Sie heben wieder ab. Erleben für Sekunden das Gefühl zu fliegen, wenn sie vom Schanzentisch ins Tal hinuntersegeln. Mit dem Weltcup im finnischen Kuusamo am Wochenende beginnt für die Skispringer die Weltcup-Saison 2009/2010. In den nächsten vier Monaten suchen die besten Springer der Welt ihren Vorflieger. SPOX stellt zusammen mit Dieter Thoma die Favoriten vor. Darunter: Ein waschechter Pilot und ein Mathematik-Student, ein ehemaliger Dopingsünder und der "smiling warrior".
Der Hobbykoch
Gregor Schlierenzauer (19 Jahre, Österreich, Weltcup 08/09: Platz 1):
Für Austrias Nordischen Direktor Toni Innauer ist er schlicht "ein noch nie dagewesenes Talent". Schon bei seinen ersten Weltcup-Starts sprang Gregor Schlierenzauer regelmäßig in die Top-Ränge. 2008 gewann er mit seinen ersten wahren Flügen überhaupt Doppel-Gold bei der Skiflug-WM. Eingewöhnung ist für den früheren Fußballer ein Fremdwort. Sein Selbstvertrauen ist groß. "Das Ziel ist es, irgendwann mal eine Ikone zu sein", hat Schlierenzauer einmal gesagt. Zuzutrauen ist es ihm. Gemanagt wird er von seinem Onkel Markus Prock, einem früheren Rodel-Star. In seiner Freizeit kocht er gern und häufig, er liebt Pokern. Am Tag nach seinem Schulabschluss hat er sich einen Surf-Trip gegönnt.
Das sagt Dieter Thoma: "Gregor hat ein sensationelles Paket und ist einer der stabilsten im Feld. Für mich ist er einer der Topfavoriten, weil er einen gigantischen Willen hat. Mit einem Top-Ten-Ergebnis gibt er sich nicht so schnell zufrieden. Gregor ist immer sehr freundlich, ein cleverer Typ."
Der Draufgänger
Thomas Morgenstern (23 Jahre, Österreich, Weltcup 08/09: Platz 7):
Fliegen fasziniert Thomas Morgenstern. Nicht nur auf Skiern. Vor einem Jahr hat er seine Ausbildung zum Pilot abgeschlossen. In diesem Sommer nahm er an einer Rallye teil. Auch an seinem Job fasziniert ihn das Risiko. So sagte er einmal: "Ich bin keiner, der den Schwanz einzieht. Bevor ich einen Sprung auf Sicherheit mache, geh' ich lieber zu Fuß runter." So wurde Morgenstern, der am liebsten Musik der Toten Hosen hört, 2006 in Turin zum Doppel-Olympiasieger. Nach einer überragenden Saison war er im vergangenen Winter nicht immer vorne dabei. Fußball ist eine weitere Leidenschaft. Sein Lieblingsgericht ist Pizza.
Das sagt Dieter Thoma: "Thomas ist ein gigantischer Sportler. Aber vielleicht kam der Erfolg in Turin zu früh. Den Skiwechsel zuletzt von Fischer zu Atomic habe ich nicht verstanden. Er konnte sich den Leistungsunterschied auch nicht erklären und ist nun doch wieder bei seiner Erfolgsmarke Fischer gelandet. Diese Materialwechsel brauchen Energie, aber bringen oftmals ein anderes Fluggefühl und Hoffnung mit sich. Morgi ist ein mitreißender Typ und verbreitet positive Energie."
Der Krieger
Simon Ammann (28 Jahre, Schweiz, Weltcup 08/09: Platz 2):
Vier Sprünge machten den kleinen Simon Amman vor sieben Jahren auch in den USA berühmt. Nach seinen beiden Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City - zugleich seine ersten beiden Siege überhaupt - war er sogar in David Lettermans Talkshow zu Gast. Damals entstand auch der Spitzname Harry Potter. Ein wesentlich weniger bekannter Kosename des stets gut gelaunten Schweizers ist der lächelnde Krieger (the smilling warrior). Wenn Ammann nicht gerade von einer Schanze springt, dann immer mal wieder aus einem Flugzeug. Denn Fallschirmspringen gehört neben Golf spielen und Motorradfahren zu seinen Freizeitinteressen. Seine Lieblingsband ist Metallica. Warum? "Deren Musik ist immer volle Pulle, aber trotzdem sehr melodisch."
Das sagt Dieter Thoma: "Simon hat sich extrem weiterentwickelt und ist unheimlich stabil geworden. Er hinterfragt viel, hat eine super Sprungkraft und ein tolles Bewegungsgefühl. Für mich ist er prädestiniert für einen Skispringer. Mit ihm kann man privat über alles reden, er ist sehr eigenständig und auch emotional intelligent."
Der Party-Boy
Harri Olli (24 Jahre, Finnland, Weltcup 08/09: Platz 4):
Wie man mit seinem ersten Erfolg negative Schlagzeilen schreibt? Harri Olli hat es bei der Skiflug-WM 2008 unfreiwillig vorgemacht. Seinen 6. Platz feierte er ausgiebig auf seinem Hotelzimmer mit zwei Frauen und jeder Menge Alkohol. Nachdem Olli auch noch seine Vorgesetzten vor Journalisten beleidigte, flog er für den Rest der Saison aus dem Kader. Mittlerweile hat er sich gebessert. Auch wenn es Rückschläge in Form von Trunkenheitsfahrten gab. Vergleiche mit dem legendären Matti Nykänen wurden gezogen - wobei ihm noch die sportlichen Erfolge seines Landsmannes fehlen. Die vergangene Saison war ein großer Schritt nach vorne. Vom Schnee aufs Eis geht es für Olli in der Freizeit - dann spielt er Eishockey. Zudem studiert er Mathematik.
Das sagt Dieter Thoma: "Harri ist vom Bewegungsgefühl und von der Sprungtechnik ein Naturtalent. Sein Sprungstil ist sehr eigen. Mich wundert es jedes Mal, dass es so gut geht. Er braucht einen Betreuerstab, am besten rund um die Uhr. Sonst lässt er sich immer wieder hängen und kommt wieder in 'Feierlaune'. Es wird interessant, wie er sich entwickelt, wenn Ahonen zurückkommt."
Der Harley-Fan, ein Nationalheld, der Dopingsünder und die deutsche Hoffnung
Der Harley-Fan
Wolfgang Loitzl (29 Jahre, Österreich, Weltcup 08/09: Platz 3):
Fast zwölf Jahre musste Wolfgang Loitzl warten, ehe er nach kleineren Achtungserfolgen aus dem Schatten seiner Teamkollegen und Landsmänner trat. Im vergangenen Winter gewann der zweifache Familienvater überraschend mit drei Einzelsiegen die Vierschanzentournee. Einer der Gründe, weshalb Loitzl vor wenigen Tagen zu Österreichs Sportler des Jahres 2009 gewählt wurde. Seine Freizeit verbringt er höchst unterschiedlich: Mit der Familie vor dem Fernseher, bei verschiedenen sportlichen Aktivitäten oder auf seiner Harley-Davidson.
Das sagt Dieter Thoma: "Wolfgang hat immer an sich gearbeitet. Er galt lange Zeit einzig als Teamspringer. Seine Technik ist sehr stabil, er hat tolle Kraftwerte. Vielleicht hat ihm zuvor das Selbstvertrauen gefehlt. Gute Haltungsnoten sind ihm bei jedem Sprung sicher. Ein sehr ruhiger, sehr introvertierter und ausgeglichener Mensch."
Der Nationalheld
Adam Malysz (31 Jahre, Polen, Weltcup 08/09: Platz 13):
Adam Malysz weiß stets 38 Millionen Menschen hinter sich. Denn der frühere Dachdecker-Lehrling ist in Polen ein Volksheld. Seit er von einem Winter auf den anderen im Jahr 2000 vom Hinterherspringer zum Besten seiner Zunft aufstieg, ist Skispringen in seiner Heimat ein Volkssport. Er allein war das Ventil für die ungebrochene Euphorie. Mittlerweile hat der Vater einer Tochter viermal den Gesamtweltcup sowie 2000/2001 die Vierschanzentournee gewonnen. Sein letzter Sieg liegt schon knapp drei Jahre zurück, abschreiben sollte man den polnischen Adler aber nicht. Sein großes Vorbild ist Jens Weißflog, dem er an Statur - auch wegen des Oberlippenbartes - sehr ähnelt.
Das sagt Dieter Thoma: "Adam ist klein und leicht, hat sehr gute aerodynamische Fähigkeiten mit tollen Absprungwerten. Ideal für einen Skispringer. In Polen ist Adam bekannter und beliebter als damals Papst Johannes Paul II. Das bringt eine Drucksituation mit sich. Für viele Menschen angenehm zurückhaltend. Mit zunehmenden Deutschkenntnissen aber dennoch aufgeschlossen. Er kann sich aber auch gut zurückziehen, um sich seine Ruhe zu holen."
Der Dopingsünder
Dimitri Wassiljew (29 Jahre, Russland, Weltcup 08/09: Platz 5):
2001 schrieb Dimitri Wassiljew eines der dunkelsten Kapitel der Skisprung-Geschichte. Damals wurde er als Dopingsünder entlarvt und für zwei Jahre gesperrt. Spuren des Diuretikums Furosemid wurden in seinem Körper gefunden. Was der Russe mit dem Harn treibenden Mittel bezwecken wollte? Eine Gewichtsreduzierung. Stattdessen musste Wassiljew eine unfreiwillige Auszeit nehmen. Die Wettkampf-Pause scheint ihm aber gut bekommen zu sein: In den vergangenen Jahren sprang er immer wieder in die Spitzengruppe vor. Auf seinen ersten Sieg im Weltcup muss Wassiljew, der in seiner Freizeit viel liest und ein großer Auto-Fan ist, allerdings noch warten.
Das sagt Dieter Thoma: "Dimitri hat einen extrem geilen Absprung. Allerdings ist es außerhalb der Saison für den russischen Sportler nicht so einfach, konstant auf einem Niveau zu leben und zu trainieren. In der Heimat sind die Trainingsumstände nicht immer positiv. Sein Teamkollege Denis Kornilov hat deutlich aufgeholt und wird ihm die Nr. 1 im Team streitig machen. Mit beiden habe ich nicht so viel Kontakt, was vor allem an der sprachlichen Barriere liegt."
Der Ruhepol
Martin Schmitt (31 Jahre, Deutschland, Weltcup 08/09: Platz 6):
Eines muss man Martin Schmitt lassen: Trotz vieler Jahre ohne Erfolge hat der zweifache Gesamtweltcupsieger die Motivation in seinem Sport nicht verloren, greift in jedem Winter wieder neu an. Geholfen hat ihm bei seiner Geduld sicher sein Motto. Dieses lautet: In der Ruhe liegt die Kraft. Der Lohn war ein großer Schritt in die richtige Richtung in der vergangenen Saison. Nach ganz vorne ist es dennoch ein sehr weiter Weg für Deutschlands Sportler des Jahres 1999. Aber Schmitt, der Golf und Skifahren zu seinen Hobbys zählt, könnte wieder zum deutschen Vorspringer werden. Und möglicherweise eine neue Erfolgsstory der Adler einläuten.
Das sagt Dieter Thoma: "Martin hatte einen unausgeglichenen Sommer. Den Sprung aus dem letzten Winter hat er noch nicht verfolgen können. Ich habe Hochachtung vor ihm als Mensch und als Sportler. Er ist auch in den guten Zeiten nicht abgehoben. Er ist introvertiert, kann aber explodieren. Martin ist ein sehr akribischer Arbeiter, kann jede Korrektur sofort umsetzen und hat meistens sehr viel Geduld."
Allzeithero und andere Geheimfavoriten
Im Blickfeld von Dieter Thoma: "Weitere Favoriten sind natürlich Allzeithero Janne Ahonen, Robert Kranjec und die Norweger als Team mit Jacobsen, Evensen, Romoeren sowie die starken Japaner des Sommer Grand Prix (Daiki Ito, Noriaki Kasai, Anm. d. Red.)."