Andrea Gaudenzi hat viel zu tun, seit er im Januar 2020 zum neuen ATP-Boss aufgestiegen ist. Der 48-Jährige, ehemals die Nummer 18 der Welt im Einzel, übernahm sein Amt und musste sich sofort mit den Herausforderungen der Corona-Pandemie auseinandersetzen.
Dazu kommt der schwelende Machtkampf mit der von Novak Djokovic initiierten Konkurrenz-Spielergewerkschaft, der Professional Tennis Players Association (PTPA), das generelle Strukturchaos im Welttennis mit vielen verschiedenen Organisationen und nun auch die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf den Sport.
Wie die ATP und WTA am Dienstag bekanntgaben, dürfen russische und belarussische Spieler weiterhin bei ATP- und WTA-Turnieren antreten, allerdings nicht unter der Flagge Russlands und von Belarus.
Die Moskau-Events, die im Oktober stattfinden sollten, wurden außerdem ausgesetzt.
Und dann gibt es da noch Alexander Zverev. Der Deutsche wurde nach seinem Mega-Ausraster von Acapulco mit einer Geldstrafe über 40.000 Dollar belegt, es könnte aber noch eine größere Strafe und sogar eine Sperre drohen, denn die ATP hat eine weitere Überprüfung des Vorfalls angekündigt.
Schon im vergangenen Herbst hatte die ATP nach den schwerwiegenden Gewalt-Vorwürfen von Ex-Freundin Olya Sharypova gegen Zverev eine interne Untersuchung eingeleitet. Doch was ist seitdem eigentlich passiert?
Gegenüber SPOX klärt Gaudenzi über den Stand der Dinge auf. Außerdem äußert er sich zum Strategie-Plan der ATP und zum nach wie vor ungeimpften Novak Djokovic.
Andrea Gaudenzi über ...
... seine bisherige Amtszeit:
"Meine Zeit als ATP-Präsident hat bislang sicher einige Herausforderungen mit sich gebracht. Das aktuellste Beispiel ist natürlich das Managen unserer Reaktion auf die anhaltende Invasion von Russland in der Ukraine. Als ich meinen Posten angetreten habe, gab es die Buschfeuer in Australien und wenig später begann die Corona-Pandemie. Das hat dazu geführt, dass die ATP-Tour fünf Monate lang unterbrochen werden musste. Wir waren plötzlich in totalem Krisenmanagement-Modus und mussten alles neu bewerten, ob das die Rangliste, Regularien oder das Daily Business war. Und während wir diese Herausforderungen meistern mussten, haben wir parallel versucht, einen strategischen Plan und massive Reformen für die ATP einzuleiten. Für mich war es toll zu sehen, wie der Tennissport zusammengehalten hat in dieser Zeit. Der Sport hat in den letzten zwei Jahren mehr Veränderungen erlebt als in den 20 Jahren zuvor zusammen. Unsere Spieler, Turniere und Partner haben in einer sehr fließenden und unberechenbaren Lage eine unglaubliche Agilität und Widerstandsfähigkeit bewiesen. Wir haben auch enger mit der WTA zusammengearbeitet bei einigen Marketing-Initiativen und auch mit den anderen großen Organisationen durch die Einführung der T7-Arbeitsgruppe bestehend aus den vier Grand Slams, der ITF, WTA und der ATP. Das alles macht mich sehr optimistisch, dass unser Sport in der Zukunft großartige Dinge erreichen kann, indem wir alle zusammenarbeiten."
... seinen strategischen Plan für die Zukunft der ATP:
"Die erste Phase unseres strategischen Plans fokussiert sich auf die ATP selbst und basiert auf einigen Kernprinzipien. Ganz oben stehen Vertrauen und Transparenz. Die ATP ist eine Partnerschaft zwischen den Spielern und den Turnieren. Damit diese Partnerschaft gedeihen und Erfolg haben kann, müssen beide Seiten Einsicht in die Finanzdaten haben. Das bedeutet, dass Turniere diese geprüften Daten mit den Spielern teilen und dass wir die Interessen beider Seiten dann in einem bahnbrechenden Profit-Sharing-Modell zusammenbringen."
... die großen Turniere als Leuchtturm-Events:
"Der nächste Punkt ist die Stärkung unserer größten Events. Wir planen, dies durch zusätzliche Turniertage und durch eine Stabilität zu erreichen, die wir durch langfristige Franchise-Vereinbarungen sicherstellen, auch um Anreize für neue Investments zu bieten. Das sind unsere größten Events auf der Tour und die Events, die das meiste Interesse der Fans generieren. Wir glauben, dass wir durch die Stärkung dieser Events das Ecosystem für die gesamte Tour auf ein neues Level hieven können. Wenn wir den Kuchen insgesamt größer machen können, wird es viel einfacher, sich über die Verteilung von Geldern auf die unteren Ebenen zu unterhalten."
Gaudenzi exklusiv: Muss Tennis moderner werden?
... neue Einnahme-Möglichkeiten:
"Wir müssen auch neue und skalierbare Revenue-Streams fördern, namentlich Medienrechte und Daten. Tennis ist als Sport viel zu sehr abhängig von Ticket-Einnahmen, die endlich sind, weil Stadien nun mal keine unbegrenzten Kapazitäten haben. Unser Strategie-Plan wird uns helfen, technologischen Fortschritt zu machen und sicherzustellen, dass wir den Wert unserer Rechte auch maximieren. Und der letzte Punkt ist ein Fokus darauf, unsere Führung zu stärken, indem wir sicherstellen, dass wir eine stärkere Repräsentanz unserer Mitglieder im Vorstand haben. Das alles ist nur die erste Phase, wir schauen auch schon auf eine zweite Phase, in der wir die verschiedenen Organisationen im Tennis besser zusammenführen wollen."
... eine mögliche - sehr unrealistisch erscheinende - Vereinigung der ATP, WTA, ITF und der Grand Slams unter einem Dach:
"In der nahen bis mittelfristigen Zukunft wäre es mein Wunsch, dass sich Tennis in Richtung einer geteilten Führung und Steuerung entwickelt, bei der sieben Organisationen zusammenarbeiten, um Entscheidungen zu treffen und den Sport nach vorne zu bringen. Im Moment ist dieser Prozess, Entscheidungen zu treffen, zersplittert, was zu Ineffizienz führt. Wenn wir darüber nachdenken, dass wir mit anderen Sportarten, Ligen und den Entertainment-Giganten im Streaming-, Musik- oder Gaming-Bereich konkurrieren, ist das natürlich ein klarer Nachteil für uns. Dennoch muss ich sagen, dass wir in den letzten 24 Monaten schon Fortschritte erzielt haben, die extrem ermutigend sind. Deshalb habe ich den Glauben, dass so ein Modell wie gerade skizziert machbar ist und dass es unseren Sport extrem nach vorne bringen würde."
... mögliche Wege, um Tennis moderner und attraktiver für die jüngeren Generationen zu machen:
"Ich glaube nicht, dass wir am Format selbst dramatische Veränderungen brauchen, um für jüngere Generationen reizvoll zu bleiben. Wir müssen uns aber darauf fokussieren, wie wir unseren Sport verpacken. Fans konsumieren Inhalte inzwischen auf so vielen verschiedenen Wegen, nicht nur auf unterschiedlichen Devices, inzwischen beträgt der Anteil von Non-Live-Content fast 50 Prozent. Es geht um kurze Highlights, längere Highlight-Formate, auch um Content abseits des Courts. Wir sind ein Sport, der von seinen Stars lebt, für mich geht es mehr um das Storytelling und die Frage, wie wir es schaffen, neue Fans mit unseren Stars zu connecten. Das bedeutet, dass wir Content kreieren müssen, der wirklich interessant ist für jüngere Generationen und das in einem Format, das Sinn ergibt, und auf Plattformen, wo sie sich schon befinden. Wir haben gesehen, was Netflix und die Formel 1 mit Drive to Survive geschafft haben. Deshalb freuen wir uns sehr, dass wir jetzt mit Netflix für eine Tennis-Doku zusammenarbeiten, gemeinsam mit der WTA und den Grand Slams. Der Launch ist für nächstes Jahr geplant. Tennis hat so viele brillante Persönlichkeiten und so viele tolle Rivalitäten, so viele Geschichten zu erzählen. Ich freue mich, wenn wir auf diese Weise und durch diese Inhalte neue Fans anlocken können."
Gaudenzi exklusiv: So laufen die Ermittlungen im Fall Zverev
... den weiter ungeimpften Novak Djokovic, der Stand jetzt die größten Turniere verpassen wird:
"Mein Wunsch ist es, Novak gesund und glücklich auf der Tour zu sehen. Als einer unserer größten Champions hat er einen enormen Einfluss auf jedes Event, das er spielt. Im Moment ist es sehr schade, dass es so aussieht, dass sein Impfstatus verhindern wird, dass er bei gewissen Turnieren dabei sein kann. Wir für unseren Teil können nur immer weiter betonen, dass wir die Impfung all unseren Spielern empfehlen."
... das Verhältnis zu Djokovic und der von ihm gegründeten Spielvereinigung PTPA:
"Ich habe immer klargemacht, dass Tennis Einigkeit und Geschlossenheit braucht, keine Aufsplitterung. Das ist einfach die größte Quelle von Ineffizienz und der Schlüssel, um das volle Potenzial unseres Sports entfalten zu können, ist die Lösung dieses Zustands. Unsere Ansätze mögen unterschiedliche sein, aber wir werden alles dafür tun, dass Tennis Erfolg hat und wir unterstützen ein gesundes Ecosystem für unsere Spieler. Wir halten weiter an unserer Vision fest, wie wir das am besten erreichen können. Und am besten erreichen wir es mit einer vereinten Front unter dem Dach einer partnerschaftlichen Struktur der ATP-Tour. Wir bleiben aber jederzeit offen für Dialog."
... den Stand der ATP-Untersuchungen gegen Alexander Zverev wegen des Vorwurfs der häuslichen Gewalt von seiner Ex-Freundin Olya Sharypova:
"Die Untersuchung dauert noch an. Wir haben eine unabhängige dritte Partei mit Expertise auf diesem Gebiet hinzugezogen, die uns im Ermittlungsprozess assistiert. Ich kann Stand jetzt keinen Kommentar zu den Details der Ermittlungen abgeben, aber ich kann sagen, dass wir mehr Informationen zur Verfügung stellen werden, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist. Ich kann außerdem sagen, dass das alles für uns als Organisation Neuland ist. Es hat uns gezeigt, auf welchen Gebieten wir Nachholbedarf haben und in Zukunft mehr machen müssen. Ich bin froh, dass wir im vergangenen Jahr gemeinsam mit einem externen Experten ein sehr ausführliches Review gemacht haben, was die Themen Sicherheit und Schutzmaßnahmen angeht. Als Folge haben wir eine Reihe an Empfehlungen bekommen, um sicherzustellen, dass alle Kinder und Erwachsenen, die im Profitennis involviert sind, sicher und gegen Missbrauch geschützt sind. Auf diesen Empfehlungen aufzubauen wird für uns in den nächsten Monaten und Jahren ein großer Fokus sein."
... Deutschland und seine Zukunft als Tennis-Markt:
"Historisch gesehen war Deutschland immer ein sehr wichtiger Markt für unseren Sport. Aktuell richtet in Europa nur Frankreich so viele ATP-Turniere wie Deutschland aus. Die Latte wurde in den 1980er- und 1990er-Jahren natürlich sehr hoch gelegt. Nicht nur mit den Stars, die das deutsche Tennis hatte, auch mit den ATP-Finals in Frankfurt und Hannover. Wir sind stolz auf die Geschichte der Tour in Deutschland und wir hoffen, dass alle bestehenden Events weiter so erfolgreich sind. Was die Zukunft angeht: Deutschland, zusammen mit Großbritannien, wäre sicherlich einer der Top-Kandidaten, wenn die Tour in der Zukunft ein 1000er-Event auf Rasen ins Leben rufen will. Persönlich gesprochen gefällt mir die Idee und ich glaube, dass es für den Kalender insgesamt sehr viel Sinn ergeben könnte. Wir werden das mit unseren Mitgliedern besprechen, aber es ist noch ein bisschen zu früh, um weitere Spekulationen anzustellen."