familie aus beruflichen Gründen für ein Jahr von Chennai auf die Philippinen übersiedelt. Nach der Schule löst der Junge Schach-Rätsel mit seiner Mutter, zudem findet in der temporären Heimat der Weltmeisterschaftskampf zwischen Anatoli Karpow und Viktor Kortschnoi statt. Das Duell zwischen dem liniengetreuen Karpow und dem Dissidenten Kortschnoi zieht Anand in seinen Bann.
Nach der Rückkehr in die Heimat beginnt sein Siegeszug. Schon früh lässt er sein ganzes Talent aufblitzen und gewinnt Jugendturniere. 1985 wird das 15-jährige Wunderkind zum bis dato jüngsten "Internationalen Meister", in den Folgejahren zum jüngsten Landesmeister Indiens überhaupt. Dank seiner Erfolge verleiht ihm der Schachverband FIDE die Auszeichnung "Großmeister".
Von Anfang an zeichnet ihn sein sehr schnelles und intuitives Verständnis für wesentliche Merkmale einer Stellung aus. Wegen seiner Stärken im Schnellschach bekommt er den Spitznamen "Lightning Kid".
Meister des 21. Jahrhunderts
Es dauert jedoch noch einige Zeit, bis er den Schacholymp erklimmt: Nach mehreren Anläufen triumphiert er 2000 schließlich in einem Mammut-Turnier mit 100 Teilnehmern, im Finale schlägt er Alexei Shirov klar mit 3,5:0,5 und ist FIDE-Titelträger. 2002 verliert er den Titel wieder, aber die Weltspitze verlässt er nicht: Nachdem sich der Verband 2005 mit der rivalisierenden "Professional Chess Association" vereinigt, kommt Anands Blütezeit. Er ist der erfolgreichste Spieler des neuen Jahrtausends: Von 2007 bis 2013 hält er den Weltmeistertitel und verteidigt ihn in dieser Zeit dreimal.
Dank des "Tigers von Madras" erreicht Schach in Indien einen neuen Stellenwert. Es ist auch Anands Vorbild zu verdanken, dass Indien im internationalen Vergleich mittlerweile bis auf Rang fünf hochgeschnellt ist: Kaum einer der übrigen Großmeister ist älter als 30.
Von Rammstein bis Tiki-Taka
Dabei sind Anands Interessen bei weitem nicht nur auf Schach beschränkt: Wie man es von einem Mann mit derartigen intellektuellen Fähigkeiten vielleicht erwarten würde, spricht er mehrere Sprachen fließend. Von Rammstein über die amerikanische Innenpolitik bis hin zu Tiki-Taka: Er kennt sich aus. Auch sozial engagiert sich der Brahmane: Er unterstützt und fördert Sprachschulen oder sammelt Spenden für den Kampf gegen Kinderlähmung. Seinen Humor beweist ein Schild, das an der Tür zu seinem Arbeitszimmer hängt: "Vishy is indahouse".
Dass in seiner Heimat Schach mittlerweile als Schulfach unterrichtet wird, macht ihn stolz - betreffen wird es den drei Jahre alten Sohn Ankhil allerdings nicht, schließlich lebt Anand mit ihm und Frau Aruna, die ihn als Managerin betreut, in Madrid. Schwierigkeiten hätte Ankhil sowieso keine: Von seinem Papa hat er schon vor einem Jahr die Schachregeln gelernt.
"Der Computer ist immer dabei"
Der nach außen eher unscheinbare Großmeister hat die technologische Revolution im Sport hautnah miterlebt. "Früher haben wir uns vor der Partie ein Buch gegriffen, nach einer Idee gesucht und dann gesagt: Das probier' ich gleich mal aus. Heute unvorstellbar." Verglichen mit Anands Anfangszeit haben sich die Analyse- und Trainingsmöglichkeiten drastisch geändert.
Jeder Spieler sei heute vom Schachcomputer abhängig, stellte er vor dem Finale 2013 klar. Selbst Carlsen, dem die Eröffnungsvorbereitung nicht bis ins Letzte wichtig sei, sei da keine Ausnahme: "Auch sein Zugang ist vom Computer beeinflusst. Jeder arbeitet mit dem Computer. Und wenn es nur um den Hintergrund geht: Der Computer ist immer dabei."
"Du nimmst die Attacken persönlicher"
Dem Kontrahenten in Sotschi hat er seinen reichen Erfahrungsschatz voraus: Bei Anands erstem WM-Kampf war Carlsen gerade einmal vier Jahre alt. 19 Jahre sind seitdem ins Land gezogen - und der Altstar will es nochmal wissen. Mit seiner besten Leistung seit Jahren konnte er sich beim Kandidatenturnier überraschend für einen Rückkampf um den Thron qualifizieren. Das ist Rekord: Bislang war es noch keinem anderen Spieler gelungen, nach fast zwei Jahrzehnten wieder im Finale zu stehen - das Alter macht eben auch vor Schach-Genies nicht halt.
Dass die Menschen vor der WM 2013 für seinen Sieg beteten, zeigt Anands Standing in der Heimat. Wie sehr er sich mit seinen Figuren identifiziert, unterstrich er im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2013: "Was auf dem Brett passiert, passiert auch mit dir. Du fühlst mit. Wenn du verlierst, meinst du, du selbst wirst auseinandergerissen, nicht nur deine Figuren. Wenn du ständig gegen denselben Gegner spielst, bist du so auf ihn fokussiert, dass du Attacken viel persönlicher nimmst."
Carlsen "hat keine Schwächen"
Obwohl er mit dem Alter und der Erfahrung ruhiger spielt, verlor er letztes Jahr gegen Carlsen. Die Favoritenrolle beim Wiedersehen dürfte anhand der Elo-Werte, mit der die Stärke der Großmeister gemessen wird, deutlich verteilt sein: Mit 2863 hat der Weltranglistenerste Carlsen rund 70 Punkte mehr auf dem Konto als sein Herausforderer.
"Man könnte sagen, dass seine Herangehensweise einem Computer ähnelt", analysierte Anand im vergangenen Jahr im Interview mit "Firstpost.com". "Ich dachte, ich könnte ihn packen, ihn zu Fehlern zwingen. Aber sein Stil macht das sehr schwer. Er hat keine Schwächen, und wenn er Fehler macht, sind sie nicht gravierend genug, um daraus einen Vorteil zu ziehen." Der so Gelobte bescheinigt Anand im Gegenzug eine höhere Konstanz, aber "andererseits kenne ich ihn diesmal besser."
Vor rund einem Monat wurde Anand eine ungewöhnliche Ehre zuteil. Nach dem Hobby-Astrofotografen wurde ein Asteroid des inneren Hauptgürtels genannt. Ob sein Stern nach 38 Jahren am Schachbrett ein letztes Mal aufgeht, wird sich ab dem 7. November zeigen. Allzu viele Chancen auf den Weltmeistertitel dürfte Anand nicht mehr bekommen.