Die verrückteste Szene der Spiele war das Vorspiel zum goldenen Happy End: Drama-Queen Anni Friesinger-Postma klatschte auf das Eis, rutschte auf dem Bauch der Ziellinie entgegen, ruderte verzweifelt mit den Armen, verrenkte den Körper, schleuderte ihr rechtes Bein nach vorne und trommelte wütend auf die Bahn.
Zwei Stunden nach ihrer Slapstick-Einlage im Halbfinale des Team-Wettbewerbs kämpfte sie mit der Goldmedaille um den Hals gegen Freudentränen an, nachdem der letzte Akt des unglaublichen Eis-Schauspiels ohne sie über die Bühne gegangen war.
"In diesem Gold steckt so viel Geschichte"
Die erschöpfte Friesinger-Postma fieberte im Innenraum des Richmond Oval mit, als "Lokomotive" Stephanie Beckert, Daniela Anschütz-Thoms und Katrin Mattscherodt nach einer grandiosen Aufholjagd in einem Wimpernschlag-Finale den Olympiasieg mit zwei Hundertstelsekunden Vorsprung vor Japan perfekt machten - die Jubelorgie in Schwarz, Rot und Gold konnte beginnen.
"Ich dachte, ich habe es verschissen und den Mädels alles kaputtgemacht", sagte Friesinger-Postma und schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf: "Aber am Ende steht der Olympiasieg. In diesem Gold steckt so viel Geschichte." Wenige Meter weiter in den Katakomben der Eishalle brach Daniela Anschütz-Thoms plötzlich in Tränen aus. "Ich kann nicht mehr", sagte sie mit stockender Stimme: "Ich fange gerade an zu begreifen, was hier überhaupt passiert ist."
"Niemals aufgeben, auch wenn alle auf einen draufdreschen"
Für beide Golden Girls, die schon vor vier Jahren in Turin mit dem Team triumphiert hatten, waren es die letzten Olympischen Spiele. Beide hatten bei ihren Einzelstarts bittere Enttäuschungen verkraften müssen, Friesinger-Postma bekam sogar jede Menge Häme ab. Nun war die Erleichterung riesig.
"Ich habe viel Pech gehabt in dieser Saison, aber ich habe gewusst, dass diese Spiele etwas Besonderes sind und auch das Unmögliche wahr werden kann", sagte sie und gab ihr Motto des Tages aus: "Niemals aufgeben, auch wenn alle anderen auf einen draufdreschen."
Auch die sonst so coole Stephanie Beckert brauchte lange, um zu fassen, in was für einen Krimi sie geraten war. "Ich habe im Finale gesehen, dass wir schon 1,7 Sekunden zurücklagen - unglaublich, dass es doch noch gereicht hat", sagte die 21-Jährige. Sie war es gewesen, die mit einem unglaublichen Endspurt über zwei Runden Anschütz-Thoms und Mattscherodt förmlich ins Ziel zog.
400 Meter vor Schluss hatte der Rückstand auf die Japanerinnen 1,14 Sekunden betragen, 200 Meter vor der Zielinie noch 0,74 Sekunden. Friesinger-Postma bezeichnete die Erfurterin, die bereits auf beiden Langstrecken Silber gewonnen hatte, liebevoll als "unsere Lokomotive".
Medien-Marathon durch halb Vancouver
Die letzten Meter auf ihrer verkorksten Schlussrunde im Halbfinale gegen die USA, in dem sie schon 300 Meter vor dem Ziel ins Straucheln geraten war und den Kontakt zu ihren Kolleginnen verloren hatte, musste Friesinger-Postma auf dem Medien-Marathon des Quartetts durch halb Vancouver unzählige Male beschreiben.
"Ich dachte nur: Du musst jetzt rutschen, du musst irgendwie ins Ziel krabbeln und die Zeit anhalten. Deswegen habe ich den Schlittschuh nach vorne gerissen, denn da steckt der Zeitmesser dran. Ich dachte erst, es hat nicht gereicht. Als ich dann die 1 auf der Anzeigetafel sah, war die Erleichterung riesengroß."
Markus Eicher glaubt, dass nur die Geistesgegenwart der 33-Jährigen den Sieg brachte. "Wäre der Fuß hinten geblieben, hätten wir verloren", sagte der Bundestrainer, "da hat sich gezeigt, dass sie ein alter Hase ist." Auch DOSB-Präsident Thomas Bach war vom spannendsten Wettkampf dieser Spiele elektrisiert: "Erst der Sturz von Anni Friesinger im Halbfinale und ihre Idee, im letzten Augenblick das Bein vorzuschieben. Dann diese Aufholjagd im Finale - sensationell, diese Mädels!"
Mattscherodt vertritt Friesinger im Finale
Nach dem Halbfinale war schnell die Entscheidung gefallen, dass Friesinger-Postma nicht im Finale laufen würde. Katrin Mattscherodt, die schon am Abend zuvor vorsichtshalber in Alarmbereitschaft versetzt worden war, erhielt kurz vor dem Endlauf das Signal zum Start.
"Viertel- und Halbfinale von der Bank aus zu verfolgen, war für mich viel nervenaufreibender. Im Finale wusste ich, was ich machen musste: einfach hinter Steffi bleiben", sagte die Berlinerin abgebrüht.
Teamchef Helge Jasch hatten die Ereignisse anscheinend mehr mitgenommen: "Was wir heute erlebt haben, war eine Botschaft an alle Sportler, niemals aufzugeben."