"Denkmäler sind scheißegal"

Von Christoph Köckeis
Thomas Muster zelebrierte 1995 bei den French Open seine Erlösung
© getty

Er herrschte auf den Sandplätzen dieser Welt, liebte die rote Asche wie kein Zweiter. In Paris 1995 bestieg der König seinen Thron. Im SPOX-Interview spricht Thomas Muster (46) über diese "Geiselbefreiung", den Masochisten in ihm, Boris Beckers Macken, die Kult-Reha und medialen Leichenschmaus. Plus: Warum Serve-and-Volley ausstirbt, was Roger Federer mit U2 gemein hat.

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SPOX: Herr Muster, selbst die traditionsbewusste Tennis-Branche bedient mittlerweile die sozialen Netzwerke. Was halten Sie davon?

Thomas Muster: (lacht) Ich bin im IT-Bereich nicht auf dem neuesten Stand und weder bei Facebook noch Twitter. Ich sehe keinen Bedarf, der Menschheit mitzuteilen, was ich jede Minute mache. Ab einer gewissen Popularität ist das ein Instrument, um Geld zu verdienen. Wer sich dessen bedient, hat Vorteile, und auch Nachteile. Ich kann dem nichts abgewinnen. Nach getaner Arbeit und der Belastung eines Matches wollte ich meine Ruhe. Ich hätte niemals eine Minute dafür verschwendet. Es gibt Wichtigeres zu tun.

SPOX: Etwa Kraft zu tanken. Durch energieraubende Auftritte verdienten Sie sich in Frankreich den Namen "Le bûcheron de Leibnitz". Warum quält sich ein Holzfäller leichter?

Muster: Niemand quält sich gerne. Kein Mensch verfügt über diese Eigenschaft. Wenn ich den Court betrat, war bei mir die Leistungsbereitschaft vorhanden. Ich strebte in meiner Berufsauffassung nach Höherem und war dafür bereit, den Schritt mehr zu tun. Im Sport lässt sich vieles erarbeiten, die Frage ist nur: Wie hoch ist meine Schmerzgrenze? Wenn man hart zu sich selbst ist, kann man sie verschieben. Ich war stets ein Verfechter des absoluten Trainings, der vollen Intensität. Im fünften Satz entscheidet nicht die Pulsuhr. Da entscheidet Standfestigkeit, das Stehvermögen, wie bei einem Boxer. Es zählt das, was man imstande ist zu ertragen, der Wille und die mentale Stärke. Irgendwann schmerzt es nicht mehr so sehr

SPOX: Ihre Rivalen kapitulierten dagegen reihenweise: Mit einer ungewöhnlichen Taktik wurden sie förmlich demoralisiert.

Muster: Sofern es der Stand erlaubte, zögerte ich mit dem Punktschlag. Oft kann man Spieler mehr oder minder aussaugen - Rafael Nadal agiert nach dem gleichen Prinzip. Wenn die Kraftreserven bei dir größer sind und der andere wackelt, kann ich den Prozess beschleunigen, indem ein Ballwechsel andauert. Beim Gegner tritt der Umkehreffekt ein. Er versucht mehr zu riskieren, will den schnellen Winner und begeht automatisch Fehler, weil er sich aus der Komfortzone bewegt. Ich hatte wenig Mitleid mit meinem Gegenüber (lacht). Gab er mit Krämpfen auf, war das umso schöner.

SPOX: Sie galten als Fitnessnarr im Zirkus - ein Bild brannte sich ein: In einem Stuhl, das Gipsbein hochgelagert, droschen Sie nach dem verhängnisvollen Unfall in Key Biscane unentwegt auf den Ball ein. Warum?

Muster: Das Reha-Training wird irgendwann langweilig. Aus Jux und Tollerei wollten wir versuchen, in einem Stuhl zu spielen, das funktionierte. Wir entwickelten ein Gestell, wo mein Bein still lag und ich täglich zwei bis drei Stunden trainierte. Wichtig war, den geregelten Alltag zu bewahren. Wenn du sechs Monate kein Racket in der Hand hast, musst du alles neu aufbauen. Durch die Tenniseinheiten gingen Auge und Gefühl nicht verloren. In dem Moment, als ich halbwegs schmerzfrei stehen konnte, war alles zurück. Es war nämlich nie weg.

SPOX: Sie enterten 1989 die Elite und plötzlich zerstört ein Betrunkener alles. Inwiefern haderten Sie mit dem Schicksal?

Muster: Ich stand am Kofferraum, in dem Moment rast er mit etwa 100 km/h auf uns zu. Das Auto wurde meterweit zurückgeschleudert. Mir war nicht klar, was die Diagnose Kreuzbandriss bedeutet. Die Tragweite war mir nicht bewusst. Meine ersten Worte direkt nach dem Crash waren: "Bis Sonntag geht's wieder." Man könnte Was-wäre-Wenn spielen. Ich war Sechster der Weltrangliste. Vielleicht hätte ich mehr Grand Slams erobert, vielleicht wäre ich früher an der Spitze gestanden, vielleicht um ein paar Dollar reicher. Am Ende kann ich sagen, dass ich erreichte habe, was ich erreichen wollte. Ich kann 44 Titel mein Eigen nennen, darunter mein Traumturnier Paris.

SPOX: Zuvor lieferten Sie sich in Monte Carlo mit Boris Becker eine unvergessene Schlacht. Nach 0:2-Satzrückstand wurde er niedergerungen. Ihre Erinnerungen?

Muster: Ich habe es vergessen, er wahrscheinlich nicht (lacht). Ich konnte das Turnier für mich entscheiden, ob nun gegen Boris Becker oder jemand anderen war mir herzlich egal. Für ihn war es bitter. Er war nah dran, seinen einzigen Sandplatz-Titel zu ergattern, hatte zwei Matchbälle und verlor. Das Halbfinale am Vortag verlief aufgrund meines Zuckersturzes skurril. Ich biss mich durch, aber so etwas haut dich um. Es sah schlimm aus, da ich total geschwächt war. Ich bekam eine Infusion und zwei Stunden später durfte ich nach Hause. Vor Erschöpfung konnte ich relativ gut schlafen (lacht).

SPOX: Becker stellte ob der dramatischen Szenen, dem Kollaps im Halbfinale, nach seiner Niederlage böse Vermutungen an. Ihr Verhältnis schien ohnehin belastet - wie groß war die Genugtuung?

Muster: Medial wurde das falsch interpretiert. Ich verstand mich mit ihm sehr gut. Boris hatte seine Macken - die akzeptierte ich aber nicht, sprach das klar aus. Deshalb funktionierte es. Mir in seiner Enttäuschung sogar Doping zu unterstellen, war natürlich nicht die feine Art. Ich war im Spital, aber nicht todkrank. Ich ordnete sofort einen Test an. Er wurde finanziell abgemahnt. Dennoch könnte ich mich nicht daran erinnern, dass wir uns in die Quere kamen. Es gab Spieler, mit denen ich mich weniger verstanden habe. Boris gehörte nicht dazu.

SPOX: Er wurde als Mega-Talent gepriesen, sie als Arbeitstier beäugt. Fühlten Sie sich unterschätzt?

Muster: Die Grundsatzfrage ist: Was ist Talent? Ein schöner Stop? Wenn Tennis leicht aussieht? Ohne Talent wirst du nicht Nummer eins der Welt und gewinnst ein Grand Slam. Lediglich mit Arbeit klappt das nicht. Im umgekehrten Fall genauso. Die Kombination macht's. Zu meiner Zeit waren die Beläge schnell, die Bälle hart. Es gab noch Sandplatz-Spezialisten wie mich und jene für Halle sowie Rasen. Gegen Aufschläger wie Michael Stich, Becker oder Goran Ivanisevic hatte ich oft keine Chance. Für meinen Stil, mit meiner Technik waren schnelle Verhältnisse nicht zu bewältigen. Ich musste in wenigen Wochen auf der roten Asche möglichst viel für die Weltrangliste herausholen.

SPOX: Und heutzutage?

Muster: Die Punkteverteilung ist eine Arbeitsplatzsicherung. Wenn du bei Grand Slams und ATP-Masters-1000 im Achtel- oder Viertelfinale stehst, fällst du nicht aus den Top 30. Der Sprung zwischen großen und kleinen Turnieren ist zu groß. Fast ganzjährig herrscht ein Speed. Die Schläger sind wesentlich leichter. Als ich vor drei Jahren wieder bei Challengern antrat, brauchte ich ein Jahr, um herauszufinden, wo mein Material liegt. Für mich wäre es nun einfacher als damals. Ich behaupte, würden heute Beläge aus meiner Zeit gespielt, wären Nadal oder Novak Djokovic nicht an der Spitze. Für Roger Federer wäre die Umstellung indes sehr erfreulich.

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