"Ich will fast denjenigen danken, die mich 'Nigger', 'Idiot' und 'Sissy Boy' genannt haben. Denjenigen, die mich verprügelt und mir das Geld fürs Mittagessen geklaut haben. Meinem Vater, der mich mit seinem Gürtel so lange geschlagen hat, bis ich einen Sprung gemacht habe, vor dem ich eigentlich zu viel Angst hatte. Und dem Mann, der mich mit vorgehaltenem Messer vergewaltigt hat und mit dem ich trotzdem danach noch sechs Jahre lang zusammen war. Sie alle haben mir geholfen, der Mann zu werden, der ich heute bin."
Die Worte, mit denen Greg Louganis dieser Tage einen Blog-Beitrag in der Internet-Zeitung "Huffpost Gay Voices" eröffnet hat, sorgen für ein flaues Gefühl im Magen.
Sie deuten die Geschichte eines Mannes mit einer tragischen Jugend an. Wegen seiner schwedisch-samoanischen Herkunft verachtet, wegen eines Sprachfehlers gehänselt, wegen seiner Legasthenie verspottet, wegen seiner Homosexualität bis ins Innerste eine verwirrte Persönlichkeit.
Erster Selbstmordversuch mit zwölf Jahren
Mit zwölf Jahren versuchte Louganis zum ersten Mal, sich das Leben zu nehmen, weitere Selbstmordversuche folgten. Aber Louganis lebt heute noch, und zwar nicht mehr als Außenseiter, er lebt als einer der größten Sporthelden der US-Geschichte.
So lautet der Titel seines Blogbeitrags dann auch: "Die härteste Sissy der Welt: Der Moment, als ich über die, die mich tyrannisiert haben, triumphierte."
Und so geht diese Geschichte: Gregory Efthimios Louganis wurde am 29. Januar 1960 als Sohn eines schwedisch-samoanischen Teenager-Paares in Kalifornien geboren und im Alter von acht Monaten zur Adoption freigegeben.
Boykott 1980 kostet Louganis mögliche Goldmedaillen
Seine von Krankheiten, Allergien und dem von ihm selbst beschriebenem sozialen Martyrium gezeichnete Jugend kannte nur einen echten Lichtblick: Das Wasserspringen.1976 war er zum ersten Mal bei den Olympischen Spielen am Start. In Montreal holte er mit gerade mal 16 Jahren die Silbermedaille vom 10-Meter-Turm. Schon damals war klar, dass er in den folgenden Jahren der Mann sein würde, den es zu schlagen gilt.
1980 war er es nicht. Der US-Boykott der Spiele in Moskau kostete Louganis zwei sichere Goldmedaillen. Er war sowohl vom Turm als auch vom 3-Meter-Brett haushoher Favorit.
Zwiesprache mit einem Teddybär
1984 war es dann aber soweit. Beim Heimspiel in Los Angeles zerstörte er den Rest des Starterfeldes. Vom Brett holte er mit mehr als 100 Punkten Vorsprung auf den Zweiten Gold, vom Turm erzielte er die höchste Gesamtpunktzahl in der Geschichte des Sports.
Vor seinem entscheidenden Sprung vom Turm suchte Louganis übrigens zur Beruhigung das Gespräch mit seinem engsten Vertrauten Gar - einem Teddybär. So außergewöhnlich er sportlich war, so außergewöhnlich war Louganis nach wie vor auch menschlich.
"Er war normalerweise sehr introvertiert und im Inneren durcheinander. Und obwohl ich beobachten konnte, wie er zu einer sehr entspannten, selbstbewussten und angenehmen Person herangewachsen ist, die gut mit den Medien umgehen und vor großen Menschenmengen sprechen konnte, ist diese innerliche Verwirrung immer geblieben", beschrieb sein Coach Ron O'Brien seinen Schützling.
HIV-Diagnose vor Olympia 1988
In den USA war Louganis nach seinem Doppelgold von L.A. ein Nationalheld. Bis 1987 verlor er keinen einzigen Wettkampf mehr und auch vor Olympia 1988 war er trotz wachsender Konkurrenz aus China wieder der große Favorit.
Bis sechs Monate vor den Spielen. Denn zu diesem Zeitpunkt wurde Louganis positiv auf HIV getestet. Er hatte sich das Virus in der in seinem einleitenden Zitat beschriebenen verhängnisvollen Beziehung mit seinem Manager Jim Babbitt zugezogen. Babbitt starb 1990 an Aids.
Louganis verschweigt Infizierung
Louganis wurde von seinem Arzt und Cousin überredet, seine sportliche Karriere nicht an den Nagel zu hängen. Um nicht aus dem Olympia-Kader für Seoul gestrichen zu werden, beschloss Louganis zudem, seine HIV-Infizierung geheim zu halten.
Was hätte schon passieren sollen? Louganis hatte in seinem Leben um die 200.000 Sprünge absolviert, ohne sich ein einziges Mal dabei zu verletzen. "Wir waren der Meinung, dass die Wahrscheinlichkeit, das Virus bei den Spielen zu übertragen, verschwindend gering war. Wie oft zog sich schon ein Springer eine blutende Wunde zu? Ganz zu schweigen von Greg Louganis", erinnert sich O'Brien.
Gold trotz Platzwunde und Gehirnerschütterung
Die Rechnung ging auf - bis zum neunten Sprung der Qualifikationen vom 3-Meter-Brett. Louganis sprang zum zweieinhalbfachen Auerbach-Salto zu gerade vom Brett ab und knallte bei der letzten Rückwärtsdrehung mit dem Hinterkopf mit voller Wucht aufs Brett.
Ein Raunen ging durch die Zuschauerränge, immerhin hätte sich Louganis dabei schwer verletzen können. Er tauchte aber direkt wieder auf und kam aus dem Wasser. "Ich glaube, am meisten verletzt war mein Stolz", sagt er Jahre später.
Körperlich trug er eine Platzwunde und eine leichte Gehirnerschütterung davon. Trotzdem gab er aber nicht auf, ließ sich die Wunde versorgen und stand 22 Minuten später wieder auf dem Brett. Er schaffte trotz des Schocks und des brummenden Schädels die Qualifikation für den Endkampf und gewann dort einen Tag später seine dritte Goldmedaille.
Auch vom Turm reichte es zur Titelverteidigung, allerdings nicht souverän, sondern in einem dramatischen Finale im letzten Sprung gegen den erst 14-jährigen Chinesen Xiong Ni. Ni hatte einen exzellenten Sprung vorgelegt und war fast uneinholbar vorne. Nur ein absolut perfekter Sprung konnte Louganis noch retten. Und der gelang ihm. Am Ende sicherte ihm ein Vorsprung von lächerlichen 1,14 Punkten die vierte Goldmedaille.
Louganis outet sich erst 1995
Ein ganz anderes Drama hatte sich in besagten 22 Minuten nach dem Unfall vom Dreier ereignet. Louganis ließ sich seine Platzwunde am Kopf nämlich von US-Teamarzt Dr. James Puffer versorgen, ohne ihm von seiner HIV-Infizierung zu erzählen.
"Ich war wie betäubt. Mir ging nur durch den Kopf: ‚Was ist meine Verantwortung? Muss ich etwas sagen?' Es war so ein wohl gehütetes Geheimnis", erinnerte sich Louganis. Sein Schweigen wäre okay gewesen, wenn der Teamarzt in der Kürze der Zeit nicht auf das Anziehen von Schutzhandschuhen verzichtet hätte. So hätte aber alles tragisch enden können.
Erst 1995, nachdem sich Louganis öffentlich als homosexuell und HIV-positiv geoutet hatte, ließ sich Puffer ebenfalls auf HIV testen. Das Ergebnis war negativ.
Der Aufschrei nach Louganis' Geständnis war trotzdem groß. Der Chef des Organisationskomitees der Spiele in Seoul bezeichnete die Teilnahme von Louganis im Nachhinein als "bedauerlich" und "moralisch falsch". Viele seiner Sponsoren wendeten sich von ihm ab. Aber in der breiten Bevölkerung erfuhr er auch viel Unterstützung.
Louganis: "Habe gelernt, meine Einzigartigkeit zu feiern"
Heute lebt Louganis in Malibu und widmet sich mit großer Begeisterung Hunden. Zudem kümmert er sich mit Blick auf Olympia in London um den US-Nachwuchs im Wasserspringen.
Vielleicht ist er im tiefsten Inneren immer noch manchmal verwirrt, aber nach außen scheint er seinen Frieden gefunden zu haben. "Für den Rest meines Lebens geht es darum, keine Geheimnisse mehr zu haben und mein Leben offen und ehrlich zu führen", sagte Louganis nach seinem erlösenden Outing.
Seinen Blog-Beitrag in den "Huffpost Gay Voices" beendete er unter anderem mit folgender Erkenntnis: "In jedem von uns steckt ein Held und eine Einzigartigkeit, die man vielleicht nicht auf Anhieb sieht. Ich habe gelernt, meine Einzigartigkeit zu feiern."