Pro und Contra zur Absagenflut bei der Kadernominierung für Olympia: Ein Armutszeugnis für den deutschen Fußball

Martin VolkmarFilippo Cataldo
14. Juli 202114:06
Holte sich eine Absage nach der nächsten ab: Stefan Kuntz.getty
Werbung

Die deutsche Mannschaft ist mit nur 18 Spielern zum Olympischen Fußballturnier nach Japan gereist. Trainer Stefan Kuntz holte sich eine Absage nach der nächsten ab. Ist das peinlich? Das Pro und Contra.

Pro: DFB und DFL zeigen olympischer Idee den Mittelfinger

Von Martin Volkmar

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Olympia-Absagenflut durch die 36 Erst- und Zweitligisten ist ein Armutszeugnis für den deutschen Fußball.

Denn DFB und DFL könnten nach der desaströsen EM positive Schlagzeilen dringend gebrauchen, verschlafen die Chance zur Werbung in eigener Sache aber aus kleingeistigem Egoismus - und zeigen der olympischen Idee im Vorbeigehen noch den Mittelfinger.

Ja, es gibt viele Gründe gegen eine Teilnahme in Tokio. Angefangen von der Sinnfrage, ob diese Pandemiespiele überhaupt hätten stattfinden sollen. Hinzu kommt die Dauerbelastung der Spieler und das Problem für Mannschaften wie Spieler, dass sie in der Saisonvorbereitung fehlen würden.

Deshalb kann man gleich der FIFA die Schuld an dem Schlamassel geben, weil sie keine Abstellungspflicht für Olympia vorgibt. Doch damit machen es sich die Verantwortlichen im deutschen Fußball zu einfach.

Spanien nominiert sogar sechs EM-Teilnehmer

Die DFL lässt den DFB alleine, der wiederum dem Konflikt aus dem Weg geht und im Gegensatz zu anderen Ländern auf eine nationale Lösung verzichtet. Der spanische Verband dagegen lässt sich weder von Real Madrid noch vom FC Barcelona reinreden und hat in Pedri, Eric Garcia, Pau Torres, Dani Olmo, Mikel Oyarzabal und Unai Simon sogar sechs EM-Stammkräfte nominiert.

Eine Topnation, die tatsächlich ihre beste Mannschaft zu den Spielen schickt, um dort die Goldmedaille zu holen - in Deutschland leider undenkbar. Wobei der Verzicht auf die EM-Teilnehmer des DFB ja grundsätzlich nachvollziehbar ist (auch wenn die Mehrheit bei der Endrunde deutlich weniger gespielt hat als Halbfinalist Spanien).

Mit bestmöglichem Team hätte DFB um Gold gespielt

Aber es wäre nicht zu viel verlangt gewesen, das bestmögliche Team hinter der A-Mannschaft auszuwählen. Allein schon deshalb, weil der jüngere Jahrgang der U21, der 2019 Vize-Europameister wurde und damit die Olympia-Qualifikation schaffte, dieses für einen Sportler einmalige Erlebnis verdient gehabt hätte.

Mit den besten aus dem 97er-Jahrgang plus dem Kern der aktuellen U21-Europameister um (die allesamt fehlenden) Niklas Dorsch, Lukas Nmecha und Ridle Baku sowie drei älteren Profis wie Jerome Boateng oder Lars Stindl hätte das DFB-Team um den Titel gespielt und Interesse, vielleicht sogar Begeisterung für eine deutsche Nationalmannschaft wecken können.

Teilnahmslosigkeit, Desinteresse und Ablehnung in der Liga

Stattdessen herrscht bei den meisten Bundesligisten Teilnahmslosigkeit, Desinteresse und teilweise sogar Ablehnung gegenüber der olympischen Idee. Dem großen FC Bayern war es nicht mal möglich, seinen dritten Torwart abzustellen, da zogen viele andere Klubs dann gerne nach.

So machte sich Stefan Kuntz am Ende mit gerade mal 18 Spielern (davon drei Torhüter) auf die Reise nach Japan, gleich vier Plätze konnten nicht besetzt werden. Ein Schlag ins Gesicht für den Trainer und auch für die vielen Sportler, die trotz aller Quälerei keinen Platz im Olympia-Kader bekommen konnten.

Wenige Wochen nach der EM-Pleite und angesichts anhaltender Imageprobleme blamiert sich der deutsche Fußball somit völlig unnötig ein weiteres Mal. Und verpasst zudem die große Chance, mehr Talenten die gerade in der aktuellen sportlichen Krise umso wichtigere Erfahrung auf höchstem internationalen Niveau zu ermöglichen. Ein klassisches Eigentor sozusagen.

Contra: Man kann eben nicht alles haben

Von Filippo Cataldo

Stefan Kuntz hat jedes Recht der Welt, enttäuscht zu sein über die vielen Absagen für seinen Olympia-Kader. Natürlich ist es verheerend, wenn es der DFB nicht mal schafft, 22 Spieler nach Tokio zu schicken. Doch das Thema ist, wie so oft, komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Bereits vor Olympia 2016 hatten der DFB und die Bundesligisten sich darauf geeinigt, dass maximal zwei Spieler pro Verein für Olympia nominiert werden sollten, dass es keine Doppelnominierung für EM und Olympia geben sollte und dass der damalige Trainer Horst Hrubesch zudem auf Spieler verzichten würde, die im Sommer den Verein gewechselt hatten.

2016 verpassten daher unter anderem Timo Werner, Kevin Volland, Leroy Sane, Julian Weigl oder Jonathan Tah die Spiele von Rio de Janeiro. Trotzdem holte das trotz der Absagen zugegebenermaßen immer noch sehr prominent besetzte deutsche Olympiateam um die routinierten Bender-Zwillinge Lars und Sven und die jungen Matthias Ginter, Niklas Süle, Leon Goretzka und Serge Gnabry Silber.

Olympia: Top-6 der Bundesliga schickt nur drei Spieler

Insofern ist es nicht nur ein Armutszeugnis, sondern absolut zu verurteilen, dass der FC Bayern München es diesmal nicht einmal für nötig befand, seinen dritten Torwart Ron-Thorben Hoffmann für Olympia freizugeben.

Dass insgesamt nur drei Spieler des Olympia-Kaders bei den sechs besten Bundesliga-Mannschaften der vergangenen Saison unter Vertrag stehen, hat aber auch andere, mehr oder weniger triftige Gründe.

Eintracht Frankfurt etwa hat bis auf den nachnominierten Ragnar Ache keine Spieler, die in Frage gekommen wären. Bei Bayer Leverkusen, das Nadiem Amiri abgestellt hat, sieht es nicht anders aus.

Beim BVB wären altersmäßig etwa nur Felix Passlack und Mo Dahoud in Frage gekommen. Auf Youssoufa Moukoko verzichtete Kuntz freiwillig und Mats Hummels stand zwar offenbar auf der vorläufigen 100er-Liste, die Kuntz im Januar an die NADA melden musste, doch der Kandidat für die Alterspräsidentenrolle des Olympiateams, die jetzt Max Kruse gewohnt überragend übernommen hat, durfte dann ja doch mit zur EM. Kuntz wurde hier also Opfer von Joachim Löws Umdenken.

Kuntz wurde aber natürlich auch und vor allem Opfer des immer dichteren internationalen Spielplans, der kaum noch Raum für Pausen lässt. Was sich in diesem Corona-Jahr noch verschärft hat.

Hauptproblem sind UEFA und FIFA

Viele Spieler sind schon jetzt am Maximum angelangt. U21-Europameister Ridle Baku etwa hätte nach einer Saison, in der er für den VfL Wolfsburg immer auf dem Platz stand, nebenbei für die A-Nationalmannschaft debütierte und die U21 zum EM-Titel führte, praktisch ohne Pause auch noch zum Olympiaturnier reisen müssen. Nur, um dann nach Saisonbeginn zu einem der Gesichter des neuen DFB-Teams unter Hansi Flick werden zu sollen: Dass VfL-Sportchef Marcel Schäfer da kurz den Stecker gezogen hat, hilft dem Spieler am Ende wahrscheinlich noch mehr als dem Klub.

Solange die UEFA nicht ihre in allen Beziehungen unsinnige Nations League abschafft, solange der internationale Spielkalender nicht entschärft wird, ergibt eine Abstellungspflicht für Olympia, wie sie es etwa in Spanien durch ein nationales Sportgesetz gibt, keinen Sinn. Im Gegenteil: Angesichts der Umstände wäre sie sogar Wahnsinn. Zumal es ja nicht besser werden wird. Bei der UEFA gibt es offenbar Überlegungen, die EM von jetzt schon reichlich vielen 24 auf 32 Teams weiter aufzublähen. Die FIFA überlegt, die WM alle zwei Jahre durchzuführen.

Und so lassen sich im Grunde für die allermeisten Absagen valide und nachvollziehbare Argumente finden. Etwa für die kurzfristige Absage des bei der U21-EM überragenden Niklas Dorsch. Er sprach ja selbst von einer "Zwickmühle". Einerseits wäre er gerne bei Olympia dabei gewesen, andererseits ist er gerade zum FC Augsburg gewechselt, der schon zwei Spieler abgestellt hatte und für den es wie immer zunächst darum gehen wird, den Abstieg zu verhindern.

Wenn der FCA ihm die Reise nach Tokio verweigert, ist das schade für Kuntz, für das Team und für den Spieler. Aber ein Armutszeugnis ist es nicht. So toll die olympische Idee grundsätzlich ist: Man kann nicht alles haben.