Gevatter Zeit immer einen Tick voraus

Ole Einar Björndalen befindet sich in seiner 25. Weltcupsaison
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Wenn am Donnerstag die Biathlon-WM in Hochfilzen beginnt, steht auch das norwegische Evergreen des Doppelwettkampfes mit Ski und Gewehr an der Startlinie: Ole Einar Björndalen. Dass der Rekordtitelträger mit 43 Jahren noch dabei ist, ist eine eigene Geschichte für sich. Aber sein fast schon zwanghaftes Streben nach Perfektion treibt auch seltsame Blüten.

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Wann immer es ein Jubiläum oder einen Erfolg im Leben des Ole Einar Björndalen zu feiern gibt, erinnern einheimische Medien an einen kleinen Schuljungen. Einen kleinen Schuljungen, der sich vor laufender Kamera im norwegischen TV auf einem Seil balancierend bis auf die Unterhose auszog und wieder anzog - mit Erfolg versteht sich.

Die Geschichte kombiniert mit dem langläuferischen Talent sprach sich herum. Und so erlangte der junge Ole Einar bereits frühe Bekanntheit im Landesfernsehen. Einen Status, den er mit seinen unglaublichen Erfolgen in seinen nunmehr 26 (!) Weltcupwintern weit über die Grenzen des Langlauflandes Norwegen hinaus ausgebaut hat.

Klar, dass der norwegische Superstar in der Vergangenheit das ein oder andere Mal dazu befragt wurde. Er habe im Hof des elterlichen Hauses in Simonstranda, einem kleinen Dorf zwei Autostunden von Oslo entfernt, regelmäßig auf einem zehn Meter langen Seil balanciert: "Ich wusste, dass mir diese Übung für mein Gleichgewicht auf Skiern hilft."

"Erfolge waren damals so unrealistisch"

"Helfen" war in diesem Fall untertrieben: 94 Einzelsiege im Weltcup - Rekord. 13 olympische Medaillen, darunter acht goldene - Rekord. Und 44 WM-Medaillen, davon 20 WM-Siege. Müßig zu formulieren, dass das auch einen Rekord darstellt.

"Als ich klein war, wollte ich diese Siege immer erreichen. Aber das war damals alles so unrealistisch", formulierte er es mal in einem Videoporträt eines Sponsors.

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Unabhängig von all den in der Tat manchmal unwirklich anmutenden Erfolgsstatistiken sind Antrieb und Erfolgshunger des mittlerweile 43-Jährigen, trotz seines für den Leistungssport biblischen Alters, nicht gesättigt.

Björndalen verkündete - unter dem Jubel seiner Landsleute - bereits zweimal den Rücktritt vom Rücktritt. Dieser ultimative Schritt ließe sich auch schlecht mit der Devise des norwegischen Sporthelden verbinden: Behalte nach jeder Saison 90 Prozent deines Konzepts und verändere zehn Prozent.

Credo: Verändere jede Saison zehn Prozent

Das war bereits lange vor den großen Erfolgen sein Credo. Mit 15 zog es ihn trotz des behüteten Elternhauses samt idyllischen Bauernhofs fort von zu Hause ins Sportinternat. "Dort war ich in einer Klasse mit den besten Biathleten des Landes", erinnert sich der Altmeister.

Gegenüber dem Schießen entwickelte er in der Jugend zeitweilig Hass-ähnliche Gefühle. Er sei hyperaktiv gewesen, habe sich schlecht ruhig halten und konzentrieren können. "Ich habe mit acht das erste Mal geschossen und mit 16 vielleicht das erste Mal etwas getroffen. Alle haben gesagt: Das mit dir und dem Schießen, das wird nichts", erklärt der sechsfache Gesamtweltcupsieger lachend. Mit 16 kümmerte er sich bereits um einen Mentaltrainer, die Probleme im Anschlag wurden prompt weniger.

Bis heute arbeitet er perfektionistisch Winter für Winter an den kleinen Details. Er engagierte Anfang des neuen Jahrtausends trotz der großen Erfolge private Trainer für das Laufen, für das Mentale und für das Schießen - in dieser Form war das einmalig. Letzterer, der Schieß-Trainer Joar Himmele, wurde später Nationaltrainer Norwegens.

Zwei Rücktritte vom Rücktritt

Der war selbstredend erster Gratulant, als sich sein Schützling nach den vergangenen olympischen Spielen von Sotschi, bei denen er sich mit seinem Erfolg im Sprint zum ältesten Olympiasieger der Geschichte kürte, für den Rücktritt vom Rücktritt entschied. Und es dann nochmal tat: Vergangenes Jahr, nach der Heim-WM am legendären Holmenkollen zu Oslo. Hier gewann er vor königlicher Kulisse nicht nur Staffelgold, sondern errang zudem drei Einzelmedaillen.

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Sein 94. und bisher letzter Einzelerfolg im Weltcup datiert mittlerweile aus dem Dezember 2015. Der damals 41-Jährige gewann das Einzelrennen von Östersund und schraubte die Messlatte für den ältesten Weltcupsieger und zwischenzeitlichen Gesamtführenden nach oben.

Diesen Winter hat es bislang noch nicht für einen Podestplatz gereicht. Mit drei Plätzen in den Top Fünf hat der wegen seines kompromisslosen Siegeshungers vor Jahren mit dem Schmusenamen "der Kannibale" versehene Oldie angedeutet, dass er bei der Weltmeisterschaft reif ist für weitere Medaillen. Erst recht, weil er es versteht, sich punktgenau bei großen Veranstaltungen in Topform zu präsentieren.

Ein Wohnwagen für 1.5 Millionen Euro

Erklärungen für den Erfolg gibt es einige. Manche logisch, einige bizarr.

Legendär sind etwa die Geschichten über den Perfektionisten Björndalen, der einsam und abgeschottet von seinen Landsmännern mit einem Wohnwagen durch die Weltcupwinter tingelte - der Erfolg gab ihm stets Recht.

Mit seiner ersten Ehefrau, der ehemaligen italienischen Biathletin Nathalie Santer, leistete er sich einst einen Wohnsitz in Obertilliach in Osttirol. Nicht etwa wegen der schönen Region, sondern wegen der exzellenten Trainingsbedingungen am Biathlonzentrum im Sommer. Dieses ist mittlerweile nach dem König des Biathlons benannt. Von Santer ist er seit zwei Jahren geschieden. In zweiter Ehe mit der Weltklassebiathletin Darya Domracheva wurde Björndalen im vergangenen Herbst das erste Mal Vater.

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Um für den sportlichen Erfolg im Alter und unter diesen neuen Umständen vorzusorgen, ging Björndalen auch finanziell noch einen Schritt weiter. Für 1,5 Millionen Euro ließ er einen Lastwagen umbauen, der ihm und seiner Frau während der Saison als mobiles Haus und gleichzeitig als Wachskabine dient. Eigenes Fitnesscenter inklusive.

Seine Frau ist nur drei Monate nach der Geburt des gemeinsamen Kindes wieder in den Biathlonsport eingestiegen und startet ebenfalls bei der WM. Den Schlussteil der Vorbereitung spulte die ehrgeizige Familie in Antholz ab.

WM: Frühe Anreise und gute Erinnerungen an Hochfilzen

Und Björndalen wäre nicht Björndalen, wenn er nicht bereits seit dem vergangenen Wochenende an der WM-Austragungsstätte verweilen würde. Zu einem Zeitpunkt, an dem seine Konkurrenten um den Dominator Martin Fourcade wohl nicht einmal ihre Koffer gepackt hatten. Im Schneetreiben drehte er seine Runden, während die Weißrussin ein spezielles Schießtraining absolvierte.

Björndalen fühlt sich, das ist kein Geheimnis, wohl in Hochfilzen auf knapp 1000 Meter Höhe. Bei den Titelkämpfen vor zwölf Jahren an gleicher Stelle gewann er viermal Gold. "Das war eine super WM, ich war in Bombenform und habe fast alles gewonnen. Es war wirklich schön, mit super Stimmung, das war ein perfektes Jahr für mich", erklärte er den Südtiroler News am Rande des Trainings und bekannte, dass er die Nähe zu den Fans hier besonders genieße. In der Tat haben Zuschauer hier das Gefühl, ganz nah am Schießstand dabei zu sein.

Doch Fans und Experten müssen sich noch etwas gedulden. Ihre ersten Einsätze haben Björndalen und Domracheva erst im Sprint, die Mixed-Staffel zum Auftakt am Donnerstag lassen sie aus.

Virenphobie: Mit dem Staubsauger auf Tour

Ohnehin ist Björndalen niemand, der viel außerhalb des sportlichen Bereiches preisgibt. Über die Jahre ist eine Weigerung entstanden, über Privates zu reden. Auch, weil ihm einige Ticks im Boulevard negativ ausgelegt wurden.

Der Superstar hat, das ist bekannt, eine Phobie, wenn es um Viren, Bakterien und mögliche Ansteckungen mit Krankheiten geht. Die Mythen, dass er bei seinen seltenen Hotelaufenthalten zuerst einen Staubsauger fordert, damit das Zimmer reinigt und danach Bakterienfallen wie Teppiche luftdicht mit Plastik überzieht, halten sich beständig.

Wegen der möglichen Übertragung von Krankheitserregern verzichtet er auf öffentliche Verkehrsmittel, desinfiziert nach jedem Händeschütteln die Finger. Bei Reisen stets dabei: Staubsauger, Plastikfolien und Klebeband.

Björndalen äußerte sich zudem einmal über seinen Alkoholverzicht. Nach einem Vollrausch in jungen Jahren habe er sich komplett vom Alkohol abgewandt. Lediglich morgens zum Gurgeln benutze er Cognac.

Plötzlich Dopingbekämpfer Nummer eins

Der Hang zur Perfektion birgt auch Opfer. Aufgrund der Abschottung und der ständigen Fokussierung aufs Training soll der Oldie nie viele Freunde gehabt haben. Respektiert ist er dennoch. Als offizieller Athletensprecher engagiert er sich nach dem Bekanntwerden, dass Informationen des McLaren-Reports 31 russische Skijäger belasten, in diesen Monaten vehement für die Verschärfung der Dopingregeln.

Auch auf Druck des Norwegers hin unterschrieben erst 170 von ihnen Mitte Januar einen Brief an die Internationale Biathlon-Union, in dem sie längere Sperren für Dopingsünder, die Streichung von Startplätzen beteiligter Nationen und deutlich härtere finanzielle Strafen fordern. Am Mittwoch, dem Tag der Eröffnungsfeier, stimmen die 51 Mitgliedsverbände über die Vorschläge schon jetzt ab. Die IBU selbst spielt auf Zeit.

Mit Dopingvorwürfen wurde Björndalen, der seine größten Erfolge in einer Zeit feierte, in dem Doping im Langlauf und Wintersport nachweislich in der Mitte der Athleten angelangt war, nie konfrontiert. Dass er sich jetzt vehement für einen sauberen Sport einsetzt, ist löblich und fördert seinen Status als lebende Legende.

In seiner Heimat ist er bereits mehr als eine Legende. In der Nähe des Ortes, an dem er einst mit seinem Seil das Gleichgewicht schulte, steht jetzt eine Björndalen-Statue. "Die fand ich erst alles andere als gut", sagte der Dargestellte mal. Statuen seien doch etwas für Leute, die schon tot seien.

"Denkmäler eben. Aber für den Ort ist es eine gute Sache. Viele Touristen kommen seitdem hierher", zeigt er sich mittlerweile zufrieden. Dass er auch mit 43 Jahren längst noch kein eingerostetes Denkmal ist, zeigt er sowieso Winter für Winter. Und Björndalen kann - ein perfektes Rennen vorausgesetzt - bei dieser WM an seiner Unsterblichkeit nochmals feilen.

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