Wimbledon setzt bei seiner 136. Auflage verstärkt auf Künstliche Intelligenz. Die neuen Technologien gewinnen im Weltsport an Bedeutung - es bleiben aber Risiken.
Nein, sagt Kevin Farrar, einen John McEnroe beispielsweise in all seinen Facetten kann Künstliche Intelligenz nicht ersetzen. Die Wut als Profi, sein Charisma als Mensch, sein Fachwissen als TV-Experte - einzigartig. Und deshalb setzt sich Farrar bei seinem kühnen Unterfangen, das berühmteste Tennisturnier der Welt in Wimbledon behutsam ins KI-Zeitalter zu überführen, strenge Grenzen: "Der Mensch muss immer präsent sein."
Farrar, ein unscheinbarer und früh ergrauter Brite, leitet die Sportsparte bei IBM, der IT-Riese aus Armonk/New York soll die 136. Wimbledon Championships ab Montag im Londoner Tennis-Mekka zur Werkschau neuer Möglichkeiten machen. "Unsere Traditionen reichen ins Jahr 1877 zurück. Aber ohne Innovationen hätten wir uns nie so lange an der Spitze halten können", sagt Wimbledons Technologie-Chef Bill Jinks.
Die Essenz Wimbledons, das ist den Gralshütern des "weißen Sports" wichtig, soll nicht verwässert werden. KI ist zunächst als Ergänzungsmittel vorgesehen, um "Tennis für die Fans auf der ganzen Welt noch fesselnder zu gestalten", wie die frühere Weltranglistenerste Maria Scharapowa unlängst auf einer IBM-Präsentation claqueurte.
Das bedeutet: KI wird auf der Wimbledon-Homepage oder -App die Höhepunkte der aberhunderten Spiele in den weniger prominenten Wimbledon-Konkurrenzen von Junioren über Veteranen bis Rollstuhl kommentieren und diesen so mehr Rampenlicht verschaffen - das kann John McEnroe schließlich nicht alleine übernehmen. Zudem soll KI "riesige Datenmengen sammeln und in Erkenntnisse umwandeln", sagt Farrar, beispielsweise stets aktuell den Schwierigskeitgrad des Weges aller Teilnehmenden zum Turniersieg berechnen.
Nun ist der Einsatz Künstlicher Intelligenz nicht gänzlich neu. Nicht im Tennis, wo das Hawk-Eye - ein System aus Hochgeschwindikeits-Kameras und Computern - seit 2006 bei großen Turnieren über Spielfeldlinien wacht. Nicht in anderen Sportarten wie Schach, wo der Computer Deep Blue schon 1996 Weltmeister Garri Kasparow bezwang. Und auch nicht in der Berichterstattung: Die Nachrichtenagentur AP generierte bereits 2016 aus Baseball-Statistiken Spielberichte.
Die KI-Quantensprünge jüngster Zeit öffnen aber ganz neue Möglichkeiten. Alles, was nicht unmittelbar zum reinen Wettkampf gehört, kann perfektioniert werden: Training, Ernährung, Scouting, Gegneranalyse - auch biomechanische Prozesse.
Wimbledon: KI kein Risiko, sondern eine Chance
"KI ist in unserem Bereich kein Risiko, sondern die Chance, in kürzerer Zeit mehr Daten zu generieren", sagte Björn Mäurer vom Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig dem SWR. Sportler und Sportlerinnen werden mit Sensoren, speziellen Kameras oder auch VR-Brillen ausgerüstet, vergläsert und perfektioniert.
Die Möglichkeiten sind grenzenlos, bergen aber auch Risiken des Missbrauchs, der Spionage und unlauterer Vorteilnahme. Wie das konkret aussehen könnte, ob und wie es "KI-Doping" geben könnte, das müssen Institutionen wie das Internationale Olympische Komitee konsequent erörtern.
Schon die Pläne Frankreichs, aus Sicherheitsgründen die Olympischen Spiele 2024 in Paris via KI lückenlos zu überwachen, rief heftige Proteste von Menschenrechtlern hervor. Und überhaupt könnte lückenlose und millionenschwere KI-Unterstützung die Kräfteverhältnisse im Weltsport noch mehr zugunsten der "Erste-Welt-Nationen" verschieben - und das den Resten des olympischen Gedankens den Rest geben.
"Wenn man es nur für die positiven Dinge einsetzen würde, wäre es ein Fortschritt für die Menschheit", sagte Trainer Christian Streich vom Fußball-Bundesligisten SC Freiburg dem SWR: "Aber die negativen Faktoren sind nicht absehbar, es könnte die Menschen aushöhlen."
Weil nicht nur Streich beunruhigt ob der unüberschaubaren Möglichkeiten ist, hat der Deutsche Ethikrat einen Leitfaden zum KI-Umgang formuliert. Eine zentrale Forderungen: "KI darf den Menschen nicht ersetzen."
Dies sehen auch die Verantwortlichen in Wimbledon so. Linienrichter oder Kommentatoren sollen (noch) nicht abgeschafft werden, der Mensch müsse im Mittelpunkt stehen, sagt Farrar: "Es geht darum, ihn zu vollenden." Mit John McEnroe ist dies hoffentlich abgesprochen.