Sven Hannawald im Interview: Burnout? "Du musst selbst gegen die Wand rennen, damit du den Knall hörst"

Alexander Hagl
28. Dezember 202010:23
Sven Hannawald beendete 2005 seine Karriere.getty
Werbung
Werbung

Die Vierschanzentournee beginnt mit dem Springen in Oberstdorf (16.30 Uhr im LIVETICKER). Der letzte deutsche Sieg durch Sven Hannawald liegt mittlerweile 19 Jahre zurück. Im Interview mit SPOX erklärt Hannawald, wieso sich die deutschen Fans dieses Mal Hoffnungen machen dürfen.

Der TV-Experte der ARD blickt auf die Vierschanzentournee voraus, die unter besonderen Umständen ausgetragen wird. Hannawald nennt seinen Favoriten und erklärt, dass die deutschen Tournee-Hoffnungen Markus Eisenbichler und Karl Geiger voneinander profitieren können.

Der 46-Jährige erzählt zudem von seinem Burnout und warum seine Tätigkeit im Fernsehen kurz nach seiner Behandlung noch zu früh kam und er stattdessen in den Motorsport wechselte.

Herr Hannawald, Sie sind der letzte deutsche Tourneesieger. Richtig feiern konnten sie den Sieg in der Saison 2001/02 aber nicht.

Sven Hannawald: Das lag daran, dass es innerhalb des Wettkampfkalenders war. Wäre nach der Tournee Ruhe, hätte ich es zelebrieren können. Der Weltcup geht aber immer direkt weiter. Wenn du dann im März erst realisierst, dass du Tourneesieger bist, bist du meistens zu platt dafür. Im Hinterkopf bist du natürlich stolz, aber eigentlich immer noch im Rhythmus. Man kann es erst nach der Karriere richtig aufnehmen, wie zum Beispiel jetzt: Ich genieße das Skispringen. Darüber bin ich froh, dass ich körperlich gesehen ausgeglichen bin.

Diese Freude am Skispringen war bei Ihnen aber irgendwann weg.

Hannawald: Stimmt. Eigentlich habe ich immer schon ein paar Tage nach Saisonende die Lust auf das Skispringen verspürt. Ich habe gemerkt, dass es aber von Saison zu Saison immer ein bisschen länger gedauert hat, bis das grüne Licht von innen heraus kam. Ab der WM in Predazzo 2003 ging es bergab. Dabei kamen von außen auch noch kleine Störfeuer - unter anderem die Bundestrainerdebatte - hinzu. Das hatten wir zuvor nicht gekannt.

Wie ging es weiter?

Hannawald: In der Saison 2003/04 wollte ich, obwohl mit Wolfgang Steiert mein Heimtrainer der neue Bundestrainer wurde, überhaupt nichts mehr vom Skispringen wissen. Das wurde immer schlimmer. Ich fühlte immer mehr Schwierigkeiten in meinem Körper. Eine Unruhe, Müdigkeit und Rastlosigkeit. Ich kam nicht zur Ruhe, obwohl ich zu Hause war. Das hat mich dann komplett ruiniert.

Sie beendeten die Saison 2003/04 vorzeitig.

Hannawald: Das Typische im Endstadium des Burnouts ist, wenn du von heute auf morgen keine Aufgaben mehr hast, dass dein System endgültig kollabiert. Das war bei mir im Urlaub so. Da wusste ich nicht mehr, was ich machen sollte.

Sie haben einmal erzählt, dass sie damals in dem Urlaub in Barcelona einen ganzen Tag lang Laub gesammelt haben.

Hannawald: Genau. Ab einem gewissen Stadium kommst du nicht mehr mit der Ruhe klar, obwohl der Körper nach Ruhe schreit. Die innerliche Unruhe macht dich irre. Deswegen suchst du dir Aufgaben. Deswegen suchen sich Leute, die in den Burnout rennen, eher mehr als weniger Aufgaben. Damit sie Zeit verbringen und sich ablenken von dem, was sich innerlich komisch anfühlt. Keiner kann dich da mehr retten. Du musst selbst gegen die Wand rennen, damit du den Knall hörst. Ab einem gewissen Zeitpunkt hat niemand mehr Zugriff auf dich.

Kurz danach ließen Sie sich in einer Klinik behandeln.

Hannawald: Vor diesem Urlaub war ich schon über anderthalb Jahre bei mehreren Ärzten. Wir sind zusammen mit dem Mannschaftsarzt alle Abteilungen durchgegangen, aber es hat immer geheißen: "'Ich bin der Profisportler, bei mir sieht alles gut aus." Am Ende war ich dann bei einem Arzt für Psychosomatik, der gleich die Diagnose "Burnout" feststellte und mich in eine Klinik schickte.

Sven Hannawald beendete die Saison 2003/2004 vorzeitig.getty

Sven Hannawald im Steckbrief

Geburtsdatum9. November 1974
GeburtsortErlabrunn
Weltcupdebüt1993
Karriereende2005

Nach der Behandlung beendeten Sie ihre Karriere, suchten eine neue Aufgabe und heuerten schon in der Saison 2005/06 als Junior-Partner des damaligen ARD-Experten Reinhard Heß an.

Hannawald: Ich war mein Leben lang Skispringer, deswegen liegt es nahe, dass ich nur eine Art von Aufgabe habe. Wenn du aufhörst, sehnst du dich nach einer Aufgabe, die dich ähnlich bindet. Es liegt nahe, ins Fernsehgeschäft zu wechseln, da man die Erfahrung und das Know-how hat. Dementsprechend gab es damals die Anfrage. Ich hab es versucht - ich sage bewusst "versucht'" - da ich schnell gemerkt habe, dass es zu schnell nach meinem Burnout war. Ich wäre damals bei den Olympischen Spielen in Turin 2006 als Experte dabei gewesen. Die Tickets waren schon gebucht, aber ich musste einsehen, dass es zu früh für mich kommt. Ich hatte noch zu viele innere Kämpfe, war gefühlt noch zu nah am Springen dran. Ich habe mich schließlich bewusst um andere Dinge gekümmert.

Sven Hannawald: "Kindheitstraum ist in Erfüllung gegangen"

Sie fuhren stattdessen Autorennen und stiegen beim ADAC GT Masters ein.

Hannawald: Wenn man Skispringer war, dann wäre ein Bürojob danach ehrlich gesagt nichts. Da ist nicht mehr viel Adrenalin dabei. Das war beim Motorsport natürlich anders.

Sie galten schon früher als großer Formel-1-Fan.

Hannawald: Ich habe jedes Rennen angesehen. Wir waren dank RTL auch einige Male bei der Formel 1 eingeladen. Dann Rennen zu fahren, damit ist für mich ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen. Kurz vor der Bekanntgabe kam bei mir aber wieder eine innere Unruhe auf. Ich habe gedacht, dass es falsch ist. Ich habe es trotzdem durchgezogen. Als es kommuniziert wurde, war ich der glücklichste Mensch der Welt. Diese Aufgabe hat mich ausgeglichen und dann hat mein Tagesablauf wieder gepasst.

Vor der Saison ging es nach vierjähriger Tätigkeit für Eurosport sozusagen wieder "back to the roots" zur ARD.

Hannawald: Für uns alle kam es überraschend, dass Dieter Thoma als Experte aufhört. Ich sehe das nun als Chance. Eurosport hat mich ziehen lassen, dafür bin ich dankbar. Das Haifischbecken war groß, weil viele Namhafte sich sogar selbst ins Spiel gebracht haben.

Wie werden Sie die Tournee begleiten? Sind Sie vor Ort?

Hannawald: Wir haben den Entschluss gefasst, dass wir im Studio bleiben. Da stehe ich komplett dahinter, da wir eine gewisse Verantwortung mit unserer Rolle in der Öffentlichkeit haben. In Zeiten der Corona-Pandemie finde ich es gut, dass wir das Nötigste tun, um das Risiko zu minimieren.

Geht der Reiz der Tournee durch die Maßnahmen und die fehlenden Zuschauer etwas verloren?

Hannawald: Vor Ort würde man natürlich merken, was man an der Tournee hat. Nichtsdestotrotz kommen schon davor die Anspannung und das Kribbeln. Die Tournee ist einfach die Tournee und die wird auch in den Köpfen immer bleiben. Natürlich wird sie anders, wenn das ganze Drumherum, das natürlich auch wichtig ist, fehlen wird. Mir ist aber viel wichtiger, dass sie überhaupt stattfindet.

Sie werden nicht nur als Experte, sondern auch als Co-Kommentator zu hören sein. Wie bringt man Laien, die vielleicht nur zur Tournee einschalten, bei der Kommentierung den komplizierten Ablauf beim Skispringen näher?

Hannawald: Richtig, es wäre einfacher, wenn ich im Bild wäre und meine Hände als Unterstützung nehmen könnte. So versuche ich es einfach zu halten und die sportartspezifischen und wissenschaftlichen Begriffe zu vermeiden. Ich versuche es in ein normales Deutsch zu verpacken und mit Vergleichen zu arbeiten. Beispielsweise beim Luftdruck, den wir unter dem Ski fühlen: Das ist wie wenn man mit dem Auto fährt und die Hand aus dem Fenster hält. Aber ich will das auch nicht bei jedem Springer machen, sondern nur bei auffälligen Beispielen. Es gibt beim Skispringen minimale Nuancen, die man nicht immer in der Zeitlupe erklären kann.

Keine Fehler sind aktuell bei Halvor Egner Granerud zu sehen. Der absolute Top-Favorit auf den Sieg, oder?

Hannawald: Ja, auf alle Fälle, der hat jetzt richtig Fahrt aufgenommen. Er macht keine Fehler. Er versucht, das Springen nicht komplex zu machen, sondern einfach zu halten. Das ist aktuell sein Vorteil. Sein Nachteil ist, dass von Engelberg bis Oberstdorf nichts passiert ist. Jetzt ist bei Granerud das Gedankenkino an. Das belastet und macht den Rucksack nochmal schwerer. Für den Ultra-Favoriten waren die Tage jetzt lang, bis er endlich wieder Skispringen kann. Das macht vielleicht ein wenig müde.

In den vergangenen Jahren hat sich das oft gezeigt. Der Sieger in Engelberg hat fast nie die Tournee gewonnen.

Hannawald: Stimmt. Die Favoriten nach Engelberg haben sich selten bei der Tournee durchgesetzt. Seine lockere Art dürfte Granerud aber zugutekommen.

Karl Geiger und Markus Eisenbichler sind die deutschen Hoffnungen für die Vierschanzentournee.getty

Sven Hannawald: "Eisenbichler hat gezeigt, dass er Granerud packen kann"

Ebenfalls gebannt wartet Karl Geiger auf den Auftakt. Glauben Sie, dass er trotz der Pause aufgrund seiner Corona-Infektion sein Leistungsniveau abrufen kann?

Hannawald: Ich glaube schon, das hat die Saison gezeigt. Im Vorfeld der Skiflug-WM wurde er in Nischni Tagil aus dem Weltcup genommen. Wichtig war jetzt, dass er symptomfrei ist und das Krafttraining durchläuft. Das ist das Entscheidende. Sein System funktioniert, aber er muss körperlich fit sein.

Wie sieht so ein Krafttraining zuhause aus?

Hannawald: Es werden für die Muskulatur intensivere Reize gesetzt. Dem Körper werden explosive Bewegungen beigebracht. Man imitiert einen Sprung beispielsweise mit einer Hantel. Dieses Training kann jeder zuhause selber machen. Vor allem in diesem Jahr haben sich viele selbst Hanteln angeschafft. Die Jungs werden zudem durch Messungen permanent überwacht und trainieren im Kraftbereich fast das ganze Jahr durch. Dementsprechend weiß man, dass man dem Körper auch nicht schadet.

Neben Geiger hat der DSV in diesem Jahr mit Markus Eisenbichler ein zweites heißes Eisen im Feuer.

Hannawald: Ich hoffe, dass Markus sich durchbeißt. Im letzten Sprung in Engelberg hat er gezeigt, dass er Granerud packen kann. Er darf sich keinen Fehler erlauben, sonst ist Granerud außer Reichweite.

Würde es ihm helfen, wenn mit Geiger ein Teamkollege dabei wäre, der ihn pusht - ähnlich wie bei ihnen damals mit Martin Schmitt?

Hannawald: Ja. Dabei kommt noch hinzu, dass nicht alle Erwartungen auf Eisenbichler lasten würden. Das ist aus meiner Sicht der Unterschied zur Ära unter Bundestrainer Werner Schuster (von 2008 bis 2019, Anm. d. Red.), als es meistens nur einen wirklichen Siegspringer gab. Wenn dieser Pech hatte, war das Thema durch. Geiger und Eisenbichler haben nun die Gewissheit, nicht alleine den deutschen Rucksack tragen zu müssen.

Sven Hannawald: "Wellinger und Freund hinken ihrer Fitness hinterher"

In den vergangenen Jahren mussten diesen Rucksack zumeist Severin Freund und Andreas Wellinger tragen. Bei beiden läuft es nach schwerwiegenden Verletzungen noch nicht ganz rund.

Hannawald: An beiden sieht man, was man sich als Springer erarbeiten muss, wenn jemand verletzungsbedingt länger raus ist. Sie hinken ihrer Fitness ein wenig hinterher, aber das ist ein völlig normaler Weg. Von außen hat man natürlich andere Erwartungen. Ich freue mich eher, dass beide wieder dabei sind. Bestenfalls springen sie um Platz 20, das ist realistisch. Erst in der nächsten Saison schaue ich wieder genauer auf die Ergebnisse, nachdem sie hoffentlich einen zweiten Sommer durchtrainieren können. Beide müssen auch bedingt durch das sich verändernde Material ihren Sprung erst wieder überschreiben. Aber diese Dinge dauern.

Sie sprechen das Material an. Seit dieser Saison werden die Keile in den Skischuhen wieder kontrolliert. Sie dürfen als nicht mehr individuell angepasst werden. Eine richtige Entscheidung?

Hannawald: Ja, wenn man das Material unkontrolliert lässt, hat man gesehen, dass Springer vorne waren, die weniger Talent durch das Material überspielen konnten. Das war so, als wenn man jemanden in ein Formel-1-Auto von Mercedes setzt, der ist dann auch vorne dabei. Da waren insbesondere durch die Keile Sprungtechniken konkurrenzfähig, von denen man dachte, damit kommt man nie auf einen grünen Zweig. Ryoyu Kobayashi und Peter Prevc wären zwei Beispiele dafür.

Beide hinken in dieser Saison hinterher. Wen haben sie für den Tournee-Sieg stattdessen auf dem Zettel?

Hannawald: Kamil Stoch ist sicher ein Kandidat. Er hat zwar einige Schwankungen in dieser Saison, aber er hat die Erfahrung. Er muss nichts beweisen, da er die Tournee schon gewonnen hat, und geht dementsprechend ruhiger ran. Von den Österreichern sehe ich Daniel Huber als aussichtsreichsten Springer.

Nicht Stefan Kraft, der in den vergangenen Jahren der beste Österreicher war?

Hannawald: Ihm fehlt aufgrund seines Rückenleidens das Krafttraining. Beim Skispringen brauchst du Dampf aus den Röhren! Wenn du nichts trainieren kannst, dann lässt die Kraft im Muskel nach. Aber er soll mich gerne eines Besseren belehren.

Vierschanzentournee: Die Termine im Überblick

DatumZeitOrtWettbewerb
28.12.202016.30 UhrOberstdorfQualifikation
29.12.202015 Uhr Wettkampf
31.12.202014 UhrGarmisch-PartenkirchenQualifikation
1.1.202114 Uhr Wettkampf
2.1.202113.30 UhrInnsbruckQualifikation
3.1.202113.30 Uhr Wettkampf
5.1.202116.30 UhrBischofshofenQualifikation
6.1.202116.45 Uhr Wettkampf