SPOX: Hallo Mr. Christie! Olympia im eigenen Land, wie gefällt es Ihnen?
Linford Christie: Wie könnte es irgendeinem nicht gefallen? Die Briten mögen es auf jeden Fall, aber ich glaube, auch jeder andere hat Freude daran, wie wir uns hier präsentieren. Ich auch. Die Stimmung in den Stadien ist nicht zu toppen, wir unterstützen jeden, darin sind wir die Besten und sollten eine Goldmedaille bekommen.
SPOX: Haben Sie in Ihrer Karriere schon einmal eine bessere Stimmung erlebt?
Christie: Nein, das ist definitiv die beste Stimmung, die ich je erlebt habe. In Barcelona 1992 war es toll, in Stuttgart bei der WM 1993 war es toll, in Sydney 2000 war es bei Cathy Freeman überragend. Aber mir hat erst vor kurzem jemand gesagt: Das hier in London ist dreimal so gut wie bei Cathy Freeman. Sie müssen sich nur daran erinnern, was los war, als Usain Bolt zu seinem 100-Meter-Finale angetreten ist.
SPOX: Bolt ist ein gutes Stichwort. Bei seinem Finale am Sonntag brach das Stadion vor Begeisterung fast auseinander. Warum sind die 100 Meter der Männer seit Jahrzehnten der Höhepunkt Olympischer Spiele? Nach nicht einmal zehn Sekunden ist doch alles vorbei!
Christie: Genau das ist der Grund! Es geht um Geschwindigkeit, und die übt auf uns alle einen Reiz aus. Wir mögen schließlich auch schnelle Autos. Du machst bei den 100 Metern einen kleinen Fehler und alles ist aus. Außerdem bieten wir mehr Show als alle anderen. Wir posen vor den Rennen, sind die lautesten, die buntesten. Wir handeln nach dem Motto: In your face! Man kann uns Sprinter vielleicht ein bisschen mit Schwergewichts-Boxern vergleichen. Da liegt eine Menge Testosteron in der Luft. Wir lieben die Aufmerksamkeit.
SPOX: Wie bewerten Sie das Phänomen Usain Bolt?
Christie: Er ist schnell wie der Teufel und auf dem besten Weg, der Größte aller Zeiten zu werden. Vor diesen Spielen habe ich immer gesagt, dass Carl Lewis der Größte ist. Immerhin hat er neun Medaillen gewonnen. Aber wenn Usain hier auch noch die 200 Meter und die Staffel gewinnt, dann ist er auf einer Stufe mit Lewis. Dann ist er nahe dran, der Größte aller Zeiten zu sein.
SPOX: Wie macht er das?
Christie: Ich denke, er ist geboren, um ein Sprinter zu sein. Wenn du nicht dafür geschaffen bist, schnell zu laufen, dann kannst du noch so hart trainieren, die wirst nie schnell genug laufen können. Und Usain ist von allen der Talentierteste und er ist relaxt. Das macht eine Menge aus.
SPOX: Am Sonntag hat Bolt in 9,63 Sekunden gewonnen. Es war mit sieben Sprintern unter zehn Sekunden das schnellste Rennen aller Zeiten. War es auch das beste?
Christie: Es war das schnellste Rennen, und da wir uns nun einmal über Zeiten definieren, muss es auch das beste gewesen sein. Da spielt es keine Rolle, ob es irgendwann irgendwo vielleicht einmal dramatischer war oder nicht. Sieben Sprinter unter zehn Sekunden! Und Asafa Powell nur drüber, weil er sich verletzt hatte. Das muss das größte Rennen aller Zeiten sein!
SPOX: Bolts Weltrekord steht sogar bei 9,58 Sekunden. Hätten Sie sich zu Ihrer Zeit träumen lassen, dass man die 100 Meter jemals so schnell würde laufen können? Ihre Bestzeit liegt bei 9,87 Sekunden, damit wären Sie in London gerade so Fünfter geworden.
Christie: Die Frage wurde mir zu meiner aktiven Zeit in der Tat gestellt und ich habe gesagt: Ich kann mir vorstellen, dass irgendwann jemand einmal 9,5 Sekunden läuft. Nachdem ich aber gesehen hatte, wie Bolt seine 9,58 Sekunden gelaufen ist, dachte ich, dass auch 9,4 Sekunden möglich sind. Heute bin ich der Meinung, dass man sich als Sprinter kein Limit setzen sollte. Man sollte immer alles tun, um ein Rennen zu gewinnen. Und wenn man dafür 9,3 Sekunden laufen muss, soll man daran glauben, dass man das schaffen kann. Es gibt kein Limit.
SPOX: Wären Sie gerne mal gegen Bolt gelaufen?
Christie: Die Frage ist eher, wäre er gerne gegen mich gelaufen? (lacht) Ich hatte meine Zeit, aber sie ist vorbei. Ich frage mich nicht, wie ich wohl gegen ihn ausgesehen hätte. Jetzt ist die Zeit des Usain Bolt. Die soll er genießen.
SPOX: Welche Sprintnation ist die bessere, Jamaika oder die USA?
Christie: (lacht) Was soll ich als gebürtiger Jamaikaner dazu sagen? Natürlich sind wir die Besten! Die US-Boys haben lange das Geschehen dominiert, jetzt sind wir dran. Und zwar nicht nur bei den Männern sondern auch bei den Frauen. Wir tun den Amerikanern jetzt das an, was sie uns lange Zeit angetan haben - und wir lieben es!
SPOX: Neben Bolt gibt es da ja auch noch Yohan Blake. Kann es im jamaikanischen Team einen Machtwechsel geben?
Christie: Yohan ist sehr talentiert, aber Usain ist auch noch recht jung. Mit seinen 25 Jahren kann er theoretisch noch zweimal bei Olympia starten. Blake ist nur drei Jahre jünger und beide könnten noch sehr lange gegeneinander laufen. Blake hat einfach Pech, in die Bolt-Ära hinein geboren zu sein.
SPOX: Nach den 100 Metern hat Bolt gesagt, dass eigentlich die 200 Meter seine Strecke sind. Sehen wir dort einen Weltrekord?
Christie: Ich denke, wenn sowohl Bolt als auch Blake das Beste aus sich und dem Rennen herausholen, dann wird es einen Weltrekord geben. Aber ich glaube ehrlich gesagt nicht daran. Bolt wird auch die 200 Meter gewinnen, weil er nach seinem ersten Gold nun noch relaxter und selbstbewusster ist. Vor den 100 Metern war er meiner Meinung nach doch ein wenig angespannt.
SPOX: Sehen Sie außer Blake jemanden, der Bolt schlagen kann?
Christie: Das Problem ist, dass keiner daran glaubt, ihn schlagen zu können. Wann immer es für Powell, Gay oder Gatlin gegen Bolt geht, laufen sie nur um den zweiten Platz. Jetzt, da Blake da ist, sogar nur noch um den dritten. Sie müssen sich im Winter alle mal schütteln und einfach so hart trainieren, dass sie selbst eine 9,5 oder sogar 9,4 laufen können. Nur so können sie Bolt besiegen.
SPOX: Wer gewinnt die Prestige-Staffel über 4 x 100 Meter, Jamaika oder die USA?
Christie: Powell ist verletzt, das könnte es spannend machen. Aber wenn er noch fit werden sollte, wird Jamaika gewinnen, weil sie einfach vier gleichermaßen schnelle Leute haben. Schnellere als die USA.
SPOX: Kommen wir noch einmal von ihren jamaikanischen Landsleuten zu Ihren britischen: Die sind im Medaillenspiegel der Leichtahtletik auch noch ganz vorne mit dabei. Nur die USA und Russland sind momentan besser.
Christie: Wir hatten schon erwartet, einige Medaillen in der Leichtathletik zu holen, aber wir haben auch einige gewonnen, mit denen wir nicht gerechnet haben. Zu Hause sticheln dich die Fans immer an, dich noch das entscheidende kleine bisschen mehr reinzuhängen als normal. Und wenn andere in deinem Team anfangen, Medaillen zu holen, willst du nicht dahinter zurückbleiben.
SPOX: Den Briten gelingt es offensichtlich, das Heimspiel als Motivation und nicht als zusätzlichen Druck zu empfinden. Das ist eine psychische Stärke, die man im deutschen Team manchmal vermisst.
Christie: Die Trainingsplanung für dieses Großereignis läuft ja schon seit vier, fünf Jahren. In den letzten Wochen und Monaten ging es nur noch um den Feinschliff. Uns war aber klar, dass der Druck auf dem Team enorm ist, und deshalb sind wir in der Endphase mit allen Leichtathleten für 15 Tage nach Portugal gefahren, um diesem ganzen Druck zu entkommen. Das hat sich offensichtlich ausgezahlt.
SPOX: Wir haben vorhin schon über das beste Rennen aller Zeiten gesprochen. Welches war denn Ihr bestes Rennen? Der Olympiasieg in Barcelona? Der WM-Titel in Stuttgart?
Christie: Auf jeden Fall mein WM-Lauf 1993 in Stuttgart, die 9,87 Sekunden. Der Olympiasieg war toll, aber er war eher eine Belohung für meinen Coach und die jahrelange harte Arbeit. Der WM-Titel ein Jahr später war nur für mich.
SPOX: Die persönliche Bestzeit hat also einen höheren Stellenwert als olympisches Gold?
Christie: Nein, das kann man so auch wieder nicht sagen. Die Medaillen sind sehr wichtig, weil sie für immer sind. Deine Bestzeit wird jedoch immer irgendwann von jemand anderem unterboten werden. Von daher war es großartig, all diese Medaillen zu gewinnen.
Olympia 2012: Alle Ergebnisse im Überblick
Während der Olympischen Spiele intensiviert CNN International die Sportberichterstattung: Die Sendung World Sport wird mehrmals täglich live aus London ausgestrahlt. Dort hat CNN speziell für die Olympischen Spiele ein Studio mit Blick auf das Stadion und den Olympic Park eingerichtet. Der Leichtathlet und Ex-Olympiasieger Linford Christie ist während der Olympischen Spiele Sonderkorrespondent für CNN. Christie war der erste, der gleichzeitig den Olympischen Titel, den Weltmeistertitel, den Europameistertitel und den Commonwealth-Titel inne hatte. Neben den Moderatoren Amanda Davies, Alex Thomas und Becky Anderson bereichert er die CNN Berichterstattung mit seiner Expertise.