Als Alexander Zverev im Halbfinale gegen Dominator Novak Djokovic mit 1:6 und 2:3 (mit Break) in Rückstand lag, war die Erkenntnis des olympischen Tennisturniers eigentlich schon klar: Djokovic macht wie erwartet den nächsten Schritt Richtung Golden Slam und Zverev erlebt ein großes Turnier, wie er es schon so oft erlebt hat. Richtig gut, vielleicht wäre am Ende Bronze herausgekommen, aber eben nicht gut genug für den ganz großen Wurf.
Was aber dann passierte, lässt einen endlos mit dem Kopf schütteln. Zverev gewann nicht nur acht Spiele in Folge gegen Djokovic, er gewann ab diesem Zeitpunkt 22 der nächsten 27 Spiele auf dem Weg zu Gold. 6:3, 6:1 gegen den Djoker. 6:3, 6:1 gegen Karen Khachanov im Finale.
Der Dominator heißt Alexander Zverev
Der Dominator hieß am Ende plötzlich Zverev, er war der mit Abstand beste Spieler über die gesamte Woche gesehen. Und Djokovic? Der implodierte sowohl körperlich als auch mental und verließ Tokio mit Fragezeichen im Gepäck, was die restliche Saison angeht. Zverev hat in Tokio eindrucksvoll gezeigt, dass er das Potenzial zum besten Spieler der Welt hat, wenn er mit Selbstvertrauen auf dem Court steht.
Seine Leistung erinnerte stark an die ersten beiden Sätze beim US-Open-Finale 2020 gegen Dominic Thiem. 6:2, 6:4. Zverev spielte wie vom anderen Stern und schoss den Österreicher komplett vom Platz. Bekanntlich verlor Zverev noch dramatisch im Tiebreak des fünften Satzes. Aber in Tokio fühlte es sich wieder wie in diesen beiden ersten Sätzen an. Am besten zu illustrieren ist Zverevs Selbstvertrauen an seinem Aufschlag.
Wer den Deutschen in Tokio servieren sah, dem erscheint es völlig unvorstellbar, dass das derselbe Kerl sein soll, der in der Vergangenheit in schöner Regelmäßigkeit an seinem Aufschlag zerbrach und Doppelfehler en masse servierte. Und nicht nur normale Doppelfehler. Zverev servierte den Zweiten phasenweise mit gefühlter Minusgeschwindigkeit ins Netz, oder servierte einen Zweiten mit über 200 km/h, weil er das Vertrauen eh komplett verloren hatte und nicht mehr weiter wusste.
Zverevs außerirdischer Aufschlag: 56 Asse, 3 Doppelfehler
Zverevs Service-Bilanz von Tokio: 6 Matches, 56 Asse, 3 Doppelfehler. Phasenweise eine brutale Quote an ersten Aufschlägen. Auch als es gegen Djokovic oder im Finale in die heiße Phase und darum ging, das Match nach Hause zu bringen, wackelte bei Zverev rein gar nichts. Es war absolut beeindruckend. Es war nahezu perfekt.
Zverev scheint in diesem Jahr seine innere Mitte gefunden zu haben. Warum das so wichtig ist: Weil die Probleme beim Aufschlag nie in erster Linie technischer Natur waren, sie waren immer Probleme, die aufgrund äußerer Einflüsse oder aufgrund des immensen Drucks zutage getreten sind.
Es ist auch kein Geheimnis, dass der Faktor Olympia ein entscheidender Faktor für den Siegeszug war. In Sportarten, bei denen Olympische Spiele nicht die allergrößte Bedeutung haben, gibt es keinen Spieler, der so viel Energie daraus zieht, für sein Land zu spielen und so für Olympia brennt wie Zverev. Die Nervosität scheint hier dem Stolz zu weichen, für ein Team Großes erreichen zu können.
Der Olympiasieg ist keine Garantie für Grand Slams
Das heißt nicht, dass Zverev ab jetzt auch anfängt, Grand Slams zu gewinnen. Er befindet sich immer noch in einem Prozess. Die brutale Enttäuschung in Wimbledon mit dem Achtelfinal-Aus gegen Felix Auger-Aliassime inklusive 20 (!) Doppelfehlern scheint jetzt lange her, ist sie aber nicht.
Genauso wenig darf man vergessen, dass Zverev nicht zum ersten Mal bewiesen hat, dass er im Best-of-three-Format über eine Woche die größten Turniere der Welt gewinnen kann. Nach dem Titel bei den ATP Finals 2018 folgte jetzt der Olympia-Triumph.
Aber sobald Zverev Ende August bei den US Open aufschlägt, wird seine in einem bestimmten Punkt verheerende Grand-Slam-Bilanz (kein einziger Sieg gegen einen Top-10-Spieler) wieder herausgekramt werden. Best-of-Five ist ein völlig anderer Sport als Best-of-Three - solange Zverev nicht zeigt, dass er auch über diese Strecke bei einem Grand Slam einen Djokovic schlagen kann, werden trotz der Goldmedaille letzte Zweifel bleiben.
Vielleicht kann sich der 24-Jährige Andy Murray zum Vorbild nehmen. Der Schotte gewann 2012 Gold bei den Sommerspielen in London und wenig später in New York seinen ersten Grand-Slam-Titel.