Der Coup von Boris Becker und Michael Stich bei den Olympischen Spielen 1992: Die Mission des Lügners

Felix Götz
05. August 202210:43
Am 5. August 1992 haben Michael Stich (l.) und Boris Becker Gold bei Olympia in Barcelona gewonnen.imago images/Baumann
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Am 5. August 1992, also heute vor 30 Jahren, gewannen Boris Becker und Michael Stich bei den Olympischen Spielen in Barcelona im Finale gegen Wayne Ferreira und Piet Norval (Südafrika) die Goldmedaille im Doppel. Es war das Zweckbündnis zweier erbitterter Rivalen, das nur dank des "Lügners" Niki Pilic vorübergehend Bestand hatte.

Dieser Artikel wurde erstmals im August 2020 veröffentlicht

Zweiter Aufschlag Ferreira von der Vorteilseite, Rückhand-Return Stich, der Ferreira zu einem tiefen Volley aus dem Halbfeld zwingt. Becker antizipiert, rückt in die Mitte, seinen Rückhand-Volley auf den Körper kann Norval nur noch mit dem Rahmen vor sich auf die Asche bugsieren. Spiel, Satz und Gold Becker/Stich.

Becker und Stich liegen sich in den Armen, die Intimfeinde wirken wie beste Freunde. Es ist ein wunderbarer und zugleich surrealer Augenblick, nicht mehr als eine Momentaufnahme. Bereits beim Interview nach dem Match, bei Siegerehrung und Nationalhymne, ist die Distanz zwischen den beiden besten deutschen Tennisspielern wieder greifbar. Kein Blickkontakt, kein nettes Wort übereinander, einfach nichts.

Dazu muss man wissen: Becker und Stich trennten Welten, sie waren wie Feuer und Wasser. Auf der einen Seite der Kämpfer Becker, der Liebling des Volkes aus dem badischen Leimen, der - seit er sich 1985 mit 17 Jahren zum jüngsten Wimbledon-Champion aller Zeiten gekürt hatte - Generationen vor den Bildschirmen versammelte. "Bobbele", "Bum-Bum-Boris", der "Rote Baron", dessen Matches Oma und Enkelkind Stunden voller unbändiger Leidenschaft, großer Triumphe, Verzweiflung und Dramatik versprachen.

Auf der anderen Seite der "Spieler Stich", wie Becker seinen Kontrahenten despektierlich nannte. Der unnahbare Norddeutsche, der "Kühlschrank aus Elmshorn", dem mit seinem unerschöpflichen Talent alles viel leichter und geschmeidiger von der Hand zu gehen schien. Der Respektierte, der es 1991 im Wimbledon-Finale gewagt hatte, Becker in dessen Wohnzimmer zu bezwingen.

Michael Stich und Boris Becker holten in Barcelona im Doppel die Goldmedaille.imago images/Stockhoff

Becker über Stich: "Unsere Gemeinsamkeit heißt Tennis"

"Wir mögen uns eben nicht, unsere Gemeinsamkeit heißt Tennis", sagte Becker damals über sein Verhältnis zu Stich. Und Stich meinte gegenüber DAZN rückblickend: "Wir waren Konkurrenten, die aus dem gleichen Land kamen. Die Erwartungshaltung, dass wir Freunde sein müssen, nur weil wir beide aus Deutschland kommen, war völlig abstrus. Wir wollten immer besser sein als der andere und uns noch mehr profilieren."

Dieser Graben spaltete auch das Publikum. Becker oder Stich? Das war Anfang der 90er Jahre unter deutschen Tennisfans, die nicht nur aus Interesse am Spiel, sondern mit dem Herzen bei der Sache waren, zu einer Glaubensfrage geworden, auf die es keine dritte Antwort gab. Die Mehrheit antwortete Becker, die Minderheit Stich, niemand Becker und Stich. Bis zum Sommer 1992.

Erster Satz: Becker/Stich gelingt im Glutofen von Vall d'Hebron im Nordosten Barcelonas ein frühes Break, ehe Stich seinen Aufschlag abgibt. Beim Stand von 5:6 wehrt Becker mit einem krachenden Aufschlag einen Satzball ab, es geht in den Tiebreak. Unter den gut 6000 Zuschauern tummelt sich viel Prominenz, unter anderem sind Außenminister Klaus Kinkel und Innenminister Rudolf Seiters dabei. Beckers damalige Freundin und heutige Ex-Frau Barbara und sein Manager Ion Tiriac rauchen bereits vor Nervosität um die Wette (Advantage Tiriac). Bis zum 6:5 gibt es kein einziges Minibreak. Dann bringt Becker unter gütiger Mithilfe der Netzkante eine Rückhand durch die Mitte zum Satzgewinn im Feld unter. Zwischenstand: 7:6 (7:5).

Niki Pilic (l.) hielt das Zweckbündis Becker/Stich bei Olympia 1992 auf Linie.imago images

Pilic beweist diplomatisches Geschick

Dass Becker und Stich in Spanien gemeinsam für Deutschland im Doppel antreten würden, hatten die meisten bis zuletzt für einen Witz gehalten. Nur Niki Pilic nicht. Der damalige Davis-Cup-Kapitän, der sowohl von Becker als auch von Stich über die Maßen geschätzt wurde, war auf einer Mission.

"Ich wusste, sie wären perfekte Doppelpartner", erinnerte sich der mittlerweile 80-jährige Kroate einmal: "Beide waren Weltklasse-Spieler, hochmotiviert. Aber sie sprachen zu dieser Zeit kein Wort miteinander. Ich musste sie irgendwie zusammenbringen. Dazu war viel diplomatisches Geschick nötig."

Pilic drückte die Nominierung tatsächlich durch. Und er brachte es sogar fertig, dass Becker und Stich drei Monate vor Olympia als Testlauf gemeinsam beim Turnier in Monte Carlo antraten. Das Ergebnis: Turniersieg! Das zweite gemeinsame Vorbereitungsturnier, die Generalprobe in Stuttgart, ging allerdings mit dem Aus in der ersten Runde schief.

In Barcelona stärkten ausgerechnet Misserfolge im Einzel die zerbrechliche Konstellation. Becker scheiterte im Achtelfinale am Franzosen Fabrice Santoro. Noch schlimmer erging es Stich, der in der zweiten Runde gegen seinen Landsmann Carl-Uwe Steeb den Kürzeren zog.

Nun blieb den Rivalen - wollten sie den Traum von einer Medaille nicht begraben - nichts mehr anderes übrig, als sich zusammenzuraufen. "Nachdem wir beide im Einzel draußen waren, haben Michael und ich uns angeschaut und gesagt: Wir müssen unsere Animositäten zur Seite schieben", sagte Becker.

Zweiter Satz: Becker gibt direkt seinen Aufschlag ab, besonders Ferreira wird immer stärker, besticht mit einer brachialen Vorhand und unglaublichen Reflexen am Netz. Ein überragender Return von Stich beschert dem DTB-Duo das Break zum 3:3. Becker/Stich führen 4:3 und 0:40 bei Aufschlag der Südafrikaner. Ferreira/Norval machen daraufhin - begünstigt von einer Fehlerorgie der Deutschen - acht Punkte in Serie und das Break zum 5:4. Die Vorentscheidung im zweiten Durchgang. Stich schmettert wutentbrannt den Schläger zu Boden. Zwischenstand: 7:6 (7:5), 4:6.

Sportlich gab es auf dem Weg zur Medaille zunächst keine großen Hürden zu überwinden. In der ersten Runde konnten die Marokkaner Karim Alami und Younes El Aynaoui aufgrund einer Verletzung nicht antreten. Im Achtelfinale waren die Griechen Anastasios Bavelas und Konstantinos Efraimoglou (6:1, 6:3, 6:4) nicht mehr als Sparringspartner.

Zwischenmenschlich blieb es zwischen Becker und Stich allerdings kompliziert. "Boris und ich haben uns ausschließlich zum Training und zu den Matches getroffen", bestätigte Stich, dass die beiden während des gesamten Wettbewerbs nie gemeinsam an einem Tisch saßen.

Beide waren nicht einmal dazu bereit, sich im persönlichen Gespräch über die Taktik für das kommende Match auszutauschen. Also musste Pilic als personifizierte Telefonleitung herhalten. Der Davis-Cup-Kapitän pilgerte unermüdlich als Nachrichtenüberbringer von Beckers Zimmer zu Stichs Zimmer und wieder zurück. Das Problem: Stich wohnte im Olympischen Dorf, während Becker in einem Hotel außerhalb logierte.

"Das hat mich Jahre meines Lebens gekostet", sagte Pilic einst über das Verhalten der Tennis-Diven: "Ich bin zwischen den Zimmern hin- und hergependelt und musste viel lügen, um alles im Lot zu halten."

Dritter Satz: Das Endspiel ist längst ein Thriller. Bis zum 6:6 bleibt alles in der Reihe, doch bei den Aufschlagspielen von Norval geben Becker/Stich einmal ein 0:40 und einmal ein 15:40 durch Leichtsinnsfehler aus der Hand. Als Becker eine weitere Breakchance kläglich mit einer Rückhand ins Netz vergibt, rastet er aus. "Leck mich am Arsch", brüllt der damals 24-Jährige. Pilic versucht von der Tribüne aus, das DTB-Doppel zu beruhigen. Mit Erfolg: Becker/Stich steigern sich von Minute zu Minute. Und siehe da: Sie kommunizieren sogar plötzlich miteinander, klatschen sich außerdem ab. Beim Stand von 6:5 im Tiebreak verwandelt Becker eiskalt einen Vorhand-Volley zum Satzgewinn. Zwischenstand: 7:6 (7:5), 4:6, 7:6 (7:5).

Am 5. August 1992 haben Michael Stich (l.) und Boris Becker Gold bei Olympia in Barcelona gewonnen.imago images/Baumann

Becker: "Stich war der Stratege, ich die Kampfmaschine"

Zumindest auf dem Platz funktionierten Becker/Stich mittlerweile als Team. Das wurde beim Viertelfinal-Drama gegen das an drei gesetzte Weltklasse-Doppel Sergio Casal/Emilio Sanchez, das 1988 in Seoul Silber geholt hatte, deutlich.

Die Spanier wurden frenetisch von ihren Landsleuten angefeuert, trotzdem setzten sich Becker/Stich nach 3 Stunden und 59 Minuten um kurz vor Mitternacht mit 6:3, 4:6, 7:6 (11:9), 5:7 und 6:3 durch.

Keine 20 Stunden später mussten sich die Deutschen schon wieder durch den Sand wühlen. Wieder wurde das Match zu einem Krimi, den Becker/Stich nach 3 Stunden und 58 Minuten gegen die Argentinier Javier Frana/Christian Miniussi mit 7:6 (7:3), 6:2, 6:7 (4:7), 2:6 und 6:4 für sich entschieden. Das Endspiel war damit erreicht, Silber sicher.

"Pilic hat es geschafft, uns zu vereinen", begründete der damals 23-jährige Stich das immer besser werdende Verständnis zwischen ihm und Becker. Becker beschrieb die Erfolgsformel so: "Michael hat die bessere Technik, ich den größeren Willen. Er war der Stratege, ich die Kampfmaschine."

Becker/Stich: Der Weg zur Goldmedaille

RundeGegnerErgebnis
1. RundeKarim Alami/Younes El Aynaoui (Marokko)w.o.
AchtelfinaleAnastasios Bavelas/Konstantinos Efraimoglou (Griechenland)6:1, 6:3, 6:4
ViertelfinaleSrgio Casal/Emilio Sanchez (Spanien)6:3, 4:6, 7:6, 5:7, 6:3
HalbfinaleJavier Frana/Christian Miniussi (Argentinien)7:6, 6:2, 6:7, 2:6, 6:4
FinaleWayne Ferreira/Piet Norval (Südafrika)7:6, 4:6, 7:6, 6:3

Vierter Satz: Direkt im ersten Spiel wird es kurios, es steht 0:30 bei Aufschlag Ferreira. Beckers Vorhand-Longline-Return schlägt perfekt ein - 0:40. Eigentlich! Doch Ferreira beschwert sich beim Stuhlschiedsrichter, weil der Ball beim Aufschlag platt gegangen sei. Es gibt minutenlang Diskussionen, der Oberschiedsrichter wird gerufen und entscheidet tatsächlich: Der Punkt wird wiederholt. Tiriac winkt ab und greift zur x-ten Zigarette (Barbara ist längst geschlagen). Ferreira hält dem anschließenden Pfeifkonzert der deutschen Fans nicht stand, Becker/Stich schnappen sich das Break. Das DTB-Duo lässt bei eigenem Aufschlag in der Folgezeit nichts mehr anbrennen. Nach 3 Stunden und 25 Minuten nutzen Becker/Stich ihren ersten Matchball. Endstand: 7:6 (7:5), 4:6, 7:6 (7:5), 6:3.

SPOXimago images/Paul Zimmer

Stich: Heimflug statt Siegesfeier

Becker und Stich wussten sofort, wem sie die Goldmedaille zu verdanken hatten. Nach dem Shakehands mit Ferreira/Norval eilten beide zu Pilic und nahmen ihn in den Arm. Wer nun aber dachte, das Doppel Becker/Stich würde dem deutschen Tennis auch in Zukunft goldene Momente bescheren, wurde nur wenige Stunden später enttäuscht.

Anstatt mit allen Beteiligten wie geplant die Goldmedaille zu feiern, flog Stich noch am Abend zurück nach Deutschland. "Nach dem Sieg war mir irgendwie danach, relativ schnell nach Hause zu kommen", erklärte Stich viele Jahre später: "War es ein Fehler? Definitiv!"

Nachgefeiert wurde bislang nicht, obwohl Stich dies bereits im April 2020 angekündigt hat: "Ein gemeinsames Essen wird es mit Sicherheit geben. Boris und ich sind beide total entspannt, was die Vergangenheit angeht. Wir wissen, dass wir einander viel zu verdanken haben und uns trotz aller Konkurrenz gegenseitig befruchtet haben."