SPOX: Lassen Sie uns über die WM sprechen. Sie werden wieder über die kompletten 17 Tage als Kommentator und Experte für die BBC dabei sein. Fällt es Ihnen schwer, die Spieler zu kritisieren? Gegen die meisten haben Sie ja selbst noch gespielt.
Hendry: Nein, das finde ich überhaupt nicht schwer. Ich glaube sogar, dass ich bei den Spielern mittlerweile einen gewissen Ruf habe: Sie mögen es nicht wenn ich ihre Spiele kommentiere, weil sie wissen, dass ich sie nicht schonen werde. Wenn sie mich vor dem Spiel sehen, sagen sie immer: "Sei bitte nicht so hart zu mir."
SPOX: Und das hilft?
Hendry: Ich bin einfach ehrlich. Wenn es ein schlechter Stoß war, dann werde ich nicht drum herum reden, sondern dann sage ich: Das war ein schlechter Stoß. Ich schaue mir viele Sportarten im Fernsehen an und halte es für extrem wichtig, dass die Experten ehrlich sind und ihre Meinung sagen.
SPOX: War es von Anfang an der Plan, nach der Karriere zum Fernsehen zu gehen?
Hendry: Nein, daran hatte ich als Spieler keinen Gedanken verschwendet. Aber wenn man aufhört, muss man überlegen, wie es weitergeht. Und Snooker ist mein Leben. Es gibt eigentlich nichts anderes, das ich wirklich gut kann. (lacht) Letzten Endes war es eine logische Konsequenz. Ich weiß natürlich sehr viel über das Spiel, also kann ich auch darüber reden.
SPOX: Dann würden wir gerne Ihre Meinung als Experte hören. Können wir Ihnen ein paar Spieler nennen und Sie schätzen Ihre Chancen ein?
Hendry: Natürlich.
SPOX: Gut. Starten wir mit Weltmeister Stuart Bingham. Wenn man sich seinen Twitter-Account anschaut, dann hat er das letzte Jahr als Weltmeister genossen. Kann er den Titel verteidigen?
Hendry: Mit einem Wort: nein. Aber im letzten Jahr dachte ich, er verliert im Viertelfinale gegen Ronnie O'Sullivan und er gewann. Dann dachte ich, er verliert im Halbfinale gegen Judd Trump und er gewann. Und dann dachte ich, dass Shaun Murphy im Finale der größte Favorit aller Zeiten wäre - und Stuart hat ihn geschlagen. So viel verstehe ich von Snooker also doch nicht. (lacht) Es ist zwar nicht unmöglich, aber: Nein, er wird dieses Jahr nicht gewinnen.
(Anm. d. Red.: Bingham schied später in der ersten Runde aus.)
SPOX: Was ist mit Ronnie O'Sullivan?
Hendry: Das kommt ganz darauf an, welchen Ronnie O'Sullivan wir sehen werden. Er hat das Talent und das Spiel um zu gewinnen, kein Zweifel. Aber ich glaube, dass sein Vorsprung auf die anderen nicht mehr so groß ist wie noch vor ein paar Jahren.
Shaun Murphy im Interview: Ronnie ist der Talentierteste, nicht der Beste
SPOX: Ronnie ist nicht gerade ein Vielspieler. Wie wichtig sind die Ergebnisse der letzten Wochen, wenn man ins Crucible kommt? Oder kann man sich dort "in Form spielen"?
Hendry: Bei Spielern wie Ronnie oder auch bei mir geht das - es ist schließlich das größte Turnier des Jahres. Da spielt eine Schwächephase zuvor keine zu große Rolle. Wenn ich an die Saison zurückdenke, als ich zum siebten Mal Weltmeister wurde: Damals verlor ich dreimal gegen einen Spieler namens Tony Drago, gegen den ich zuvor noch nie verloren hatten. Bei der UK Championship verlor ich gegen Marcus Campbell sogar 0-9. Vor der WM war meine Form also eine Katastrophe. Aber man kann sich vom Turnier und vom Crucible Theatre inspirieren lassen und dann ist man ein ganz anderer Spieler.
SPOX: O'Sullivan steht bei fünf WM-Titeln. Drücken Sie seinen Gegnern die Daumen, weil Sie wollen, dass Ihr Rekord so lange wie möglich Bestand hat?
Hendry: Natürlich! (lacht) Das ist die einzige Bestmarke, die mir alles bedeutet. All die anderen, die 147er, die Centuries, die Titel bei Ranking-Turnieren: Es ist unvermeidlich, dass sie fallen werden, einfach weil es heute so viel mehr Turniere gibt. Aber es gibt nur eine WM pro Jahr. Und die ist mit ihren vielen Frames die größtmögliche Herausforderung. Ich hoffe natürlich, dass mir dieser Rekord bleibt. Aber wenn ihn einmal jemand brechen sollte, dann werde ich damit leben müssen.
SPOX: Wie sieht es in diesem Jahr mit Judd Trump aus?
Hendry: Wenn ich auf einen Sieger tippen müsste, er wäre es. Der Sieg bei den China Open zuletzt war enorm wichtig für ihn, weil er zuvor fast zwei Jahre lang kein Ranking-Turnier gewonnen hat. Ich glaube, dass er als Spieler und Person gereift ist. Es gibt nicht mehr so viele Tweets über schnelle Autos, Urlaubsreisen und dergleichen, wie ich höre. Es wird auch langsam Zeit, weil er mit fast 27 in Gefahr steht, seine Karriere zu verschleudern. Er hätte die WM schon längst gewinnen müssen. Ich habe mit 21 gewonnen, er ist 26. Im Sport muss man das Eisen heutzutage schmieden, so lange es heiß ist. Wenn man diese Chance verpasst, wird es ganz schwer noch einmal zurückzukommen.
SPOX: Zurückkommen ist das Stichwort: Was ist mit dem vierfachen Weltmeister John Higgins? Bei ihm steht das Karriereende im Raum.
Hendry: Ich sehe ihn nicht als Weltmeister. John kann ein Contender sein, vielleicht ist sogar das Halbfinale drin. Aber er macht immer wieder zu viele "unforced errors", trifft einfache Bälle nicht. Unter Druck macht er Fehler, die er früher nie gemacht hätte. Da haben ihm schon ein paar Spieler etwas voraus.
SPOX: Wen muss man sonst noch auf der Liste haben?
Hendry: Neil Robertson sollte man nie abschreiben. Er liebt die großen Turniere: das Masters, die UK Championship und die WM. Die stehen bei ihm immer ganz besonders im Mittelpunkt. Mark Selby ebenfalls, auch wenn zuletzt viele Turniere aus persönlichen Gründen verpasst hat. Bei ihm kommt es darauf an, in welcher Verfassung er anreist: Wenn er eine positive Einstellung hat, sich auf das Turnier freut und gut spielt, dann hat er auch sehr gute Chancen auf den Titel.
SPOX: Wie hat sich die WM verändert?
Hendry: Die Atmosphäre ist noch die gleiche wie 1990. Die eigentliche Arena hat sich ja auch kein Stück verändert. Auch wenn man kein Snooker-Fan ist: Das Crucible Theatre kennt jeder. Wenn man die WM in eine andere Halle oder gar in ein anderes Land verlegen würde, würde das Turnier in meinen Augen 50 Prozent seiner Identität verlieren.
SPOX: Und der Sport an sich? Natürlich ist er sehr viel globaler als damals, aber darüber hinaus?
Hendry: Am auffälligsten ist das sehr stark gesunkene Durchschnittsalter der Spieler. Damals waren die Top 16 im Schnitt wohl mindestens 35, wenn nicht noch älter. Heute sind sie wahrscheinlich Mitte oder Ende 20. Auch wenn man im Ranking weiter nach unten schaut, sind sie sehr viel jünger.
SPOX: Wie sieht es mit dem Spielniveau aus? Hätte ein Stephen Hendry aus den 90ern heute mithalten können?
Hendry: Was die Topleute angeht: Die spielen nichts, was ich früher nicht auch gespielt habe. Aber darunter ist das Level besser geworden. Bei zwei oder drei meiner WM-Titel hätte ich die ersten zwei Runden auch mit verbundenen Augen gewonnen, weil die Auslosung so leicht war. Das gibt es fast überhaupt nicht mehr.
SPOX: Wenn Sie eine Sache an der Weltmeisterschaft verändern könnten: Was wäre es?
Hendry: Ich glaube nicht, dass ich überhaupt etwas verändern würde. Viele sprechen über Matches mit weniger Frames, aber für mich ist die WM die größte Herausforderung im Snooker, und das sollte sie auch sein. Die UK Championship hat die Zahl der Frames bereits reduziert, und bei den meisten Turnieren spielt man heute nur noch best-of-seven. Da kann man auch gleich eine Münze werfen. Oft beschweren sich im Crucible die Spieler, wenn sie das Halbfinale erreichen: "Oh, ich war so erschöpft." Aber deswegen ist das Turnier ja ein derartiger Test - weil es so lang ist. Das eigene Spiel über 17 Tage stetig zu verbessern ist eine enorme Herausforderung an die mentale Stärke der Spieler, an ihre Technik, an alles. Deshalb, ganz ehrlich: Ich würde alles genauso lassen, wie es ist.