Dafür verdient er in den kommenden fünf Jahren 14 Millionen US-Dollar. Heute gilt er als einer der besten Tackles der Welt. Noch vor ein paar Jahren lebte er auf der Straße.
Freak of Nature. So nennen sie Michael Jerome Oher. Einen Freak. Eine Laune der Natur. Schon mit 16 wog er knapp 160 Kilogramm. Als man das in der Highschool herausfand, stand er gerade auf einer Waage, die normalerweise das Gewicht von Zuchtbullen ermittelt. Das Schul-Gerät hatte unter seinen Füßen den Dienst quittiert.
Big Mike, wie ihn seine Freunde nennen, hinterlässt einfach einen bleibenden Eindruck.
Mike hat die Spannweite eines Kondors
"Als er den Raum betrat, war es, als würde sich ein Haus in ein noch größeres Haus quetschen", sagt Football-Scout Tom Lemming in Michael Lewis' Buch "The Blind Side - Evolution of a Game" über sein erstes Treffen mit dem 1,93-Meter-Koloss, der schon wenig später zu einem der am heißesten umworbenen Nachwuchs-Spieler Amerikas werden sollte.
Denn Michael war nicht einfach nur ... nennen wir es: groß. "Er hat den Körper eines Gewichthebers, eine aufsehenerregende Athletik und die Spannweite eines Kondors", heißt es in einem Scouting-Bericht. Die obligatorischen 40-Yards läuft er in fünfeinhalb Sekunden. Selbst Running Backs treten ungern gegen ihn an - aus Angst, langsam auszusehen.
Doch das wusste damals noch niemand. Nicht einmal Michael selbst.
Er hatte ganz andere Sorgen. Seine Mutter: drogensüchtig. Sein Vater: ermordet. Seine Geschwister: 13 müssen es wohl sein. Jedenfalls kam er irgendwie auf diese Zahl, als die Schulbehörde einmal danach fragte. Sein Zuhause: die Straßen von West Memphis, Tennessee. Michael war obdachlos. In einem der miesesten Viertel der Südstaaten-Metropole.Oher: Die Zeit damals war schon verrückt
Er schlief bei Freunden oder in leer stehenden Häusern. Wärmte sich in Turnhallen auf, wenn draußen Schnee fiel. Trug immer dieselbe kurze Hose. "Wenn ich heute darauf zurückblicke, war es schon verrückt", sagte er vor Kurzem der "USA Today". "Damals kam es mir aber gar nicht so hart vor. Ich tat, was ich tun musste, um zu überleben".
Das tat er: überleben. Mehr aber auch nicht. Mit 16 hatte er keine Ahnung, was ein Ozean ist oder wie ein Vogelnest aussieht. An elf Schulen war Big Mike eingeschrieben - doch wie sollte er dem Englisch-Unterricht folgen, wenn er Nomen nicht von Verben unterscheiden konnte?
"Er wusste ja nicht einmal, wie man sich die Hand schüttelt", sagt Steve Simpson. Simpson ist Leiter der Briarcrest Christian School. Einer Schule, deren oberstes Ziel es ist, christliche Werte zu vermitteln. Mehr noch als Grammatik oder Algebra. Es sollte Michaels letzte Schule werden. Hier sollte man sich endlich um ihn kümmern.
Er selbst wäre allerdings nie dorthin gegangen. Wäre nicht einmal in die Nähe der vornehmen Privat-Einrichtung gekommen. Doch Big Mike schlief zufällig genau an dem Tag bei einem Freund auf dem Sofa, als dessen Vater ihn in Briarcrest anmeldete.
Sean Tuohy wird sein Mentor
Einen Verwaltungs-Fehler und einen drängelnden Football-Coach später war Michael ebenfalls angenommen. An einer Schule, an der er sich nicht einmal das Mittagessen leisten konnte.
Das fiel auch Sean Tuohy auf. Einem durch Schnellrestaurants zum Multimillionär gewordenen ehemaligen Point Guard der University of Mississippi, der von den New Jersey Nets gedraftet wurde, aber nie den Sprung in die NBA schaffte.
Tuohy arbeitete ehrenamtlich als Assistenz-Trainer an der Schule seiner Tochter und sollte sich fortan um Michael kümmern. Erst zahlte er ihm das Essen. Dann die Kleidung, Bücher, Bett, Unterkunft, Auto. Am Ende sollten die Tuohys Big Mike sogar adoptieren.
Zu einem guten Football-Spieler machte ihn das aber noch lange nicht. Denn wegen seiner schlechten Noten durfte Big Mike nicht einmal trainieren. Erst als seine schulischen Leistungen dank privater Nachhilfestunden besser wurden, konnte er sein sportliches Talent offenbaren.
Allroundtalent: Diskus, Basketball, Laufen
Zuerst gelang ihm das beim Basketball. In seiner ersten und einzigen Saison erzielte er durchschnittlich 22 Punkte und 14 Rebounds und gehörte sofort zum All-State-Team.
Wenig später wurde er Vize-Meister im Diskus-Werfen. Ohne auch nur die Wurf-Technik zu beherrschen oder vorher ausgiebig trainiert zu haben.
Kein Wunder, dass die Leiter des Football-Teams den Tag seiner Freigabe durch die Schulbehörde kaum erwarten konnten. "Wir dachten, dass er uns alle berühmt macht", erklärt Tim Long, der in Briarcrest die Offensive-Line trainiert und selbst Left Tackle bei den Minnesota Vikings war. Alle warteten auf Michaels ersten großen Auftritt auf dem Spielfeld.
Doch der kam nicht. "Sein größter Beitrag war es, die gegnerischen Spieler zu erschrecken", erinnert sich ein Teamkollege von damals. "Sie kamen aus dem Bus, sahen ihn und sagten nur 'Oh mein Gott'." Bei den Spielen selbst saß Big Mike dann oft nur auf der Bank.
Lewis: NFL ist voller kaputter Spieler
Das Problem: Er hatte keine Ahnung, worum es beim Football ging. Wegen einer Lernschwäche konnte er die Anweisungen im Playbook nicht verstehen. Man musste ihm die Spielzuege einzeln vorspielen, damit er sie verstand. Doch das wusste damals noch niemand.
Nur eines hatte Michael sofort verstanden: dass es alle freute, wenn er Gegenspieler unter sich begrub. "Die sahen anschließend aus, wie vom Zug überrollte Pennies", erinnert sich Ex-Teamkollege Joseph Crone. In seinen eineinhalb Highschool-Football-Saisons fabrizierte Big Mike ungefähr 200 dieser sogenannten Pancakes - Pfannkuchen.
Doch irgendetwas fehlte.
"Er war nicht aggressiv genug", erinnert sich der damalige Briarcrest-Head-Coach Hugh Freeze. "Eigentlich hätte seine Kindheit eine hervorragende Vorbereitung auf eine Karriere in einer Football-Defense sein sollen", analysiert auch Autor Michael Lewis, der die Geschichte später veröffentlichte: "Die NFL ist voll von Spielern mit kaputter Kindheit."
Doch Michael wollte einfach nicht aggressiv sein.
Oher trägt Gegner vom Feld
Jedenfalls bis zur ersten Begegnung seiner letzten Highschool-Saison. "Hey Fettarsch, ich mach Dich fertig", hatte sein direkter Gegenspieler gerufen. "Fette können nicht spielen. Ich werde Dich überrennen", schimpfte sein Gegenüber. Immer wieder.
Michael tat nichts. Fast eine komplette Halbzeit lang. Bis zu diesem einen Spielzug. Dem, bei dem er den Auftrag erhielt, den Trash Talker so lange zu blocken, bis abgepfiffen wurde.
Und genau das tat Big Mike jetzt. Er rammte dem 100-Kilo-Rüpel beide Hände zwischen die Schulter-Pads, hob ihn hoch und rannte mit ihm über den gesamten Platz.
"Die Beine des Jungen berührten nur alle vier Schritte den Boden. Höchstens. Es war wie in einem Zeichentrick-Film", erinnert sich Sean Tuothy mit einem Lächeln.
Big Mike: Ich hatte sein Gelaber satt
Michael schleifte sein Opfer erst über die Ersatzbank, dann über die Aschenbahn, eine Wiese und blieb erst am Zaun vor dem Stadion-Parkplatz stehen. Da die Schiedsrichter vor Schreck das Abpfeifen vergessen hatten, lief der Spielzug offiziell noch. Und Michael blockte.
Als er später gefragt wurde, was er denn vorhatte, antwortete Big Mike: "Ich wollte ihn in den Bus setzen. Ich hatte sein Gelaber satt. Es war Zeit für ihn, zu gehen."
Eine Initialzündung. Plötzlich stand Michael auf Tom Lemmings Liste der 100 besten Highschool-Spieler. Als bester Offensive Tackle des Landes. Auf einer Liste, die als eine der wichtigsten ihrer Art gilt und die an fast jedes namhafte College versendet wird, das ein Football-Programm unterhält.
Michigan, Clemson, Tennessee, Florida State - alle wollten sie plötzlich Big Mike kennenlernen und pilgerten zum nächstmöglichen Termin zum Training nach Briarcrest.
Keine Chance gegen Big Mike
Was sie sahen, war eine der direktesten und brutalsten Übungen im Trainings-Repertoire einer Highschool. Der Board-Drill. Benannt nach dem ungefähr 1,80 Meter langen Feld, auf dem dabei trainiert wird. Es treten an: Offensive- gegen Defensive Lineman. Erlaubt ist fast alles. Das Ziel: Den Gegner so schnell wie möglich nach hinten aus dem Feld drängen.
Michael trat gegen den zweitschwersten Spieler des Teams an. Das Duell dauerte dennoch nur Sekunden.
Big Mike hob sein Gegenüber an und setzte ihn erst hinter dem Board wieder ab. Als wäre es Nichts. Stille. Dann hörte man einen der Scouts in sein Handy brüllen: "Mein Gott, das müsst ihr euch ansehen".
Ein anderer rannte sogar auf das Spielfeld und drückte Head-Coach Hugh Freeze seine Karte in die Hand. Wenn Michael jemals ein Football-Stipendium an der Clemson University möchte, würde er es bekommen. Ohne weitere Fragen. Sofort.
Die Karriere nimmt ihren Lauf
Es war der Startschuss zu Big Mikes Football-Karriere.
Ab sofort war er der Starting-Left-Tackle der Briarcrest Highschool Saints. Und er verbesserte sich schnell. "Er fand heraus, wie er seine Füße bewegen musste, wo er den Gegner angehen musste, damit der nicht an ihm vorbei kommt", so ein Mitspieler.Er hatte es sich bei anderen Spielern abgeschaut oder beim Training vorführen lassen und verinnerlicht. "Zeig ihm etwas - und er prägt es sich ein", sagt Sue Mitchell, Michaels private Nachhilfe-Lehrerin.
Big Mike ist nämlich nicht dumm. Er verfügt sogar über ein fast fotografisches Gedächtnis. Und er hatte seine Berufung gefunden. Nach seinem Abschluss in Briarcrest ging er aufs College. Trotz unzähliger anderer Angebote entschied er sich dabei für die University of Mississippi. Die Alma Mater seiner Adoptiv-Eltern.
Dort stand er gleich im ersten Jahr in der Startformation und verhalf seinem Team als Guard zu sechs Touchdowns. Ab 2006 spielte er als Left Tacke und stand seither in nahezu jeder Auswahl-Mannschaft seiner Conference und dem All-American-Team.
Als Team-Kapitän verhalf er den Ole Miss Rebels außerdem zu einem der besten Lauf-Angriffe der Southeastern Conference und sorgte dafür, dass sein Quarterback so selten zu Boden ging, wie kaum ein anderer. Kurz gesagt: Big Mike war der beste Blocker der Liga.
Mike Oher: Ich will den Super-Bowl
Das findet auch Eric DeCosta, Director of Player Personnel bei den Baltimore Ravens, der Michael jetzt in die NFL holte: "Michael war eindeutig der beste verfügbare Spieler im Draft. Für uns ist er eine großartige Verstärkung. Wir glauben, dass er uns enorm voranbringt."
Big Mike. Vom Obdachlosen zum NFL-Spieler. Ein passendes Happy End für eine Hollywood-reife Geschichte, die aktuell tatsächlich mit Sandra Bullock verfilmt wird.
Nur Michael selbst will den Hype um seine Person nicht verstehen. "Es gibt doch so viele andere tolle Menschen mit so vielen anderen tollen Geschichten", meint er. Und: Seine Geschichte sei ja noch lange nicht zu Ende erzählt.
"Ich werde arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten. Denn die Ravens wollen den Super Bowl gewinnen - und ich möchte ihnen dabei helfen."