Das neue Jahr begann, wie das alte endete: Mit einem lauten Knall in der sonst so leisen Snooker-Welt. Die Manipulationsaffäre um angeblich verschobene Spielergebnisse zieht immer weitere Kreise, macht vor Topspielern nicht Halt - und lässt auch Rolf Kalb schaudern.
"Als ich die neuesten Nachrichten gelesen habe, hatte ich richtige Knoten im Bauch", sagte Deutschlands wohl bekanntester Experte der Präzisionssportart im SID-Gespräch: "Ich bin ein großer Fan des Snookers. Wenn dann Fragezeichen im Kopf bleiben, tut mir das weh."
Seit knapp drei Jahrzehnten moderiert Kalb für den Sender Eurosport nahezu jedes Snooker-Turnier. Seine sanfte, tiefe Stimme hat für sein TV-Publikum einen Wiedererkennungswert wie Bela Rethys Klangfarbe für Fußballfans im ZDF. Erlebt hat der 63-Jährige vieles, doch das Ausmaß des "Match-Fixing"-Skandals ist selbst für ihn neu - und wirft einen Schatten auf das Masters 2023, bei dem sich die Top 16 der Welt ab Sonntag im Londoner Alexandra Palace misst.
Der Vorwurf: Ergebnisse sollen abgesprochen worden sein, um mit Wetten hohe Geldsummen einzuheimsen. Einzelfälle sind es kaum mehr, der Umfang des Betrugs ist zu gewaltig.
Kurz vor Weihnachten hatte der Weltverband WPBSA den Weltranglisten-93. Chen Zifan im Zuge der Untersuchungen vorläufig gesperrt. Nach Neujahr folgten mit Zhao Xintong, Nummer neun der Welt und eine Art "Ziehsohn" des Snooker-Superstars Ronnie O'Sullivan, sowie Zhang Jiankang die nächsten beiden Profis. Den Auftakt im Oktober hatte die Sperre des ehemaligen English-Open-Gewinners Liang Wenbo gemacht, seither wuchs die Liste auf zehn chinesische Spieler an. Neben Xintong ist mit dem Master-Champion von 2021, Yan Bingtao, ein zweiter Akteur der Top 16 betroffen.
Snooker: Sperren von chinesischen Topspielern ein "Verlust"
Für das Masters, eines der drei wichtigsten Turniere überhaupt neben der WM und der UK Championship, sind die Sperren der chinesischen Topspieler ein sportlicher "Verlust", sagt Kalb - und für die Sportart sei der Skandal nichts anderes als eine "Rufschädigung".
Bei jedem überraschenden Ergebnis bleiben Zweifel. Ein Beispiel: Xintongs 9:0-Triumphzug gegen Bingtao beim German Masters im vergangenen Februar. "Es war erst das zweite Mal in der Geschichte des Snookers, dass ein Finale über eine solch lange Distanz zu null ausgegangen ist", erklärt Kalb, der die Diskussionen in den Sozialen Medien verfolgt: "Natürlich fragen sich dann die Leute, ob ein ehrliches Match gespielt wurde oder nicht - das kann man nicht verdenken."
Noch gilt die Unschuldsvermutung für die vorläufig gesperrten Spieler. Am Dienstag teilte der Weltverband mit, dass die Untersuchungen weit fortgeschritten seien. Erste Erkenntnisse sollen "in Kürze" veröffentlicht werden.
"Es wird zu Urteilen kommen", ist sich Kalb sicher, "ich rechne auch mit längeren Sperren." Doch der TV-Experte betont, dass Schuld nicht gleich Schuld sei. Es müsse unterschieden werden zwischen Drahtziehern oder Serientätern einerseits und Mitwissern oder Genötigten andererseits, die beteiligt waren, weil sie "vielleicht unter Druck gesetzt" wurden.
Für Profis, die nachweislich betrogen haben, sei die Rehabilitation "sehr, sehr schwer" - und für Mehrfachtäter fast unmöglich. Ihre Sperren, prophezeit Kalb, fielen so hart aus, "dass es keine realistische Chance gibt, den Weg zurückzufinden".