"Denkmäler sind scheißegal"

Christoph Köckeis
22. Mai 201421:01
Thomas Muster zelebrierte 1995 bei den French Open seine Erlösunggetty
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Er herrschte auf den Sandplätzen dieser Welt, liebte die rote Asche wie kein Zweiter. In Paris 1995 bestieg der König seinen Thron. Im SPOX-Interview spricht Thomas Muster (46) über diese "Geiselbefreiung", den Masochisten in ihm, Boris Beckers Macken, die Kult-Reha und medialen Leichenschmaus. Plus: Warum Serve-and-Volley ausstirbt, was Roger Federer mit U2 gemein hat.

SPOX: Herr Muster, selbst die traditionsbewusste Tennis-Branche bedient mittlerweile die sozialen Netzwerke. Was halten Sie davon?

Thomas Muster: (lacht) Ich bin im IT-Bereich nicht auf dem neuesten Stand und weder bei Facebook noch Twitter. Ich sehe keinen Bedarf, der Menschheit mitzuteilen, was ich jede Minute mache. Ab einer gewissen Popularität ist das ein Instrument, um Geld zu verdienen. Wer sich dessen bedient, hat Vorteile, und auch Nachteile. Ich kann dem nichts abgewinnen. Nach getaner Arbeit und der Belastung eines Matches wollte ich meine Ruhe. Ich hätte niemals eine Minute dafür verschwendet. Es gibt Wichtigeres zu tun.

SPOX: Etwa Kraft zu tanken. Durch energieraubende Auftritte verdienten Sie sich in Frankreich den Namen "Le bûcheron de Leibnitz". Warum quält sich ein Holzfäller leichter?

Muster: Niemand quält sich gerne. Kein Mensch verfügt über diese Eigenschaft. Wenn ich den Court betrat, war bei mir die Leistungsbereitschaft vorhanden. Ich strebte in meiner Berufsauffassung nach Höherem und war dafür bereit, den Schritt mehr zu tun. Im Sport lässt sich vieles erarbeiten, die Frage ist nur: Wie hoch ist meine Schmerzgrenze? Wenn man hart zu sich selbst ist, kann man sie verschieben. Ich war stets ein Verfechter des absoluten Trainings, der vollen Intensität. Im fünften Satz entscheidet nicht die Pulsuhr. Da entscheidet Standfestigkeit, das Stehvermögen, wie bei einem Boxer. Es zählt das, was man imstande ist zu ertragen, der Wille und die mentale Stärke. Irgendwann schmerzt es nicht mehr so sehr

SPOX: Ihre Rivalen kapitulierten dagegen reihenweise: Mit einer ungewöhnlichen Taktik wurden sie förmlich demoralisiert.

Muster: Sofern es der Stand erlaubte, zögerte ich mit dem Punktschlag. Oft kann man Spieler mehr oder minder aussaugen - Rafael Nadal agiert nach dem gleichen Prinzip. Wenn die Kraftreserven bei dir größer sind und der andere wackelt, kann ich den Prozess beschleunigen, indem ein Ballwechsel andauert. Beim Gegner tritt der Umkehreffekt ein. Er versucht mehr zu riskieren, will den schnellen Winner und begeht automatisch Fehler, weil er sich aus der Komfortzone bewegt. Ich hatte wenig Mitleid mit meinem Gegenüber (lacht). Gab er mit Krämpfen auf, war das umso schöner.

SPOX: Sie galten als Fitnessnarr im Zirkus - ein Bild brannte sich ein: In einem Stuhl, das Gipsbein hochgelagert, droschen Sie nach dem verhängnisvollen Unfall in Key Biscane unentwegt auf den Ball ein. Warum?

Muster: Das Reha-Training wird irgendwann langweilig. Aus Jux und Tollerei wollten wir versuchen, in einem Stuhl zu spielen, das funktionierte. Wir entwickelten ein Gestell, wo mein Bein still lag und ich täglich zwei bis drei Stunden trainierte. Wichtig war, den geregelten Alltag zu bewahren. Wenn du sechs Monate kein Racket in der Hand hast, musst du alles neu aufbauen. Durch die Tenniseinheiten gingen Auge und Gefühl nicht verloren. In dem Moment, als ich halbwegs schmerzfrei stehen konnte, war alles zurück. Es war nämlich nie weg.

SPOX: Sie enterten 1989 die Elite und plötzlich zerstört ein Betrunkener alles. Inwiefern haderten Sie mit dem Schicksal?

Muster: Ich stand am Kofferraum, in dem Moment rast er mit etwa 100 km/h auf uns zu. Das Auto wurde meterweit zurückgeschleudert. Mir war nicht klar, was die Diagnose Kreuzbandriss bedeutet. Die Tragweite war mir nicht bewusst. Meine ersten Worte direkt nach dem Crash waren: "Bis Sonntag geht's wieder." Man könnte Was-wäre-Wenn spielen. Ich war Sechster der Weltrangliste. Vielleicht hätte ich mehr Grand Slams erobert, vielleicht wäre ich früher an der Spitze gestanden, vielleicht um ein paar Dollar reicher. Am Ende kann ich sagen, dass ich erreichte habe, was ich erreichen wollte. Ich kann 44 Titel mein Eigen nennen, darunter mein Traumturnier Paris.

SPOX: Zuvor lieferten Sie sich in Monte Carlo mit Boris Becker eine unvergessene Schlacht. Nach 0:2-Satzrückstand wurde er niedergerungen. Ihre Erinnerungen?

Muster: Ich habe es vergessen, er wahrscheinlich nicht (lacht). Ich konnte das Turnier für mich entscheiden, ob nun gegen Boris Becker oder jemand anderen war mir herzlich egal. Für ihn war es bitter. Er war nah dran, seinen einzigen Sandplatz-Titel zu ergattern, hatte zwei Matchbälle und verlor. Das Halbfinale am Vortag verlief aufgrund meines Zuckersturzes skurril. Ich biss mich durch, aber so etwas haut dich um. Es sah schlimm aus, da ich total geschwächt war. Ich bekam eine Infusion und zwei Stunden später durfte ich nach Hause. Vor Erschöpfung konnte ich relativ gut schlafen (lacht).

SPOX: Becker stellte ob der dramatischen Szenen, dem Kollaps im Halbfinale, nach seiner Niederlage böse Vermutungen an. Ihr Verhältnis schien ohnehin belastet - wie groß war die Genugtuung?

Muster: Medial wurde das falsch interpretiert. Ich verstand mich mit ihm sehr gut. Boris hatte seine Macken - die akzeptierte ich aber nicht, sprach das klar aus. Deshalb funktionierte es. Mir in seiner Enttäuschung sogar Doping zu unterstellen, war natürlich nicht die feine Art. Ich war im Spital, aber nicht todkrank. Ich ordnete sofort einen Test an. Er wurde finanziell abgemahnt. Dennoch könnte ich mich nicht daran erinnern, dass wir uns in die Quere kamen. Es gab Spieler, mit denen ich mich weniger verstanden habe. Boris gehörte nicht dazu. SPOX

SPOX: Er wurde als Mega-Talent gepriesen, sie als Arbeitstier beäugt. Fühlten Sie sich unterschätzt?

Muster: Die Grundsatzfrage ist: Was ist Talent? Ein schöner Stop? Wenn Tennis leicht aussieht? Ohne Talent wirst du nicht Nummer eins der Welt und gewinnst ein Grand Slam. Lediglich mit Arbeit klappt das nicht. Im umgekehrten Fall genauso. Die Kombination macht's. Zu meiner Zeit waren die Beläge schnell, die Bälle hart. Es gab noch Sandplatz-Spezialisten wie mich und jene für Halle sowie Rasen. Gegen Aufschläger wie Michael Stich, Becker oder Goran Ivanisevic hatte ich oft keine Chance. Für meinen Stil, mit meiner Technik waren schnelle Verhältnisse nicht zu bewältigen. Ich musste in wenigen Wochen auf der roten Asche möglichst viel für die Weltrangliste herausholen.

SPOX: Und heutzutage?

Muster: Die Punkteverteilung ist eine Arbeitsplatzsicherung. Wenn du bei Grand Slams und ATP-Masters-1000 im Achtel- oder Viertelfinale stehst, fällst du nicht aus den Top 30. Der Sprung zwischen großen und kleinen Turnieren ist zu groß. Fast ganzjährig herrscht ein Speed. Die Schläger sind wesentlich leichter. Als ich vor drei Jahren wieder bei Challengern antrat, brauchte ich ein Jahr, um herauszufinden, wo mein Material liegt. Für mich wäre es nun einfacher als damals. Ich behaupte, würden heute Beläge aus meiner Zeit gespielt, wären Nadal oder Novak Djokovic nicht an der Spitze. Für Roger Federer wäre die Umstellung indes sehr erfreulich.

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SPOX: Wer profitiert vom Material am meisten?

Muster: Nadal ist der größte Nutznießer. Er weiß dank seiner Spielweise als einziger, Drall mitzugeben. Mein Anreiz wäre irgendwann, die Beläge zu lassen, dafür die schnelleren Bälle der 90er aufzulegen. Es würde signifikante Veränderungen geben. Derzeit lässt die langsame Filzkugel keine Variationen zu. In ihr steckt zu wenig Energie. Der Gegner bringt nicht mehr zurück, weil er schneller antritt. Er passiert auch nicht besser, durch das fehlende Tempo bietet sich ihm schlicht mehr Zeit. Deswegen stirbt Serve-and-Volley aus, dafür sind die Ballwechsel lang und die Matches nicht enden wollend. Es ist nicht mehr zu verkaufen, nicht fernsehtauglich.

SPOX: Fehlen dafür auch Typen?

Muster: Die Diskussion begleitet jede Generation. Uns sagte man das nach. Eine Generation später waren wir die witzigen. Es geht um Millionen, jeden Punkt gilt es sich mühsam zu erarbeiten, da fällt es schwer, zu unterhalten. Ich sehe auch keinen Formel-1-Fahrer, der während dem Rennen Unsinn macht. Ein Lächeln oder ein Wutausbruch sind das höchste der Gefühle. Was den Zusehern gefallen könnte, wird von der ATP zudem oft unterbunden und mit unverhältnismäßig hohen Strafen belegt. Der Sport ist professioneller, er ist "clean" geworden. Es bleibt kein Platz für Unkonzentriertheit, der Druck lässt das nicht zu.

SPOX: 1995 lasteten gigantische Ansprüche auf Ihnen. Sie eilten von Erfolg zu Erfolg, von Finale zu Finale, von Titel zu Titel - und dann kam Paris.

Muster: Ich arbeitete solange darauf hin und sehnte diese Trophäe herbei. Der Druck, den ich mir machte, war enorm. Ich wusste, allzu viele Chancen bekomme ich nicht mehr. Schon in den Jahren zuvor ging ich als Favorit in die French Open und scheiterte, während ich bei allen anderen Events auf Sand souverän triumphierte. Das war bitter. Mit einem Punkte entlud sich schließlich alles, es war wie eine Geiselbefreiung.

SPOX: Womit begründen Sie die Faszination Roland Garros?

Muster: Es ist das härteste Turnier. Wenn du eine Schwäche hast, dir ein Schlag fehlt, bist du verloren. Auf anderen Belägen konntest du mit einem guten Aufschlag-Volley-Spiel sehr weit kommen. In Paris nicht, da musst du komplett sein. Und es ist wetterabhängig. Der Platz kann sauschnell sein, wenn es heiß ist. Oder bei nasskalten Bedingungen verdammt zäh.

SPOX: Sie erlebten ein geschichtsträchtiges Jahr 1995: Zwölf Titel in einem Jahr konnte lediglich Roger Federer egalisieren. War es für Sie die beste Zeit ihres Lebens?

Muster: Mehr als zwölf Turniere-Erfolge, darunter ein Grand Slam, und Nummer eins zu werden, geht nicht. Ein Jahr später siegte ich in Key Biscane, das war ganz besonders. Damit schloss sich ein Kreis. 1989 konnte ich wegen des Unfalls nicht im Finale antreten. Was mir einst verwehrt wurde, bekam ich 1997 endlich. Es war mein letzter Titel und wie ein Geschenk. In meiner Karriere gab es verblüffende Dinge, das war eine Form von Gerechtigkeit. Noch dazu auf Hartplatz. Obwohl ich immer als reiner Sandplatz-König verkauft wurde. Aber ich entwickelte mein Spiel weiter, wie sonst hätte ich in Essen in der Halle gegen Pete Sampras bestehen, die Besten wie Jim Courier und Goran Ivanisevic schlagen können. Da wären wir zurück bei der Talent-Debatte.

SPOX: Welche Magie übt der 12. Februar aus?

Muster: Klar, das Datum vergisst man nicht (lacht). 1996 wurde ich Nummer eins der Welt. Es ist ein tolles Gefühl, wenn dir keiner mehr die Sicht verstellt. Ich musste an dem Tag Daviscup in Südafrika spielen. Unmittelbar danach ging es nach Dubai, ich kam um sieben Uhr morgens an, am Abend stand ich ohne Schlaf auf dem Platz - und verlor in Runde eins. Plötzlich hieß es: Wie kann der frischgebackene Weltanglisten-Führende gegen einen No-Name verlieren? Das sind die unschönen Seiten als Profi. Ein Finale zu spielen, war früher grundsätzlich mit Stress verbunden. Es interessierte niemanden, wie man zum nächsten Turnier kommt. Oft nahm ich das Gepäck zum Match mit. Um rechtzeitig zur ersten Runde zu kommen, flogen wir, wenn es nicht anders ging, im Privatjet. Da veränderte sich Gott sei Dank einiges. Heute spielst du dein Finale, lässt dich feiern, gehst schlafen und fliegst am nächsten Tag weiter. Für mich ein Ding der Unmöglichkeit.

SPOX: Zwei Jahre später flüchteten Sie nach Australien, ohne Ihren Rücktritt zu erklären: Wie wichtig war es, dem Trubel und der Prominenz zu entfliehen, die Normalität zu genießen, und sich mal gehen zu lassen?

Muster: Ich dränge nicht in die Öffentlichkeit, mir ist es kein Anliegen meine Meinung nach außen zu tragen, zu jeder Sache einen Kommentar abzugeben. Als ich nach Australien ging, war ich es gewohnt, acht Stunden zu trainieren. Plötzlich fiel das weg. Ich trank Bier, rauchte bis zu 60 Zigarettchen und aß wie immer, schon waren 20 Kilogramm mehr auf den Rippen. Nur die Dicken können abnehmen, die Dummen bleiben dumm.

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SPOX: Innerhalb weniger Monate speckten Sie ab. Was motivierte Sie dazu?

Muster: Ich fing an Senior Tour zu spielen. Selbst Tennisrentner sind bestens in Schuss, also musste ich trainieren. Ich hasse halbe Sachen, bin ein extremer Typ. Irgendwann wollte ich schließlich auf Challenger-Ebene zurückkehren, weil es mich interessierte, wie das heutige Spiel funktioniert. Von den Jungen wurde ich plötzlich gesiezt. Aber der Zuspruch, den ich erfahren durfte, war enorm. Ich wusste, dass ich anfangs Haue bekomme, versuchte aus jedem Match zu lernen. Es war eine coole Erfahrung. Mit dem Auto zu Turnieren zu fahren, den Pass abzugeben, um drei Bälle zu kriegen, in Betten zu schlafen, wo man es nicht gewohnt war, im Supermarkt einzukaufen. Um solche Dinge kümmerst du dich auf der Tour nicht. Ich konnte es bewusster genießen. Seit zwei Jahren habe ich allerdings nicht mehr gespielt. Ich weiß gar nicht, wo meine Schläger sind, das sage ich ihnen ganz ehrlich (lacht). Die Sucht ist nicht mehr da.

SPOX: Ihr Comeback 2010 wurde kritisch bewertet. Es hieß, sie würden Ihr Denkmal zerstören - bereuten Sie es jemals?

Muster: Denkmäler sind jedem Sportler scheißegal. Wir wissen, wie es Michael Schumacher geht. Ich hoffe, er schafft es. Wenn es das Ende sein sollte, hat er zumindest die vergangenen drei Jahre das gemacht, was er liebte: Nämlich Formel 1 fahren. Die Geschichtsbücher kann man nicht zerstören, die sind geschrieben. Die Menschen, die unqualifizierte Kommentare abgeben, können sich nicht in einen Sportler versetzen.

SPOX: Ihre Laufbahn beschlossen Sie vor drei Jahren gegen Dominic Thiem. Jenen Hoffnungsträger, der Österreich wieder träumen lässt. Was trauen Sie ihm zu?

Muster: Er wird sich weiter nach oben spielen, ist derzeit auf dem 58. Platz und hat nichts zu verlieren. Die Wahrheit wird sich Ende nächsten Jahres zeigen, wenn er Punkte verteidigen muss. Er hat Potenzial, unbestritten, verfügt über ein super Spiel, ist geerdet, klar im Kopf und wächst in einem ruhigen Umfeld. Mit 21 Jahren ist er sehr weit, das zeigte der Sieg gegen Stanislas Wawrinka in Madrid. Nur Journalisten in Österreich heben Talente schnell in den Himmel, aber sind die ersten, die auf den armen Bub draufsteigen, wenn es nicht läuft. Dann heißt es: Typisch! Unlängst wurde ich gefragt, was ihm zur Nummer eins fehlt. 10.000 Punkte. Aus. Fertig. Das sind die nackten Zahlen. Dominic braucht Zeit. Vielleicht knackt er in diesem Jahr noch die Top 40, das wäre ein Erfolg.

SPOX: Thiem ist das neue Zugpferd für das Stadthallen-Turnier (11. bis 19 Oktober), selbst Roger Federer wird gehandelt. Welche Bedeutung hätte solch ein Superstar für die Erste Bank Open?

Muster: Hier wurde ein Event auf die Beine gestellt, das vermutlich besser organisiert ist als viele ATP-Masters-500. Nur ist die Kategorie schwer finanzierbar. Federer in Wien zu sehen, wäre da eine Auszeichnung. Es ist eine Sensation, wie er spielt, wie er Sport und Familie managed. Er trainiert hart und weiß, was zu machen ist. Ihm wünsche ich schnellere Bälle, dann würde er ganz nah an der Spitze sein und womöglich ein weiteres Grand Slam einheimsen.

SPOX: Trotz alledem wird ihm das Karriereende nahegelegt - was halten Sie davon?

Muster: Der Rücktritt ist die letzte Sensation, der Nachruf, wie ein Leichenschmaus. Gewonnen hat er alles, da gibt es nichts zu berichten. Federer soll noch zehn Jahre spielen, wenn er Lust dazu hat. Jedenfalls sollte es ihm vorbehalten sein, in Ruhe zu entscheiden. Ihm das nahezulegen, empfinde ich als Frechheit. Er ist die Nummer fünf der Welt. Keiner würde U2 sagen, sie sollten aufhören, obwohl sie noch zu den populärsten Bands gehören. Er wird auch bei den French Open weit kommen. SPOX

SPOX: Abschließend würde ich Sie um einen Tipp bitten inklusive Einschätzung aus deutscher Sicht.

Muster: Für mich kann es nur einen Favoriten geben und der heißt Nadal. Mit der Vorgeschichte sehe ich über 14 Tage keinen anderen Gewinner. Wer drängt sich auf? Stanislas Wawrinka, nein. Er spielt zu unkonstant. Und bei Djokovic ist ungewiss, ob sein Handgelenk hält. Tommy Haas traue ich stets ein Viertelfinale zu, vergangenes Jahr gewann er die Erste Bank Open. Hinter ihm ist die Fluktuation aber stark. Für ein Land mit 80 Millionen ist das zu wenig. Früher hatte man Steffi Graf, Stich und Becker in einer Generation - die Latte liegt hoch. Bei Tommy wird die Fitness entscheiden. Im modernen Tennis hängt vieles davon ab. Die Verletzungen häufen sich, das Material wird unnachgiebiger, das Spiel härter. Tennis hört nie auf, ist längst ein Zwölf-Monats-Sport. Immer weiter, immer länger.

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