Olympiaheld, Trikot-Zerreißer, Querdenker. Robert Harting ist einer von Deutschlands größten Sportlern und spannendsten Persönlichkeiten. SPOX-Chefredakteur Florian Regelmann traf den 31-Jährigen im Sportforum Hohenschönhausen in Berlin zum Interview. Herausgekommen ist ein intensives Gespräch über die gesellschaftlichen Probleme in Deutschland, einen beeindruckenden Karriereweg und das Ziel vor der entscheidenden Schlacht in Rio.
SPOX: Herr Harting, wir sitzen hier zusammen im Diskus-Ring Ihrer Trainingsstätte in Berlin. Hier müssen Sie sich quälen. Hier sind die großen Erfolge noch ganz weit weg. Was sind die Bilder, die Sie im Kopf haben, um sich zu motivieren?
Robert Harting: Es gibt natürlich ein großes Ziel, das ich im Kopf habe, aber um es leichter zu machen, motiviere ich mich mit kleineren Etappenzielen. Mit der Summe aus den kleinen Zielen versuche ich, ein großes daraus werden zu lassen. Vorausgesetzt, dass der Körper mitmacht, ist es so am besten planbar. Es ist arbeitsintensiv, aber die Frage der Motivation stellt man sich gar nicht. Es ist die gottverdammte Pflicht, Schmerzen auszuhalten, zu kämpfen und sich durchzubeißen. Das ist ein Grundeinstellungskriterium. Wichtig ist für mich aktuell, dass ich eigentlich ständig in Trainingslagern bin, weil ich zuhause keine Leistung mehr aufbauen kann. Da ist der Alltag zu präsent, der Schreibtisch zu nahe, die Gedanken zu frei. Um besser zu werden, muss ich ins Gewächshaus. Essen, trainieren, essen, schlafen. Und dann wieder von vorne, bis die Pflanze wächst.
SPOX: Dennoch gibt es ja Momente, wo es einem schwer fällt. Gerade wenn man nach einer Verletzung ein Comeback starten muss und es Rückschläge gibt, wie es bei Ihnen jetzt auch der Fall war.
Harting: Das ist völlig richtig. Es ist nicht immer so einfach, aber das ist ja auch nur menschlich. Wenn es eine schwierige Situation gibt, versuche ich, diese im sozialen Umfeld auszudiskutieren, um durch die Gespräche für mich einen Reinwert zu erhalten. Um dann wieder weiterarbeiten zu können - das ist eine hochpsychologische Angelegenheit. Du hast immer die Chance, die Dinge vom Negativen ins Positive zu drehen. Es ist veränderbar. Aber die Grundmotivation muss da sein. Wenn die nicht mehr da ist - das habe ich bei anderen Sportlern schon gesehen -, dann geht es nicht mehr und wird zur reinen Qual.
SPOX: Sie haben Ihr Umfeld angesprochen. Ihre Freundin Julia nimmt da sicher eine wichtige Rolle ein. Wie sehr hat Sie Ihnen geholfen?
Harting: Ich kann Ihnen eine kleine Episode erzählen. Als ich jetzt bei der letzten Verletzung einen Tiefpunkt hatte und mich fragte, ob ich das alles noch machen will, saßen wir zusammen am Tisch. Meine Freundin meinte dann: Okay, dann rufen wir jetzt den Trainer an und sagen ihm, dass du mit dem Leistungssport aufhören willst. Als sie das sagte, habe ich gemerkt: Nein, diese Vorstellung gefällt mir noch gar nicht so richtig. Es war eine Art Scheideweg, an dem ich mich ein zweites Mal für den Leistungssport entschieden habe. Du bist über 30 Jahre alt und musst dich ganz bewusst ein zweites Mal für eine Karriere entscheiden - das war komisch. Aber es war auch nötig. In dieser zweiten Karriere habe ich jetzt ganz andere Kriterien als früher. Früher war es viel mit Vitalität verbunden und null mit Erfahrung, jetzt haben sich die Variablen gedreht. Es ist eigentlich kaum noch Vitalität vorhanden. Alles tut nur noch weh, du jammerst nur noch rum und musst aber aufhören, dich die ganze Zeit selbst anzujammern, denn dafür ist der Erfahrungswert ein ganz anderer. Ich kann jetzt mit weniger viel mehr anfangen. Die Strategie ist eine ganz andere geworden. Ich kann nicht mehr hundert Schlachten führen und die zahlreichen Wunden pflegen. Es gibt nur noch eine entscheidende Schlacht bei den Olympischen Spielen, da muss es dafür dann umso mehr bluten.
SPOX: Ich will nochmal ganz an den Anfang Ihrer ersten Karriere in Ihre Kindheit zurückgehen. Ihre Eltern waren beide Sportler, der Weg war also ein bisschen vorgezeichnet. Wie waren als kleiner Steppke die ersten Schritte Richtung Leistungssport?
Harting: Wenn ich ganz ehrlich bin, dann hat es mich schon ganz früh geprägt, dass ich mit sozialen Enttäuschungen nicht klargekommen bin. Ich habe zuerst zwei Jahre Fußball im Verein gespielt, komischerweise im offensiven Bereich, aber das ging ganz gut. Ich erinnere mich an verregnete Tage, an denen kein Schwein ein Tor geschossen hat außer mir. So richtig verstanden habe ich das auch nicht. Irgendwann bin ich eine Mannschaft nach oben gekommen. Wir hatten das erste Punktspiel und ich wollte eben spielen. Also bin ich zum Trainer gegangen und habe ihn gefragt, ob er mich jetzt mal einwechselt. Ich bekam noch zugeflüstert, dass ich das nicht fragen dürfe, das habe ich überhaupt nicht kapiert. Der Typ hatte mich drei Wochen lang nicht eines Blickes gewürdigt. Ich habe es nicht verstanden und bin einfach gegangen.
SPOX: Zum Handball.
Harting: Genau, dort hatte ich auch sofort größere Erfolge. Es hat sich erst gedreht, als ein neuer Trainer kam und er plötzlich Mitgliedsbeiträge verlangt hat, die für uns daheim nicht aufzubringen waren. Da hat er mich vor der Mannschaft rund gemacht, warum ich das nicht bezahle. Ab dem Moment bin ich nicht mehr hingegangen. Es war wieder etwas, das ich nicht verstehen konnte. Also war Handball Geschichte und ich bin zur Leichtathletik gegangen.
SPOX: Keine ganz schlechte Entscheidung im Nachhinein. Wie sind Sie für sich dann die Leichtathletik-Karriere angegangen?
Harting: Als ich mich für die Sportschule beworben habe, bin ich als elfter Junge gerade noch so reingerutscht. Ich weiß noch, dass ich mir nur dachte: Es ist eigentlich völlig egal, was du für einen Sport machst. Du musst schauen, was notwendig ist, um der Beste zu sein. Darauf kommt es an. In der Leichtathletik war das der Olympiasieger. Also sagte ich mir: Okay, werde ich Olympiasieger. Ohne überheblich klingen zu wollen, glaube ich, dass ich auch Nationalspieler im Fußball hätte werden können und da das nötige Zeug gehabt hätte, um mich durchzubeißen. Es ging nicht so sehr um die Disziplin. Es ging darum, dass mich die soziale Schwäche, die ich in frühester Kindheit erlebt habe, intrinsisch motiviert hat. Ich wollte es allen Leuten beweisen, die mir nie etwas zugetraut haben und für die ich nicht interessant war, weil ich nicht ihrer Schicht angehörte. Ich wollte es den Leuten zeigen, egal in welcher Sportart auch immer.
SPOX: Wenn man die Kinder heute sieht und den ja eher sinkenden Stellenwert des Sports, wie besorgt sind Sie, dass da viel in eine ganz falsche Richtung läuft?
Harting: Ich glaube, wir haben immer noch nicht kapiert, wie viel dort falsch läuft. Klar, den Bäumen geht es gut, weil keine Jungs mehr raufklettern. Super. Ehrlich gesagt ist es die Dummheit der Menschen, die dafür sorgt, dass es immer erst noch schlimmer werden muss, ehe endlich etwas geändert wird. Das wird jetzt eine Generation dauern. Ich muss mir nur anschauen, welches Essen in den Schulkantinen serviert wird. Das regt mich extrem auf. Meine Freundin sagt, dass ich in die Politik gehen muss, wenn ich etwas verändern will. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nie rosa Pudding mit Sahne hatte. Bei mir kam die Quarkspeise noch nicht aus der Maschine, die hat Mutti damals noch selbst zusammengerührt und hingestellt. Jetzt gibt es in der Sportschule solch ein Essen, das ist schon alles krass. Eigentlich funktioniert in diesem Land doch sehr, sehr wenig. Ich stelle Deutschland die Frage, wo denn hier die Vision ist? Wo soll es denn hingehen in den nächsten 30 Jahren? Aber da kommt ja nichts. Schade.
SPOX: Zurück zu Ihnen: Sie haben alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Olympiasieger, mehrfacher Weltmeister und Europameister. Welcher Erfolg war für Sie der wichtigste?
Harting: Der Olympiasieg war schon der fundamental wichtigste. Der Olympiasieg ist ein internationales Prädikat. Hier geht es um den Urgeist des Sports, er hat eine Einmaligkeit an sich. Es gibt ja auch keinen Vize-Olympiasieger, allein die Wortschöpfung zeigt, dass wir hier über etwas Einzigartiges reden. Er ist auch die einzige Währung, die überall auf der Erde funktioniert. Mehr können wir nicht erreichen. Er bringt dir mehr Reputation als alle anderen Siege.
SPOX: Reputation ja, Geld eher nein.
Harting: Wohl wahr. (lacht) Wir müssen ja auch mal mit dem Gedanken aufräumen, dass ich für meine eigentliche Leistung bezahlt werde. Es ist vielmehr so, dass der Olympiasieg, der aus massivster Aufopferung entsteht, erst der Beginn ist, dass ich mit Leuten reden kann, für die ich dann noch Leistung bringen muss, um dann am Ende Geld zu verdienen. Alles, was vorher passiert, ist quasi eine Risikoinvestition. Aber so ist eben der Markt. Die Fußballer können ja nichts dafür, dass sie so viel verdienen.
SPOX: Der Höhepunkt Ihrer zweiten Karriere soll natürlich der Olympiasieg in Rio werden im August. Wie lange soll die zweite Karriere überhaupt dauern?
Harting: Sie wird auf jeden Fall nicht so lange dauern wie die erste. Ich habe mich mit dem Karriereende auseinandergesetzt und mein Plan ist es, 2018 mit dem Höhepunkt Heim-EM in Berlin abzutreten. Ich will ein schönes Ende haben, bei dem dann auch die Freude am Sport im Vordergrund steht. Das wäre ja jetzt aufgrund der ganzen Querelen im Verband gar nicht möglich. Jetzt aufzuhören, wäre uncool. Also mache ich noch ein bisschen weiter. (lacht)
SPOX: Sie sprechen die IAAF an. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich unter der Regie von Präsident Sebastian Coe wirklich etwas verändert?
Harting: Was jetzt passiert, dass die Nationen, die sich nicht an die Richtlinien halten, ausgeschlossen werden, ist ja ein Gedanke, den wir in Deutschland schon vor fünf oder sechs Jahren hatten. Die Leichtathletik ist in einer interessanten Position in der Hinsicht, dass wir ein weltumspannendes Mitgliedsnetzwerk haben. Wenn der Präsident von einem Kontinent kommt, der überwiegend aus Entwicklungsländern besteht, kannst du keine europäischen Werte erwarten. Das ist völlig klar. In diesen Ländern gilt noch die Urform des Marktes, der Tausch. Gib mir drei Kühe, bekommst du drei Palmen. Wenn Leute aus solch einer Kultur dann hohe Ämter bekleiden, braucht man sich nicht zu wundern, wie die Dinge laufen. Mit Sebastian Coe ist jetzt eine westliche Instanz im Amt, insofern sollte sich eigentlich etwas ändern. Aber ob er der richtige Mann ist? Ich habe sehr, sehr wenig Vertrauen in solch große Institutionen. Ich hoffe es einfach.
SPOX: Meldonium ist durch den Fall Maria Sharapova in aller Munde. Glauben Sie, dass es den Athleten bewusst genug ist, wenn es Veränderungen auf der Liste der verbotenen Substanzen gibt?
Harting: Ganz ehrlich, wenn ich eine E-Mail mit einem Anhang von 25 Seiten bekomme, dann lese ich es nicht, weil das mein tägliches Leben als Sportler nicht zulässt. Normalerweise sollte mein Job das zwar verpflichtend zulassen, aber dann müssten wir jetzt wieder anfangen zu diskutieren, dass es nicht so professionell zugeht, wie viele denken. Letzten Endes ist es alles Amateur-Sport, der an Grenzen stößt. Im Fall einer hochbezahlten Athletin wie Maria Sharapova hätte man ja einfach jemanden hinsetzen können für 500 Euro die Stunde, der die 25 Seiten durchschaut. Das wird ja irgendwie drin sein. Aus Sportler-Sicht wäre die cleverste Variante, gar nichts zu nehmen, aber so riskierst du auch deine Gesundheit und musst akzeptieren, dass der Schnupfen bei dir länger dauert als bei deinem Arbeitskollegen im Büro - das ist auch nicht gerade toll. Im Fall Sharapova verstehe ich nicht, warum es notwendig ist, weil es normal ein Mittel für schwerkranke Menschen zu sein scheint. Menschen haben durch positive Nebenwirkungen von Medikamenten des Öfteren profitiert - siehe Viagra. Es ist der Graubereich, es ist Tuning. Und solange es kein Doping war, ist es auch kein Doping. Aber es ist ja gut, dass entdeckt wurde, dass diese Tuning-Methode ein massiver Eingriff in die körperliche Leistungsfähigkeit ist und entsprechend gehandelt wurde.
SPOX: Aber nochmal zurück zu den Mails, die man als Athlet bekommt. Das heißt, Sie bekommen die Mails, aber wirklich gelesen werden sie doch nicht? Das verstehe ich nicht.
Harting: Na ja, ich kann Englisch. Ich könnte es lesen, aber wie viele Athleten verstehen Englisch? Wir können wieder Afrika als Beispiel nehmen, wie viele Menschen sprechen dort gut Englisch? Man muss vorsichtig sein. Es können einfach leicht Fehler passieren. Im Fall Sharapova und in allen anderen Meldonium-Fällen ist es ja offensichtlich, dass damit gearbeitet wurde. Zum Glück hat es in Deutschland keine Zulassung erhalten, vielleicht würden wir sonst mehr Fälle haben. Wir sollten der Gesundheitsbehörde danken, die die Kontrolle darüber hat und dem Zoll auf die Finger haut, für die Fälle der ausländischen Athleten in deutschen Mannschaften, die es rechtswidrig eingeführt haben.
SPOX: Ob Russland in Rio dabei sein wird, ist noch völlig offen. Wenn Sie auf Ihre Disziplin schauen: Denken Sie, dass in Rio Chancengleichheit herrschen wird?
Harting: Das war ja noch nie der Fall, warum sollte es jetzt auf einmal so sein? So ist es nun mal. Du musst die Situation annehmen und akzeptieren, dass es in anderen Ländern andere Sitten gibt. Du musst akzeptieren, dass in anderen Ländern die Dinge anders betrieben werden. Damit muss man sich auseinandersetzen. Olympia ist die Mutter aller Konfliktschulen.
SPOX: Ein olympischer Moment, auf den wir in Rio warten, ist das Zerreißen des Trikots nach Ihrem Triumph. Es ist Ihr Markenzeichen geworden. Beschreiben Sie mal das Gefühl, dass Sie dabei haben?
Harting: Im Endeffekt ist es einfach Adrenalin, das raus muss. Man muss wissen, dass Athleten bis zu diesem Moment geistig abartige Wiederstände überwunden haben. Der Körper tut jeden Tag weh, du fühlst dich unwohl, du musst unglaubliche Energie aufwenden. Wenn du dann am Ziel bist, löst das ganze Liter Adrenalinschübe aus, die Kontrolle behält da niemand. Die Kunst, sich innerhalb von Zwängen frei zu bewegen, wird zur Herausforderung und erst dann ist das Zerreißen des Trikots für mich eine Art Abwerfen dieser Rüstung des Zwanges, die ich das ganze Jahr mitgeschleppt habe, physisch und psychisch. Auf diesen Moment freue ich mich auch ehrlich gesagt schon wieder. Ich freue mich, darauf hinzuarbeiten, dass ich in den Genuss komme, es wieder machen zu können. Ich mache es aber nur, wenn ich gewinne. Um sich von allem entledigen zu können, muss ich Erster werden. Das ist das Problem dahinter.
SPOX: Machen Sie sich eigentlich in Zeiten des Terrors Gedanken über die Sicherheit in Rio?
Harting: Eigentlich nicht. An diesen Themen sieht man nur, was die Medien mit einem machen. Lange war es Zika, dann ist es wieder der Terror. Ich muss mich darauf konzentrieren, eine Leistung abzurufen, die goldmedaillenfähig ist. Wenn ich mich schon jetzt mit Problemen vor Ort beschäftige, komme ich nicht weit. In Peking wurden wir mit Bakterien so verrückt gemacht, die angeblich überall sind, dass ich im Bus nicht mehr die Stange angefasst und Panik bekommen habe, wo ich mich eigentlich festhalten soll. Das führt ja zu nichts.
SPOX: Sie sagen selbst immer wieder, dass man auf gut Deutsch manchmal durch die Scheiße gehen muss. Was waren für Sie die härtesten Momente?
Harting: Es gab vor allem zwei Momente, die ich nicht unter Kontrolle hatte. Das waren die Olympischen Spiele 2012 und das war das Comeback beim Istaf Indoor in diesem Jahr in Berlin. Da war Angst dabei. Es ist eklig, wenn du spürst, wie der ganze Körper durch den Druck hart wird. Ich merke es immer an den Füßen. Die Waden sind plötzlich dick, ich kann mit dem Fuß nicht mehr so abheben. Ich merke richtig, wie die psychische Anspannung dafür sorgt, dass es sich immer Stückchen für Stückchen alles mehr zusammenzieht. Wenn ich einen Film gucke und es geht voll ab, habe ich das manchmal auch. Eigentlich total affig. (lacht) Weil ich das Istaf Indoor gewonnen habe, sieht es am Ende nach Friede, Freude, Eierkuchen aus, aber man muss dazu sagen, dass es nicht besonders repräsentativ war. Es gibt viele Menschen, die außergewöhnliche Sachen leisten und sich durch enorm widrige Situationen durchbeißen müssen. Uns geht es nicht anders, wir kommen nur häufiger zu dem Punkt, an dem wir es machen müssen. Ich werde auf dem Weg nach Rio nicht oben mitwerfen können und mich mit Leuten messen müssen, die normal nicht in meinem Bereich gelegen haben. Das ist ein bisschen ärgerlich und frustrierend, aber da muss ich durch, weil ich die Wettkämpfe brauche.
SPOX: Nochmal Olympiasieger ist das klare Ziel, aber der Weltrekord von Jürgen Schult (74,08 Meter) ist völlige Utopie, oder?
Harting: Es gab eine Phase, in der ich darauf hintrainiert habe. Als ich dann die 70 Meter geworfen habe, war es aber vorbei. Jetzt nochmal vier Meter? Wie soll das denn gehen? Allein von der ballistischen Kurve her. Da kannst du nur auf die Unterstützung der Natur hoffen. Der Schult-Weltrekord ist ja auch durch Wind - und Doping, ganz klar - zustande gekommen. Wenn ich ohne Stoff 70 Meter werfe, habe ich die Athleten von früher eh alle im Sack. Es ist nur eine Frage der Natur, ob sie mir nochmal hilft oder nicht.
SPOX: Wir haben vorhin schon ein bisschen über Politik gesprochen. Wenn Sie die Macht hätten, einige Dinge im Sport zu ändern, was würden Sie sofort tun?
Harting: Ich würde erstmal fünf Millionen in die Hand nehmen, um die Marke Leistungssport wieder aufzupolieren. Die ist nämlich gänzlich vergessen worden. Unsere ganzen Tugenden wie Leidensfähigkeit oder Durchsetzungsvermögen, Werte, aus denen Leistung erst entstehen kann, sind irgendwie eklig geworden. Aus Perfektion ist Partizipation geworden. Aus "Der Held" ist "Die Mannschaft" geworden. In der Wissensgesellschaft, die wir heute haben, sind Leistungen von Einzelpersonen der Grund, warum Wissen überhaut entsteht. Die Marke Leistungssport muss wieder attraktiver gemacht werden. Das war ja auch die Idee hinter der Sportlotterie, leider hat sich das ein bisschen anders entwickelt und ich bin nach dem Rückzug als Initiator im Moment auf Abstand gegangen. Grundsätzlich ist es nach wie vor dringend erforderlich, dass im Sport mehr in private Hände gelegt wird. Der Sport braucht private Entscheider an der Spitze, die auch Konsequenzen erfahren. Im Funktionärswesen ist es ja überwiegend so, dass man eine miese Performance abliefern kann und es passiert nichts, es geht einfach so weiter. Junge aufstrebende Denker zerschellen regelrecht an den alten föderativen Strukturen. Wir schaffen es nur, wenn wir ganze Reihen austauschen. Denn in jedem Unternehmen würdest du für eine unter normalen Bedingungen erreichte 1-Prozent-Performance als Steuermann gefeuert werden. Es muss mehr Privatismus rein und wir müssen die öffentlichen Gelder grundsätzlich hinterfragen - und viel wichtiger, besser einsetzen. Fragen Sie doch mal den DOSB, wo das Geld versickert, das weiß nicht mal der Chef, das muss man sich mal reinziehen. Ich wollte nie Sportfunktionär werden, doch wenn ich die absolute Befugnis bekäme, würde ich es der Zukunft zu Liebe machen.
SPOX: Wenn wir beim DOSB sind, kommen wir auch ganz schnell zu den gescheiterten Olympia-Bewerbungen. Zeigt das ganze Desaster nicht auch, dass Deutschland vielleicht eine Fußballnation ist, aber definitiv keine Sportnation?
Harting: Eines ist für mich klar: Deutschland hält sich für den Nabel der Welt. Hallo, das sind wir aber nicht. Wenn wir die olympische Bewegung boykottieren, dann geht sie eben woanders hin. Woanders sind nämlich unsere moralischen Ebenen, die wir so hochtragen, nicht wichtig. In anderen Ländern werden Dinge anders geregelt. Mit dem Nein zu Olympia haben wir es uns doppelt versaut, weil die Bewegung jetzt woanders hingeht und wir eben nicht unsere ganzen schönen Werte transportieren können. Eigentlich dumm. Es war ein taktisch falsches Nein zu einem ganz schlechten Zeitpunkt, auch einfach nicht zu Ende gedacht. Zumal es natürlich auch ein Fall von Doppelmoral ist, wenn ich FIFA oder UEFA besser sehe als das IOC. Da belügt man sich ja selbst.
SPOXSPOX: Sind die Sportarten hinter dem Fußball aber teilweise selbst schuld, dass sie nicht vom Fleck kommen?
Harting: Absolut. Ich würde bei SPOX auch nicht anfangen, über andere Sachen zu berichten, weil die Akzeptanz bei den Menschen dafür gar nicht da ist. Die Leute können nicht neun Stunden arbeiten und sich dann noch in eine Sportart reinlesen. Sie verstehen es einfach nicht, weil die Vokabeln auch erstmal angelernt werden müssen. Nehmen wir das Beispiel Kino. Was wurde da herumgejammert wegen der Raubkopiererei. Dann gab es 3D-Filme und plötzlich war die Bude wieder voll. Das Kino war nicht das Problem, das Produkt war einfach schlecht. Dann wurde etwas geändert und die Leute kamen zurück. Manche Sportarten kapieren nicht, dass das Ehrenamt toll ist, aber damit nichts verändert wird. Wenn eine Sportart olympische Medaillen gewinnen will, dann muss eine große mittelständische Firma im Hintergrund stehen und im Vollbesitz der Rechte sein.
SPOX: Wechseln wir zum Abschluss noch von der Sport- in die Bundespolitik. Die Wahlergebnisse und die Stärke der AfD sind eines der großen Themen 2016. Was ist Ihre Meinung dazu?
Harting: Wie vorhin schon einmal angedeutet, Deutschland fehlt eine Vision. Die Veränderung der Parteilandschaft ist eine Konsequenz aus Fehlern, die gemacht wurden. Man kann ja nicht Nicht-Wähler dafür beschuldigen, dass die AfD so stark geworden und in Landtage eingezogen ist. Ich kann doch nicht von Menschen verlangen, das geringere Übel zu wählen, nur um die AfD zu verhindern. Ich zwinge sie, mich zu wählen, das geringere Übel. Wie selbstvernichtend ist das denn? Das ist wirklich ein Armutszeugnis. Ich denke, dass die Menschen nicht mehr gespürt haben, überhaupt etwas verändern zu können in diesem Land. Es ist sehr traurig. Es gibt ein paar coole Politiker, aber die sind zu gut und verstehen, dass sie keine Chance mehr haben und machtlos sind, wenn sie in eine höhere Position kommen. Klaus Wowereit war zum Beispiel jemand, den ich immer ganz cool fand.